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II. Kapitel

Der letzte Zug kam erst um elf Uhr dreißig. Gyp begab sich in Summerhays Arbeitszimmer, das unter ihrem Schlafzimmer lag. Sie wäre entsetzt gewesen, hätte sie die Gefühle des Vaters gekannt. Sie empfand tatsächlich nicht den Wunsch, mehr Menschen zu sehen. Ihre Lebensbedingungen erschienen ihr ideal. Es war herrlich, frei von Menschen zu sein, an denen einem nichts lag, frei von allen leeren gesellschaftlichen Verpflichtungen. Alles, was sie jetzt besaß, war etwas Wirkliches – Liebe, Natur, Reiten, Musik, Tiere und arme Leute. Es schien ihr oft, daß die Bücher und Dramen, die das Unglück der Frauen in ihrer Lage schilderten, ganz falsch gesehen wären. Wenn solche Frauen unglücklich waren, so hatten sie keinen Stolz oder sie liebten nicht wirklich! Sie hatte kürzlich »Anna Karenina« gelesen und zu sich selbst gesagt: »Irgend etwas darin ist nicht wahr! Tolstoi will uns glauben machen, daß Anna im geheimen Reue empfindet. Wenn man liebt, empfindet man aber keine Reue.«

Das Gefühl, daß ihr die Liebe eine gewisse Vereinsamung auferlege, verursachte ihr sogar Freude; sie stand gerne abseits von allem, – um seinetwillen. Überdies war sie ja schon durch ihre Geburt außerhalb der Gesellschaft gestellt worden, ihre Liebe stand jenseits der Liebe, die die anderen empfanden, – genau, wie es bei der Liebe ihres Vaters gewesen war. Auch war ihr Stolz größer als der der anderen. Wie konnten Frauen klagen und jammern, weil sie ausgestoßen waren, versuchen, wieder dorthin zurückzukriechen, wo sie nicht willkommen waren? Selbst wenn Fiorsen stürbe, würde sie darum ihren Geliebten heiraten? Was für einen Unterschied konnte das machen? Sie konnte ihn nicht noch mehr lieben. Sie würde lieber so weiterleben, wenn sie auch seiner dadurch nie ganz sicher war, da er nicht an sie gebunden war, sie verlassen konnte, wenn er ihrer überdrüssig würde. Vielleicht aber fühlte er sich noch gebundener, als wenn sie verheiratet gewesen wären, moralisch gebunden? Dieser Gedanke, der Schatten eines Gedankens, hatte in ihr den Ernst hervorgerufen, den der Vater nun bemerkte.

Im unerhellten Zimmer, durch das die Mondstrahlen flossen, saß sie an Summerhays Schreibtisch, wo er oft bis spät in die Nacht hinein an schwierigen Fällen zu arbeiten pflegte, sie seiner Gegenwart beraubend. Sie stützte die nackten Ellenbogen auf das Holz, starrte ins Mondlicht hinaus, ihr Geist schien auf einem Strom von Erinnerungen dahin zu gleiten, die aber erst mit dem Jahre begannen, da er in ihr Leben getreten war.

So viele Erinnerungen, fast lauter glückliche! Wahrlich, die höchste Kunst des Goldschmieds, der die Menschenseele zusammenfügt, besteht darin, die Fähigkeit auszubilden, das Dunkle zu vergessen und sich nur des Sonnenscheins zu erinnern. Die anderthalb Jahre mit Fiorsen, die leeren Monate, die darauf gefolgt, waren verschwunden wie Nebel, zerstreut vom Glanz der letzten drei Jahre. Die einzige Wolke war der Zweifel, ob Summerhay sie wirklich so liebte wie sie ihn. Unaufhörlich arbeitete ihr Geist, verglich verflossene Tage und Nächte mit den gegenwärtigen Tagen und Nächten. Ihre Ahnung, sie würde, wenn sie einmal liebte, mit verzweifelter Kraft lieben, hatte sich erfüllt. Er war ihr Leben geworden. Und da ihre stärkste und schwächste Eigenschaft ihr Stolz war, so war es kein Wunder, daß sie Zweifel fühlte.

