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Fiorsens Briefe waren Dokumente. Er vermisse Gyp entsetzlich – doch schien er sich ausgezeichnet zu unterhalten. Er verlangte Geld, schrieb aber nicht, wofür er es ausgab. Obwohl ihre Kasse eine bedenkliche Leere zeigte, sandte sie ihm die gewünschten Summen. Diese Tage waren ja auch für sie Ferien; sie wollte gerne dafür bezahlen. Sie suchte ein Geschäft auf, wo sie Schmuck verkaufte und schickte ihm den Erlös. Dies würde ihr noch eine freie Woche geben.
Eines Abends ging sie mit Winton ins Oktagon, wo Daphne Wing noch immer auftrat. Der Entzückungsrufe des Mädchens im Garten gedenkend, schrieb sie ihr den nächsten Tag, lud sie zum Lunch ein, forderte sie auf, einen Nachmittag unter den Bäumen ihres Gartens zu verbringen.
Fräulein Daphne kam hocherfreut, blaß und träge von der Hitze, in Libertyseide, einem einfachen, niedergebogenen Strohhut. Nach dem Lunch setzten sie sich in den tiefsten Schatten des Gartens, Gyp auf einen Rohrsessel, Daphne Wing auf Kissen ins Gras. Nachdem Daphne alle ihre Ausrufe verausgabt hatte, entblößte sie ihre kleine Seele ohne Zurückhaltung. Und Gyp, die eine ausgezeichnete Zuhörerin war, genoß die Offenbarung einer von der ihren so ganz verschiedenen Welt.
»Natürlich will ich nicht länger, als unbedingt nötig, zu Hause bleiben, aber es hat keinen Sinn, ins Leben zu treten« – dies war eine ihrer Lieblingsphrasen – »bevor man genau weiß, wie man dran ist. In meinem Beruf muß man so vorsichtig sein! Freilich meinen die Leute, es gehe bei uns viel ärger zu, als dies tatsächlich der Fall ist; mein Vater ist oft einem Schlaganfall nahe. Aber wissen Sie, Frau Fiorsen, daheim ist es schrecklich. Immer essen wir Hammelfleisch – Sie wissen doch, was das heißt?! –, und mein Schlafzimmer ist bei heißem Wetter furchtbar. Nirgends habe ich recht Platz zum Üben. Was ich mir wünsche, ist ein Atelier. Das wäre herrlich, irgendwo in der Nähe des Flusses, oder hier oben, in Ihrer Nähe. Das wäre herrlich! Wissen Sie, ich muß mir noch etwas sparen, – aber sobald ich zweihundert Pfund habe, gehe ich los. Am schönsten denke ich es mir, Maler und Musiker zu inspirieren. Ich will keine gewöhnliche Balletteuse, will etwas ganz Besonderes sein. Doch ist meine Mutter in diesen Dingen so einfältig, meint, ich dürfe nichts riskieren. Auf diese Art werde ich nie weiterkommen. Es ist so nett, mit Ihnen zu sprechen, Frau Fiorsen, weil Sie jung genug sind, um meine Gefühle begreifen zu können, Sie sind auch bestimmt über nichts chokiert. Sehen Sie, was die Männer anlangt: soll man nun heiraten oder sich einen Geliebten nehmen? Es heißt, man könne erst dann ein vollkommener Künstler sein, wenn man Leidenschaft empfunden hat. Und wenn man heiratet, so bedeutet das wieder Hammelfleisch und vielleicht Babies und außerdem womöglich noch den unrichtigen Mann. Entsetzlich! … Aber ich möchte auch nicht leichtfertig sein, – ich hasse leichtfertige Leute. Was meinen Sie? Es ist sehr kompliziert, nicht wahr?«
Gyp erwiderte vollkommen ernst: »Derlei Dinge kommen von selbst. Ich würde mir darüber nicht im vorhinein Sorgen machen.«
Daphne Wing vergrub ihr Kinn tiefer in die Hände.
»Ja, das glaube ich eigentlich auch! Jetzt kann ich natürlich noch nichts tun. Sehen Sie, ich mag nur Männer, die wirklich distinguiert sind, werde mich bestimmt nur in einen wirklich distinguierten Mann verlieben. Das haben Sie ja auch getan, nicht wahr? Sie müssen das verstehen können. Ich finde Herrn Fiorsen wundervoll distinguiert.«
Sonnenstrahlen, den Schatten durchbohrend, fielen plötzlich auf Gyps Blusenausschnitt. Sie blickte noch immer ernst auf Daphne Wing.
