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Der Meister des Fuhrgewerbes saß im Stall und kratzte mit seinem Taschenmesser Lehm von den Schuhen, als Karl Siebrecht mit den Gäulen hereinkam. »Na, mein Sohn«, sagte er und hielt die offene Hand hin. »Hafer verdient?«
»Immer!« prahlte Karl Siebrecht und legte zehn Mark in die Hand. Dann fügte er langsam Stück für Stück eine Mark und fünfundneunzig Pfennig dazu. »Dein Anteil, Franz!«
Wagenseil besah das Geld nachdenklich, dann spuckte er kräftig drauf. »Handgeld«, sagte er. »Strumpfgeld nennen's die kleinen Mädchen in der Jägerstraße! Daß unsere Kinder lange Hälse kriegen!« Er spuckte langsam über die linke Schulter nach dem Rappen hin. »Das Geld gebe ich bestimmt nicht aus – bis zum nächsten Gerichtsvollzieher!« Er seufzte schwer: »Viel ist es nicht, Karl!«
»Es ist ein Anfang, Franz!« tröstete Karl Siebrecht. »Sie besinnen sich schon.«
»Besinnen sie sich wirklich?« fragte Wagenseil. »Für eins fünfundneunzig würde ich mich nicht viel besinnen.«
»Dienstmänner sind eben billiger als du. – Du, Franz, du mußt mir morgen eine Regenplane mitgeben für die Koffer.«
»Schön! Hast du viel Stunk mit denen?«
»Es geht! Dem schlimmsten Schreier habe ich heute einen über den Döz gegeben.«
»Hast du recht gemacht«, sagte Wagenseil und betrachtete den Jungen nachdenklich. »Weißt du was?« rief er mit einem plötzlichen Aufflammen, »du müßtest was Amtliches haben, dann lassen sie dich eher in Ruhe!«
»Wieso was Amtliches? Ich bin doch nichts Amtliches!«
Aber Wagenseil war von seinem Einfall begeistert. »Du mußt einen langen grünen Mantel kriegen, bis an die Hacken. Mit blanken Knöppen. Und dann eine grüne Mütze mit dem Messingschild ›Berliner Gepäckbeförderung‹. Mensch, Karl, das ist eine Idee. Pyramidal siehst du dann aus. Dann rührt dich keiner mehr an.«
»Ich lasse mich doch nicht als Affe ausstaffieren!« rief Karl Siebrecht entrüstet. »Ich bin doch kein Kintopp-Portier. Ausgeschlossen, Franz! Das Geld spare lieber. So ein Zeug ziehe ich nie an.«
»Na, höre mal, Karl«, sagte Wagenseil, aber seine Stimme klang ziemlich drohend, »wir wollen hier jetzt ganz ruhig reden, wir wollen uns hier nicht streiten! Das ist eine ganz erstklassige Idee, sage ich dir. Du verstehst bloß nichts von Reklame. Aber Reklame ist das halbe Leben!«
»Ja, ja, ja«, sagte Karl Siebrecht gelangweilt – gleich würde es wieder den unvermeidlichen Krach geben. »Wir wollen lieber gar nicht mehr davon reden, Franz. Ich ziehe solch Zeug doch nicht an!«
»Du ziehst das Zeug doch an!«
»Dann kaufe mir doch lieber einen Sattel und setze mich ganz rot auf den einen Gaul, und auf den anderen setzt du eine Meerkatze, die kann Becken schlagen – wenn Reklame, dann Reklame!«
»Einen alten Sattel habe ich noch irgendwo liegen«, sagte der Fuhrherr nachdenklich. »Das wäre noch nicht mal das Dümmste ...«
»Höre mal, Franz«, rief Karl entsetzt. »Wollen wir nun ein reelles Fuhrunternehmen aufmachen, oder wollen wir Zirkus spielen? Die Leute wollen ihre Koffer von einem Bahnhof zum andern gebracht haben, und zwar reell ...«
»Reell!« schrie Wagenseil und sprang auf. »Sagst du mir in meinem eigenen Stall, daß ich nicht reell bin –?! Auf der Stelle machst du, daß du aus meinem Stall kommst, oder ich werfe dich achtkantig hinaus!« Und er warf schon, aber nur einen Putzstriegel, der harmlos gegen die Wand fuhr.
»Du hast wieder deinen Vogel, Franz«, sagte Karl Siebrecht unter der Stalltür. »Aber das Schöne bei dir ist, Franz, daß du alle Tage einen anderen Vogel hast –«
Er sprang zur Seite, und der Wasserguß aus dem Stalleimer klatschte wirkungslos an ihm vorbei auf den dunklen Hof.
