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123. Berlin erobert uns

Es war erst am späten Nachmittag, als Karl Siebrecht mit seinem Wagen nach Nikolassee hinausfuhr. Sie hatten lange beim Essen zusammengesessen, die Flaus und er. Sie hatten von alten Zeiten gesprochen, und wie es ihnen seitdem ergangen war, und wiederum von alten Zeiten. Jetzt konnten sie über alles reden, es tat nicht mehr weh. Dem Jungen war das langweilig geworden, er war auf die Straße gelaufen und hatte sich die vorbeifahrenden und parkenden Autos angesehen. Wenn er aber eines nicht hatte bestimmen können, so war er wieder hereingekommen und hatte es ganz selbstverständlich dem neuen Onkel beschrieben, und zwar so genau, daß der ihm jedesmal hatte sagen können, was das für ein ausländischer Wagen gewesen war: ein Chrysler oder ein Packard oder ein Graham-Page. Mit diesem neuen Glück im Herzen war Karl Siebrecht dann eilig nach Haus gefahren, er mußte Hertha doch sogleich davon erzählen. Aber dann konnte er es nicht: Hertha saß auf der Terrasse beim Tee mit Besuch. Der alte Eich war gekommen, und Herr von Senden saß auch dabei, und sie plauderten so behaglich an diesem schönen Sommernachmittag, daß eine so aufregende Nachricht gar nicht anzubringen war.

Der alte Eich, der nun längst wirklich in Pension gegangen war, nahm seinen Schwiegersohn sofort in Beschlag und ließ sich von ihm Auskunft über den Verkehr auf den Bahnhöfen geben, über neu eingesetzte Züge, über den Umfang der Gepäckabfuhr – nach jeder kleinsten Nachricht dürstete er. Dabei wanderte er auf der Gartenterrasse hin und her, den Aufschlag seines Leinenjacketts zwischen Daumen und Zeigefinger, noch gelber, noch kleiner, aber seine Augen schienen noch größer, und in ihnen war Leben genug. Schwiegervater und Schwiegersohn liebten sich noch immer nicht, aber sie ertrugen einander. Sie vertrugen sich sogar – um Herthas willen.

»Hören Sie«, sagte der alte Eich jetzt zu seinem Schwiegersohn, »wissen Sie auch, wer heute früh bei mir gewesen ist?«

»Das ist schlecht zu erraten«, sagte Karl Siebrecht lächelnd.

»Ihr ehemaliger Mitdirektor Bremer! Der ist ein großer Mann geworden, Siebrecht, noch eine Elle größer als Sie!« Und der alte Eich lächelte ein wenig spöttisch.

»Das gebe ich ohne weiteres zu«, sagte Karl Siebrecht neidlos. »Der Bremer war immer ein tüchtiger Mann. Was wollte er denn von Ihnen?«

»Er gründet mal wieder eine neue Aktiengesellschaft und hätte mich gerne im Aufsichtsrat gehabt.« Wieder lächelte der alte Eich. »Ich habe aber nein gesagt. Nicht, weil ich seiner Gründung mißtraue – die ist gut –, sondern weil ich noch nicht alt genug bin, die Puppe von Herrn Generaldirektor Bremer zu sein.«

Hertha Siebrecht plauderte halblaut mit Herrn von Senden. Zwischen den beiden lag auf dem Teetisch eine aufgeblätterte amerikanische Zeitschrift, und als jetzt Herr Eich in Gedanken die Terrasse stumm auf und ab marschierte, rief Hertha ihren Mann leise an und sagte: »Sieh dir einmal dies Bild an, Karl!« Und sie wies auf die Zeitschrift.

»Oh!« sagte Karl Siebrecht und betrachtete interessiert das Bild der schönen Frau. »Die Maria Molina! Sie hat es also doch geschafft, Senden? Wenigstens drüben hat sie es geschafft?«

»Es scheint so«, antwortete der Rittmeister und lächelte nicht ohne Selbstironie. »Wenn sie erst in Hollywood eine Starrolle hat, so wird sie nun wohl auch ein Star werden, die geborene Kusch, geschiedene von Senden, genannt Maria Molina.« Und wieder lächelte der Herr von Senden, diesmal ganz zufrieden.

Karl Siebrecht aber fragte: »Und das ärgert Sie gar nicht, Senden? Schließlich hat sie Ihnen doch Ihr ganzes Vermögen abgenommen und sich sofort scheiden lassen, als sie sah, daß nichts mehr zu holen war! Ich würde mich zuschanden ärgern über so etwas!«

»Ja du, mein Sohn Karl!« antwortete der Rittmeister. »Aber ich bin nun einmal sanfter, mein Lieber. Das Jahr, das ich mit der Molina zusammen verlebt habe, hat mir viel Freude gemacht.«

»Sie hat nie einen Funken für Sie übriggehabt!« rief Karl Siebrecht empört, »sie war immer nur auf Geld aus!«

»Sie hat sogar eine ganze Menge für mich übriggehabt«, sagte der Herr von Senden ganz ungekränkt. »Sie war aber ehrgeizig und wollte durchaus vorwärtskommen. Du müßtest doch am ehesten Verständnis für einen solchen Menschen haben. Du warst immerhin auch ein Ehrgeiziger und wolltest einen Traum verwirklichen – erinnerst du dich noch an die Eroberung von Berlin? Sehr rücksichtsvoll bist du auf diesem Wege gerade nicht mit den Gefühlen deiner Mitmenschen umgegangen – oder was meinst du –?«

»Aber, Herr von Senden«, antwortete Karl Siebrecht etwas steif, »ich wüßte nicht, daß ich irgendwelche Gefühle absichtlich verletzt hätte oder hinter jemandes Geld so her gewesen wäre wie die Maria Molina!« Er wurde unter den lächelnden Blicken der anderen ein wenig rot. »Jedenfalls war alles bei mir ganz anders!«

Alle lachten, sogar der alte Eich, der dazugetreten war, ließ ein kurzes Meckern hören. »Nein, nein«, rief Herr von Senden lachend, »wir wollen dich auch nicht mit der Maria Molina vergleichen! Natürlich ist alles bei jedem ganz anders. Dein Weg führte stets über Rosen ...«

Und der alte Eich sagte: »Das erste, was ich höre, mein lieber Schwiegersohn, daß Sie einen so ehrgeizigen Traum hatten! Sie wollten also Berlin erobern? Und wie sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden? Immerhin stehen Sie schon Anfang der Vierziger – in diesem Alter war Napoleon, wenn ich nicht irre, schon Kaiser.«

»Ach ...« sagte Karl Siebrecht und hatte doch gemerkt, daß ihn alle ein wenig verspotteten, er trug es aber mit Fassung. »Ach, man erobert Berlin nicht, das war nur ein Jungentraum. Im besten Falle erobert Berlin uns, und das hat es bei mir gründlich getan, nicht wahr, Hertha?« Und die beiden sahen sich lächelnd an.


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