»Mutter würde natürlich Krämpfe bekommen, wollte ich dergleichen Dinge mit ihr besprechen, und ich weiß nicht, was Vater täte. Aber es ist doch so wichtig, nicht wahr? Man kann gleich im Anfang einen falschen Weg einschlagen, und ich will wirklich vorwärtskommen. Ich bete meine Arbeit an und will nicht, daß mir die Liebe hinderlich sei, ich will, daß sie mir nützt, wissen Sie. Graf Rosek sagt, meinem Tanz fehle die Leidenschaft. Bitte, sagen Sie mir, ob auch Sie das finden. Ihnen werde ich glauben.«
Gyp schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht beurteilen.«
Daphne Wing blickte vorwurfsvoll zu ihr auf. »Oh, Sie können es bestimmt. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich wahnsinnig in Sie verlieben! … Ich habe jetzt einen neuen Tanz, stelle eine Nymphe dar, die von einem Faun verfolgt wird; es ist so schwer, sich als Nymphe zu fühlen, da ich doch weiß, daß der Faun nur der Ballettmeister ist. Glauben Sie, ich müßte Leidenschaft hineinlegen? Sehen Sie, ich fliehe ja die ganze Zeit, aber es wäre doch nuancierter, wenn ich den Eindruck erweckte, als wollte ich eigentlich gefangen werden. Meinen Sie nicht?«
Gyp sagte unvermittelt: »Ja, ich glaube, es wäre für Sie tatsächlich gut, wenn Sie sich verliebten.«
Fräulein Daphnes Mund öffnete sich ein wenig, ihre Augen wurden rund. Sie sagte:
»Sie haben mich erschreckt, als Sie das eben sagten. Sie sahen so – so – heftig aus.«
Tatsächlich war in Gyp eine Flamme aufgelodert. Dieses flatterhafte, quallenhafte Geschwätz über die Liebe versetzte ihren Instinkt in hellen Aufruhr. Sie selbst wollte nicht lieben, hatte nicht zu lieben vermocht. Doch was auch die Liebe sein mochte, sie war etwas, über das man nicht sprechen durfte. Was lebte in diesem kleinen Vorstadtmädchen, das, sobald es sich im Tanze drehte, die Gefühle derart aufrütteln konnte?
»Wissen Sie, was für mich der größte Genuß wäre«, bemerkte Daphne Wing, »einmal abends hier im Garten zu tanzen. Es muß herrlich sein, im Freien zu tanzen, und gerade jetzt ist der Rasen so schön. Aber vielleicht würde es die Dienstboten chokieren. Gehen die Dienerzimmer auf den Garten heraus?« Gyp schüttelte den Kopf. »Ich könnte dort vor dem Salonfenster tanzen. Nur der Mond müßte scheinen. Jeden Sonntagabend bin ich frei. Ich habe einen Tanz, bei dem ich eine Lotusblume darstelle, der würde sich gut eignen. Und dann mein Mondscheintanz mit Chopinmusik. Ich könnte meine Kostüme mitbringen, mich im Musikzimmer umkleiden. Nicht wahr?« Sie setzte sich mit gekreuzten Beinen auf, blickte Gyp an, faltete die Hände: »Oh, darf ich?«
Der Wunsch, Freude zu bereiten, die Seltsamkeit der Idee und ihr ehrliches Vergnügen am Tanze des Mädchens ließen Gyp sagen: »Ja, nächsten Sonntag.«
Daphne Wing schnellte auf, stürzte zu ihr hin und küßte sie. Ihr Mund war weich, sie roch nach Orangenblüten, aber unwillkürlich fuhr Gyp ein wenig zurück; sie haßte es, von Fremden geküßt zu werden. Etwas beschämt ließ Fräulein Daphne den Kopf hängen und sagte: »Sie haben so schön ausgesehen, ich konnte wirklich nicht anders.«
Gyp drückte ihr reuig die Hand.
Sie gingen ins Haus, um die Musik der beiden Tänze durchzuspielen; kurz darauf verabschiedete sich Daphne Wing, beladen mit Bonbons und Hoffnung.
Am nächsten Sonntag erschien sie pünktlich um acht Uhr und brachte eine kleine grüne Leinentasche mit, die ihre Kostüme enthielt. Sie war ein wenig ängstlich. Hummermayonnaise, Rheinwein und Pfirsiche belebten ihren Mut. Es schien ihr einerlei, ob sie mit vollem oder leerem Magen tanzte, doch wollte sie nicht rauchen. »Es ist schlecht für … Sie wissen schon«, sagte sie.