»Daß du dich nicht wieder auf meinem Hof blicken läßt, du miserabler Klopphengst, du!« brüllte Wagenseil in höchster Wut. »Mir eins fünfundneunzig anzubieten – 'ner Nutte gibt man mehr!«
»Gute Nacht, Franz, und auf Wiedersehen!« rief Karl, da war er schon auf dem Hof.
Er ging an dem Büro vorbei, das Fenster öffnete sich. »Du, hör mal, Siebrecht!«
»Ja –?«
»Es hat ein Herr nach dir gefragt, vor einer Stunde etwa. Du möchtest auf ihn warten, er käme noch mal vorbei.«
»Was denn für ein Herr? Wie hieß er denn?«
»Weiß ich nicht. Da hätte ich viel zu tun, wenn ich mir alle Namen merken wollte von denen, die hier vorbeikommen!« Das säuerliche Fräulein empörte sich. »Aber du kannst es machen, wie du willst, von mir aus!«
»Dann werde ich zu Ihnen hereinkommen, hier im Dunkeln wartet es sich auch nicht schön.«
»Na, komm schon rein!« Und als Karl Siebrecht im Büro war: »Hat er dich wieder mal rausgeschmissen?«
»Ja.« Karl Siebrecht war noch bei dem Herrn, der nach ihm gefragt hatte: »Sah er vielleicht wie ein Matrose aus?«
»Weiß ich nicht. War schon halb duster, als er kam. Und nun halte den Mund, ich muß hier rechnen.«
Gute zehn Minuten herrschte tiefes Schweigen auf dem Büro. Dann kam Herr Wagenseil reinstolziert, den Jungen beachtete er nicht: »Sie, Karline«, brummte er das Fräulein an. »Telefonieren Sie mal mit meiner Ollen! Ich komme heute nicht zum Abendessen. Ich begieße mir die Nase für eins fünfundneunzig!«
Das Fräulein reagierte nicht, das Fräulein rechnete.
Mit erhobener Stimme sprach der Chef: »Haben Sie Schmalz in den Ohren, Sie Essigkruke, Sie! Meine Olle sollen Sie anrufen! Und sagen Sie ihr gleich, ich bin schon weg, sonst quasselt die mir auch noch die Ohren voll!«
»Erstens bin ich weder 'ne Karline noch 'ne Essigkruke, zweitens ist Ihre Frau keine Olle, und drittens –«
»Drittens telefonierst du Misthaken auf der Stelle, oder ich drehe dir den Hals um!«
Wagenseils Faust donnerte auf den Tisch. Wie von einem Windstoß geschleudert, flog das Fräulein an den Apparat. Wagenseil warf sich in einen Stuhl, zog das Messer aus der Tasche und fing an, seine Nägel damit zu pflegen. Dabei fragte er grämlich: »Was sitzt du denn noch hier rum?«
»Ich warte auf einen.«
»Auf wen denn?«
»Weiß ich nicht.«
»Ich möcht mal wissen, was du eigentlich weißt!« Er unterbrach sich: »Heh, Sie Zicke, Sie sollen doch sagen, ich bin nicht hier!«
Das Fräulein reichte ihm sauer-süß lächelnd den Hörer. »Ich konnte es nicht anders machen, Herr Wagenseil, sie hat Sie gehört ...«
»Das lügst du! – Ja, Else?« Seine Stimme klang plötzlich sanft, dabei war es, als habe er einen Schlucken, soviel Ansätze machte er. »Ja, es tut mir furchtbar leid – bißchen spät geworden, ja? – Hatte ein krankes Pferd im Stall – warte noch auf den Tierarzt. – Ich will weg? I wo, ich will doch nicht weg, wer erzählt denn so was? – Hat sie falsch verstanden. – Was hat sie gesagt? Ich will saufen gehen? Diese Giftkröte, Else ...«
Seine Stimme klang so sanft, aber dabei hatte er mit der freien Hand nach einem Locher gefaßt und schleuderte ihn gegen das Fräulein. Gemeinsam mit Karl floh sie aus dem Büro, in dem der Chef sanft weiter telefonierte ...
»Haste mal seine Frau gesehen?« fragte die Sekretärin, das Fräulein Palude, draußen im Dunkeln.