Ihre Odyssee hatte sie nach Spanien geführt, – in das braune, uneuropäische Land der »Lyrioblumen«, der »Aguarufe« in den Straßen, wo die Reiter aussehen, als wären sie an der Taille abgeschnitten, und die schwarzgekleideten Frauen mit den wundervollen Augen noch immer des orientalischen Schleiers zu bedürfen scheinen. Es war ein Monat der Heiterkeit und des Zaubers gewesen; die letzten Tage im September und die ersten Tage des Oktober, traumhafte Wanderungen durch die Straßen Sevillas; Küsse und Lachen, seltsame Düfte und seltsame Laute, orangefarbenes Licht und samtweiche Schatten, die ganze Glut und der tiefe Ernst Spaniens. Der Alcazar, die Tabakarbeiterinnen, die Zigeuner-Tänzerinnen von Triana, die alten dunklen Ruinen, die sie besuchten, die Straßen und Plätze, wo feierlich sprechende Leute in der Sonne auf Bänken saßen, die Wasserverkäufer und Melonenhändler, die Maultiere, der zerlumpte Mann, der einem Traum entsprungen zu sein schien und Zigarettenstummel sammelte, Malagawein, Trauben aus Alicante! Dann waren sie durch die versengten Hochlande von Kastilien nach Madrid zurückgekehrt, zu Goya und Velasquez, später nach Paris, wo sie blieben, bis die Gerichtsferien zu Ende waren. Dort hatten sie eine Woche verbracht in einem drolligen kleinen französischen Hotel, an das Gyp viele angenehme und eine peinliche Erinnerung bewahrte. Sie soupierten nach dem Theater, als sie im Spiegel drei Leute hereinkommen und in ihrer Nähe Platz nehmen sah – Fiorsen, Rosek und Daphne Wing. Solange die anderen mit dem Bestellen des Essens beschäftigt waren, fühlte sie sich sicher, da Rosek ein Gourmet und das Mädchen bestimmt hungrig war. Nachher aber mußte sie bestimmt gesehen werden! Sollte sie sagen, daß sie sich nicht wohl fühle und fortgehen? Oder es Bryan mitteilen? Oder sitzenbleiben, plaudern, essen, als ob nichts geschehen wäre?

Sie sah im Spiegel, daß ihr Gesicht gerötet war, ihre Augen glänzten; sie werden sehen, daß sie in ihrer Liebe glücklich ist. Ihr Fuß suchte unter dem Tisch den Summerhays. Wie prächtig und braun er aussah im Vergleich zu diesen blassen Stadtgeschöpfen! Er blickte sie an, als entdeckte er eben erst jetzt ihre volle Schönheit. Wie hatte sie je den Mann dort mit dem kleinen Bart, dem weißen Gesicht und diesen Augen ertragen können?! Dann zeigte ihr der Spiegel in Roseks schwarzumrandeten Augen das plötzliche Erkennen, sie sah, wie er die Lippen zusammenpreßte, ein wenig rot wurde. Was wird er tun? Alles hing von dem mörderischen kleinen Mann ab, der einst ihren Hals geküßt hatte. Ein Gefühl der Übelkeit erfaßte Gyp. Wenn ihr Geliebter wüßte, daß diese zwei Männer nur wenige Schritte von ihm entfernt saßen! Rosek hatte gemerkt, daß auch sie sie erblickt hatte. Sie sah, wie er sich vorneigte, dem Mädchen etwas zuflüsterte. Daphne Wing wandte sich um, ihr Mund öffnete sich zu einem unterdrückten: »Oh!«, und sie sah besorgt auf Fiorsen. Bestimmt wird sie fortgehen wollen, ehe Fiorsen etwas bemerkt hat. Sehr bald erhob sie sich dann auch. Welch eine mondäne Art sie angenommen hatte! Sie war völlig Herrin der Situation, ließ sich sorgsam den Mantel um die Schultern legen und ging, nur einmal wie erschrocken zurückblickend. Nun waren sie verschwunden! Gyp sagte: »Gehen wir, Liebster.«

Ihr war zumute, als wären sie beide einer großen Gefahr entronnen, – nicht etwa dem, was diese beiden ihr oder ihm antun konnten, sondern dem Schmerz, der Eifersucht, die der Anblick dieses Mannes in ihm erweckt haben würde.

