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Im Frühsommer des Jahres 1931 war der bunte Fries aus springenden Tieren im Kinderzimmer der Villa in Nikolassee längst verblaßt und abgeblättert. Nur selten wurde die Tür dieses Zimmers geöffnet, und zwischen den Eheleuten wurde das Zimmer nicht erwähnt.
Nein, nicht alle Hoffnungen hatten sich erfüllt, die von den jungen Leuten einst auf diese Ehe gesetzt worden waren, aber es hatten sich auch nicht alle Befürchtungen erfüllt. Der Frau war eine Neigung zur Schwermut und zum Einzelgängertum geblieben, alle Liebe ihres Mannes hatte sie nicht davon befreien können. Immer wieder verließ sie plötzlich das Haus, er kam heim und fand es leer. Sie war dann zu ihrem Vater gegangen, der nun wirklich alt geworden war, oder sie war an einen Ort gereist, wo sie ganz allein für sich leben konnte. Sie haßte die Gewöhnung, sie war eine herrliche Geliebte, aber sie wurde nie eine Ehefrau. Sie lebte in ihrem Haus wie ein Gast, nichts konnte sie mehr irritieren, als wenn man in Wirtschaftsfragen eine Auskunft von ihr haben wollte. Manchmal dachte Karl Siebrecht, wie gut es doch war, daß jenes Kinderzimmer nie in Benutzung gekommen war. Er konnte sich Hertha nicht als Mutter denken. Es war besser so, aber eine Ehe war auch diese zweite Ehe von Karl Siebrecht nicht geworden, und diesmal lag die Schuld nicht bei ihm. Manchmal dachte er darüber nach, was wohl aus seiner Ehe mit Rieke geworden wäre, wenn er bei ihr diese Geduld besessen hätte. Aber das ließ sich kaum vergleichen. Er war damals noch ein sehr junger Mensch gewesen, und er hatte Rieke nie geliebt, wie er Hertha liebte.
Die wirtschaftliche Situation des Direktors Siebrecht war nicht gut. Sein Vorschußkonto bei der Firma hatte nicht ab-, sondern allmählich zugenommen. Alte Schulden waren bezahlt worden, neue Schulden waren dazugekommen. Der Haushalt mit all den Leuten, die er beschäftigen mußte, überschritt sein Einkommen, nicht viel, aber doch so, daß er immer etwas mehr ausgab, als er einnahm. Er, der früher geldliche Abhängigkeit verabscheute, hatte sich jetzt daran gewöhnt, diesen Zustand mit philosophischer Ruhe anzusehen. Im Grunde brauchte er sich wirklich keine großen Sorgen zu machen. Ein paarmal hatte ihm Hertha schon angeboten, sich mit ihrem Geld an der Haushaltskasse zu beteiligen. Er hatte das immer wieder hartnäckig abgelehnt, er hatte sich einmal von einer Frau ernähren lassen, das tat nicht gut. Aber im schlimmsten Fall war dies ein Ausweg. In der Einrichtung des Hauses steckten große Werte, die ihm gehörten und die er ihr jederzeit übereignen konnte.
Das Verhältnis zwischen Karl Siebrecht und seinem Schwiegervater war nicht gut, aber es war erträglich geworden. Sie nannten sich weiter »Sie«, der Verkehrston blieb kühl, aber feindliche Worte wurden nicht gewechselt. Geschäftlich sahen sich die beiden nicht selten, und geschäftlich kamen sie recht gut miteinander aus, seitdem Karl Siebrecht vor nun fast sechs Jahren in der Frage der Leerkilometer geklagt und gesiegt hatte. Seitdem war Herr Eich vorsichtiger geworden. Siebrecht war sich klar darüber, daß der Vertrag schon wieder den veränderten Zeitverhältnissen nicht mehr entsprach. Es wurde nicht annähernd mehr soviel verdient wie früher, die Steuern und Lasten waren gestiegen, die Prozentsätze, die er abführen mußte, waren zu hoch. Aber sein Schwiegervater sprach immer häufiger von seiner Pensionierung, er war jetzt wirklich alt und müde geworden. Siebrecht hätte die Vertragsänderungen lieber mit seinem Nachfolger bei der Eisenbahndirektion, die nun längst eine Reichsbahndirektion geworden war, besprochen.
Karl Siebrecht lebte im Grunde ein sehr einsames Leben, viele Abende saß er allein in dem großen Haus. Es kamen immer wieder wundervolle Stunden mit Hertha, aber es waren doch nur Stunden. Wie er es sich gedacht hatte, blieben die Gastzimmer im Haus unbenutzt. Manchmal, sehr selten, kam der Rittmeister. Seltener noch traf er die junge Frau an, und nie wieder erlebten sie eine so beschwingte Stunde wie jene erste bei Horcher. Meist saßen die beiden Freunde allein, tranken langsam ein Glas Wein und sprachen in großen Pausen miteinander. Manchmal konnte es den Rittmeister dann wohl ankommen, den Freund ein wenig zu necken. »Nun«, sagte er dann wohl, »wie steht es mit der Eroberung Berlins? Ist sie nun abgeschlossen, oder sind noch einige Bastionen zu nehmen? Wie fühlt man sich, wenn man sein Ziel erreicht hat?«
»Im Moment ein wenig öde und leer«, antwortete Karl Siebrecht und sah in sein Weinglas. Noch immer funkelte das Licht im Wein rubinfarben, aber es lockte nicht mehr, es bezauberte nicht mehr ...