Als das Souper vorüber war, schloß Gyp die Hunde in den hinteren Räumlichkeiten ein; sie fürchtete, sie könnten sich auf Fräulein Wings Schleier oder Waden stürzen. Sie gingen in den Salon, drehten das elektrische Licht nicht an, um besser beurteilen zu können, wann das Mondlicht stark genug sei. In dieser letzten Augustnacht war die Hitze fast unerträglich – eine schwere, reglose Hitze; der aufsteigende Mond warf nur hier und dort einen feinen Strahl durch das dichte Laubwerk. Sie plauderten leise, paßten sich unbewußt dem Abenteuer an. Als der Mond völlig aufgegangen war, huschten sie durch den Garten in das Musikzimmer. Gyp zündete die Kerzen an. »Sehen Sie genug?«
Fräulein Daphne Wing hatte sich bereits ihrer Kleider entledigt.
»Oh, ich bin so aufgeregt, Frau Fiorsen! Hoffentlich werde ich gut tanzen.«
Gyp ging ins Haus zurück, setzte sich ans Klavier und blickte in den Garten hinaus. Eine verschwommene weiße Gestalt flatterte plötzlich in der Dunkelheit auf, verharrte dann reglos wie ein weißblühender Strauch unter den Bäumen, wartete auf den Mond. Gyp begann zu spielen, sie hatte ein kleines sizilianisches Hirtenlied gewählt, wie es die Hirten auf ihren Flöten spielen, wenn sie von den Bergen niedersteigen – sehr leise, aus weiter Ferne anschwellend, volltönig erblühend, leiser werdend, verklingend. Der Mond stieg über die Bäume, goß immer breiter sein Licht über den Garten, bis er das Sonnenblumenbeet an der Mauer in einer zauberhaften, unirdischen Farbe aufleuchten ließ, – Gold, das kein Gold war.
Gyp spielte den Tanz. Das verschwommene Weiß in der Dunkelheit regte sich. Nun fiel das Mondlicht prall auf das Mädchen, es stand mit ausgebreiteten Armen, seine Schleier haltend, wie eine weiße beschwingte Statue. Dann flirrte es auf wie eine riesenhafte Motte, flog über den Rasen, flatterte, hielt inne. Das Mondlicht umriß die Form des Kopfes, vergoldete das Haar mit blassem Schein. In der tiefen Stille, im unirdischen Glanz der Sonnenblumen und der Mädchenhaare schien es, als hätte sich ein Geist in den Garten verirrt, flatterte hierhin und dorthin, finde keinen Ausweg.
Eine Stimme sagte hinter Gyp: »Mein Gott, was ist das? Ein Engel?«
Fiorsen stand im dunklen Zimmer, starrte in den Garten hinaus. Das Mädchen blieb stehen, die Augen rund wie Teetassen, den Mund geöffnet, die Glieder starr vor Neugierde und Schrecken.
Gyp saß wie gebannt vor der plötzlichen Erscheinung ihres Mannes. Sie bemerkte, wie seine Augen der fliehenden Nymphe folgten. War er Fräulein Daphnes Faun? Ja, wahrhaftig, – sogar seine Ohren sind ein wenig gespitzt. Hatte sie denn früher nie bemerkt, wie sehr er einem Faun glich? Doch, einmal, – in ihrer Hochzeitsnacht!
Sie sagte gelassen: »Daphne Wing hat ihren neuen Tanz probiert. Du bist also zurück, warum hast du mich nicht verständigt? Geht's dir gut? Du siehst prächtig aus.«
Fiorsen beugte sich nieder und küßte sie.
Doch während er seine Lippen auf die ihren preßte, fühlte sie mehr als sie sah, wie seine Augen nach dem Garten schweiften, und sie dachte: er würde lieber dieses Mädchen küssen.
Als er ging, um sein Gepäck vom Wagen zu holen, huschte sie ins Musikzimmer hinüber.
Fräulein Daphne war bereits umgezogen und stopfte ihre Kostüme in die grüne Leinentasche. Sie blickte auf.
»Oh! Ist er böse? Es ist wirklich schade, – nicht wahr?«
Gyp unterdrückte ihre Lachlust.
»Es könnte doch nur Ihnen unangenehm sein.«
»Oh, mir nicht, wenn es Sie nicht stört. Wie hat Ihnen der Tanz gefallen?«
»Wundervoll. Kommen Sie doch herüber, wenn Sie fertig sind.«
»Nein, bitte, ich möchte lieber nach Hause gehen. Es muß einen so merkwürdigen Eindruck auf ihn machen.«
»Wollen Sie den Nebenausgang benutzen? Sie müssen dann rechts in die Straße einbiegen.«
»O ja, bitte. Es wäre besser gewesen, er hätte den ganzen Tanz gesehen, nicht wahr? Was wird er wohl denken?«
Gyp lächelte und öffnete die Tür.
Als sie in den Salon zurückkehrte, stand Fiorsen am Fenster und stierte hinaus. Galt es ihr oder der fliehenden Nymphe?