Während der ersten Wochen ihres gemeinsamen Lebens legte Gyp eine weise Vorsorge an den Tag. Er war, was Erfahrung anbetraf, noch ein Knabe, und obgleich sein Charakter viel entschlossener, tätiger und zäher war als der ihre, so fühlte sie dennoch, daß es an ihr lag, seine Laufbahn zu ebnen, die Untiefen und Riffe zu vermeiden. Das Haus bei den Berkshire-Dünen wurde instand gesetzt, in der Zwischenzeit lebten sie in London in einem Hotel. Sie bestand darauf, daß er zu niemandem von ihrem gemeinsamen Leben spreche. Sie wollte zuerst mit der kleinen Gyp, Betty und den Pferden untergebracht sein, damit ihr gemeinsames Leben soviel wie möglich einer ehrbaren Ehe gleiche. Eines Tages jedoch, in der ersten Woche nach ihrer Rückkehr, wurde ihr eine Visitenkarte gebracht: »Lady Summerhay.« Als der Hoteldiener gegangen war, wandte sie sich dem Spiegel zu, betrachtete sich verzagt. Sie glaubte ganz genau zu wissen, was die große Frau, die sie auf dem Perron gesehen hatte, von ihr denken würde: zu weich, zu untüchtig, nicht das Rechte für ihn, – selbst wenn sie seine legitime Frau wäre. Sie ordnete ihr Haar, tupfte einen Tropfen Parfüm auf die Brauen, begab sich hinunter, äußerlich ruhig, innerlich jedoch bebend.

In der niedrigen Halle des »völlig renovierten« Hotels sah Gyp ihren Besuch an einem Tisch stehen und in einer illustrierten Zeitung blättern, wie es Menschen beim Zahnarzt tun, wenn sie auf die ihnen bevorstehende Behandlung warten. Und Gyp dachte: ich glaube, sie hat noch mehr Angst als ich.

Lady Summerhay hielt ihr die behandschuhte Rechte entgegen. »Wie geht's?« sagte sie. »Ich hoffe, Sie entschuldigen mein Kommen.«

»Es ist sehr freundlich von Ihnen. Es tut mir nur leid, daß Bryan noch nicht daheim ist. Wollen Sie nicht Tee mit mir trinken?«

»Ich habe schon Tee getrunken. Setzen wir uns. Wie gefällt Ihnen das Hotel?«

»Sehr gut.«

Auf einem Plüschsofa, das die Renovierung überlebt hatte, saßen sie nebeneinander, verrenkten sich die Hälse, wenn sie einander ins Gesicht sehen wollten.

»Bryan hat mir erzählt, wie schön es im Ausland war. Er sieht prächtig aus. Sie wissen, wie lieb ich ihn habe.«

Gyp erwiderte leise: »Ja, gewiß.« Ihr Herz wurde plötzlich hart wie ein Kieselstein.

Lady Summerhay warf ihr einen raschen Blick zu: »Ich, – hoffentlich stört Sie meine Offenheit nicht – habe mir große Sorgen um ihn gemacht. Es ist eine unglückselige Situation, nicht wahr? Wenn ich irgend etwas tun kann, um Ihnen zu helfen, wird es mich freuen – es muß ja für Sie schrecklich sein!«

Gyp entgegnete äußerst ruhig: »O nein! Ich könnte nicht glücklicher sein.«

Lady Summerhay blickte sie forschend an.

»Man sieht diese Dinge zuerst nicht ein, – keiner von Ihnen weiß, wie es ist, wenn die Gesellschaft Ihnen den Rücken kehrt.«

Gyp lächelte.

»Es kann einem nur der Rücken gekehrt werden, wenn man sich dem aussetzt. Ich möchte nie mit jemand zusammenkommen, der mich nicht für das nimmt, was ich wirklich bin. Auch sehe ich nicht recht ein, was es Bryan schaden kann; die meisten Männer seines Alters haben irgendwo jemand.« Sie haßte diese Dame der Gesellschaft, die – mochte sie es noch so gut verbergen – ihr im Herzen feind war, sie als Verführerin betrachtete, als Hindernis für die mondänen Chancen ihres Sohnes, eine Delila, die ihn herabzog. Sie sagte noch gelassener: »Er braucht niemandem von meiner Existenz Mitteilung zu machen, und Sie können versichert sein, daß ich ihm nie zur Last fallen werde, sollte er meiner überdrüssig werden.«

Sie erhob sich, Lady Summerhay folgte ihrem Beispiel. »Ich hoffe, Sie verstehen mich nicht falsch … ich möchte nur zu gerne …«