So blieben nur noch Gollmers ... Ja, Gollmers waren nun wieder in Berlin seßhaft geworden und wohnten nicht weit von Siebrechts in ihrer alten Villa. Zu Anfang hatte sich Karl Siebrecht viel von diesen Freunden versprochen. Mit jener Naivität, die er auch als Mann behielt, bildete er sich ein, Hertha und Ilse müßten die besten Freundinnen werden. Aber rasch stellte sich heraus, daß die beiden einander nur wenig zu sagen hatten. Es schien nichts Gemeinsames zwischen ihnen zu geben. Wo Hertha zögernd, verhalten, unentschlossen war, war Ilse Gollmer aktiv, zugreifend, vielleicht ein wenig laut. Die lange Krankheit hatte ihren Lebensmut nicht brechen können. Sie neckte gern, lachte viel und wußte tausend kleine witzige, ein wenig boshafte Geschichten zu erzählen, alles Dinge, die Hertha Siebrecht tödlich langweilten. Erst durch den Umgang mit Ilse Gollmer entdeckte Karl Siebrecht, daß seine Frau nicht eine Spur von Humor besaß. So kam der Verkehr der beiden Damen über ein paar Versuche nicht hinaus. Aber dann und wann besuchte Karl Siebrecht seinen Teilhaber und alten Gönner im Grunewald. Längst hatte es Herr Gollmer aufgegeben, in allen möglichen Kommissionen für ständig wechselnde Regierungen Beschlüsse zu fassen, die von den Ereignissen stets überholt waren. Er widmete sich mit Maßen seinen Geschäften, und er gab seinem jungen Freund immer mal wieder einen guten Rat.
Da saßen denn die beiden Herren bei einem Glase guten Burgunder, Herr Gollmer rauchte langsam eine Zigarre, und wenn Ilse gerade nichts anderes vorhatte, kam sie auch einmal herein. Aber sie hielt es nie lange aus. »Wie die alten Männer sitzt ihr da!« schalt sie. »Vater, du bist ein Mann in den besten Jahren, und Karl Siebrecht ist sogar noch in den guten Jahren, die viel besser als die besten sind. Ihr aber sitzt da, als ob ihr einschlafen wollt! Tut doch was!«
»Was sollen wir denn tun, Kind?« fragte Herr Gollmer bedächtig. »Siebrecht wird den ganzen Tag geschuftet haben, und ich habe, wenn auch nicht gerade geschuftet, mich doch angemessen betätigt. Was sollen wir denn noch tun? Wir haben Feierabend, Ilse!«
»Ach, tut irgendwas, meinethalben geht bummeln, aber schlaft bloß nicht ein! Siebrecht, am Kurfürstendamm haben sie eine entzückende Bar aufgemacht, wollen Sie mich da nicht einmal hinfahren?«
Er sah sie ein wenig belustigt an. »Sie wollen sich wohl unmöglich machen?« sagte er. »Mit solch einem alten Ehemann geht man doch nicht aus! Sie sind doch wahrhaftig nicht in Verlegenheit um Begleiter!«
»Alles Ausreden! Bloß faul sind Sie! Ich sollte Ihre Frau sein, ich wollte Sie schon in Gang bringen!« Unter seinem Blick wurde sie rot. »Bilden Sie sich bloß nichts ein!« sagte sie drohend. »Der Himmel bewahre jedes Mädchen vor einem Mann, wie Sie sind! Los, Siebrecht, ich stelle das Grammofon an, und wir tanzen einen Tango!«
»Sie wissen sehr gut, daß ich nicht tanzen kann, Fräulein Ilse!«
»Natürlich können Sie tanzen! Jeder Mensch kann tanzen! Aber Sie sind faul, Sie wollen nicht aus Ihrem Sessel aufstehen! Wie zwei schläfrige Krokodile liegt ihr da! So, und nun verabschiede ich mich, meine Herren! Damit Sie es wissen, Siebrecht, ich fahre noch in die Mexiko-Bar, und ein Platz in meinem Wagen ist frei!«
»Ich vertrage die Mixgetränke nicht, ich werde trübe davon!«
»Noch trüber kann Sie kein Getränk der Erde mehr machen! Gute Nacht, Vater, vergiß nicht, Herrn Siebrecht rechtzeitig um zehn Uhr zu wecken. Um elf muß er im Bett liegen. Gute Nacht, Siebrecht!«
»Gute Nacht, Fräulein Ilse. Amüsieren Sie sich gut!«