»Ich halte es für besser, ganz offen zu reden. Sie werden mich nie leiden können, mir niemals verzeihen, daß ich Bryan bezaubert habe. Darum ist es besser, wir benehmen uns, als wäre ich nur seine Mätresse. Das wird für uns beide das richtigste sein. Trotzdem war es sehr freundlich von Ihnen, zu mir zu kommen. Dank, – und leben Sie wohl!«

Lady Summerhay flog fast zwischen den kleinen Tischen und hypermodernen Sesseln dahin, bis ihre hohe Gestalt hinter einer Säule verschwand. Gyp setzte sich auf das Sofa zurück und preßte die Hände gegen die glühenden Schläfen. Sie hatte niemals die Gewalt des Stolz-Dämons in sich gekannt, in diesem Augenblick war er fast stärker als ihre Liebe. So saß sie noch immer, als der Hoteldiener einen zweiten Besuch meldete – Winton. Der Vater war froh, sie nach so langer Abwesenheit wiederzusehen. Nachdem er ihr von Mildenham und der kleinen Gyp berichtet hatte, blickte er ihr in die Augen und sagte: »Das Haus dort unten ist für euch beide bereit, auch die Bury-Straße, Gyp, wenn du kommen willst. Ich betrachte dies als deine wirkliche Ehe. Werde es auch der Dienerschaft klarmachen.«

Sie sah im Geist die Dienstboten in einer Reihe angetreten wie zum Sonntagsgebet, Väterchen stand recht gerade da: »Sie werden die Güte haben, sich künftig zu erinnern, daß … Ich werde Ihnen dankbar sein, wenn …« Und so weiter. Bettys rundes Gesicht empört, daß man sie gleich den anderen behandelte, Markey ruhig, rätselhaft, Frau Markey mit runden, erstaunten Augen, die Kaninchengesichter der Mädchen, Pettances Holzschnitt-Grinsen: »Herr Bryan Summerhay hat ihr Pferd gekauft, deshalb ist sie zu ihm gegangen.« Sie sagte: »Liebster, ich weiß nicht recht. Es ist so lieb von dir. Wir werden schon sehen.«

Winton streichelte ihre Hand. »Wir müssen ihnen die Stirn bieten, weißt du, Gyp.«

Gyp lachte.

In der gleichen Nacht sagte sie über den Streifen Dunkelheit zwischen ihren Betten hinweg: »Bryan, versprich mir etwas.«

»Das kommt darauf an, was. Ich kenne dich zu gut.«

»Nein, es ist ganz vernünftig und möglich. Versprich.«

»Wenn es das wirklich ist: gut.«

»Laß mich das rote Haus mieten – laß es mir gehören – das Ganze – laß mich für alles zahlen.«

»Weshalb denn?«

»Ich möchte mein eigenes Heim haben. Ich kann's dir nicht erklären, doch hat der Besuch deiner Mutter in mir das Gefühl erweckt, daß es so sein muß.«

»Aber Kind, wie kann ich denn dort auf deine Kosten leben, das ist doch lächerlich.«

»Du kannst alles andere bezahlen – London – Reisen, meinetwegen auch meine Kleider. Wir können es unter uns aufteilen. Es ist ja keine Geldfrage. Ich will nur das Gefühl haben, daß du jeden Augenblick, wenn du mich nicht mehr willst, einfach aufhören kannst zu kommen.«

»Das ist brutal, Gyp.«

»Nein; so viele Frauen verlieren Männer, weil sie etwas von ihnen verlangen. Ich will dich nicht auf diese Art verlieren – das ist das Ganze.«

»Das ist dumm, Liebling.«

»Es ist es nicht! Männer – und auch Frauen – zerren an den Ketten. Wenn aber keine Kette da ist …«

»Gut, laß mich das Haus mieten, – du kannst dann fortgehen, wenn du mich satt hast.« Seine Stimme klang erstickt, zornig, sie hörte, wie er sich hin und her wälzte, als ärgerten ihn die Kissen. »Nein, ich kann's dir nicht erklären. Doch meine ich es ernst.«

»Wir fangen eben erst unser gemeinsames Leben an, und du sprichst, als wäre es bereits zu Ende. Das tut mir weh, Gyp, das ist alles.«

Tiefe Stille folgte, jeder lag reglos in der Finsternis, versuchte den anderen durch bloßes Lauschen zu besiegen. Etwa eine Stunde später seufzte er, sie fühlte seine Lippen auf den ihren und wußte, daß sie gesiegt habe.


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