»Nein, die ist ihm wohl über?«
»Manchmal! Gerade wie er und wie sie Stimmung haben! Diesmal habe ich ihn schön reingelegt! Nun kann er heute abend nicht weg, die ruft ihn alle fünf Minuten an, bis es ihm über ist und er nach Haus kommt. – Ich gehe auch nach Haus jetzt. Wartest du noch?«
»Kein Gedanke! Es ist schon nach neun, der kann ja wiederkommen!«
Ein Stück gingen die beiden noch gemeinsam. Das säuerliche Fräulein war richtig aufgekratzt, weil es seinem Chef einen Possen gespielt hatte. Es wußte eine ganze Menge von ihm zu erzählen, von seinen plötzlichen Sparsamkeitsanfällen, wenn er über ein Pfund Hafer tobte, und von seiner sinnlosen Sucht, alles Neue anzuschaffen ...
»Jetzt soll ich sogar Schreibmaschine lernen. Einen Vogel hat er, wo er nicht mal richtig Deutsch kann. Da soll er sich man eine Neue, eine Junge, nehmen – aber das erlaubt ihm die Frau nicht. Früher war überhaupt immer ein Jüngling auf dem Büro, aber mich hat sie ihm erlaubt ...«
Auf dem Alexanderplatz trennten sich die beiden. Siebrecht hatte das Gefühl, daß er bei Fräulein Palude einen Stein im Brett hatte, das freute ihn. Überhaupt freute ihn sein ganzer Tag. Und nun ging er zu Rieke, er hatte erreicht, was er gewollt hatte, oder doch beinahe erreicht. Nun wurde es ihm leicht, sich mit ihnen auszusöhnen. Mit Kalli war er übrigens schon so gut wie ausgesöhnt, es würde ein netter Abend bei Rieke werden.
Der Junge ging immer schneller, ein feiner, dichter Regen schlug ihm ins Gesicht. Er war fast wie Nebel. Die Gaslaternen brannten in einem grauen Dunst. Drei Schritte ab von ihnen war es schon wieder ganz dunkel.
Siebrecht hatte ein gutes Gefühl für die Richtung, in der er gehen mußte. Er war zuerst die Dircksenstraße hinaufgegangen, und als ihm die dann zu weit nach links abbog, hatte er sich rechts gehalten. Er kannte die Straßen nicht, er tastete sich so durch, einmal las er Dragonerstraße, kurz darauf Münzstraße. Es mußte aber eine schlechte Gegend sein, das bißchen, was er von den Häusern im Schein der Gaslampen sah, war scheckig, wie aussätzig. In den Destillen wurde laut gegrölt, Betrunkene torkelten auf der Straße.
Jetzt kam aus der Seitenstraße ein Herr in langem Mantel heraus. Die Straße auf und ab sehend, ging er vorsichtig in die Mitte der Fahrbahn. Schon ein ganzes Stück vor Karl hob er die Hand nach dem Hut, wodurch sein Gesicht zur Hauptsache verdeckt wurde, und fragte mit einer tiefen, vielleicht durch den Nebel unnatürlich klingenden Stimme: »Entschuldigen Sie, wo bin ich hier eigentlich?«
»So genau kann ich Ihnen das auch nicht sagen«, meinte Karl Siebrecht, stehenbleibend. »Da hinten, irgendwo, ist der Alexanderplatz –«
Der Herr schlug ihm mit der geballten Faust ins Gesicht. Zugleich hob er den Fuß und trat dem Jungen mit aller Gewalt gegen den Leib. Der schrie vor Schmerz und Schreck auf, krümmte sich nach vorn, und fiel auf das Pflaster. Der andere warf sich über ihn, dunkel sah er ein Gesicht, in dem die Augen leuchteten, ein Hagel von Schlägen bearbeitete ihn. Er konnte nicht mehr denken, sich nicht wehren.
Mit mir ist's alle ... dachte er schlaff.
Da fühlte er, wie der Mann über ihm fortgerissen wurde. »Warte, mein Junge«, hörte er eine Stimme. »Ich bin auch noch da!«
Das ist ja Kalli! dachte er bei halbem Bewußtsein. Wie kommt denn Kalli hierher? Aber natürlich, Kalli muß es sein, mein einziger Freund Kalli Flau ...
Damit schwand ihm das Bewußtsein. Er konnte aber nur wenige Sekunden fortgewesen sein, denn als er sich aufrichtete, sah er noch immer den anderen neben sich knien und hörte das Geräusch von Schlägen, das flehentliche, murmelnde Bitten des Geschlagenen. Der Schmerz in seinem Leib hatte nachgelassen, halblaut fragte er: »Bist du das wirklich, Kalli?«
Der andere hörte einen Augenblick auf mit Schlagen. »Natürlich bin ich das, Karl«, sagte er vergnügt. »Wer denn sonst?«
Und wieder fing er an mit Prügeln.
»Wen verhaust du denn da?« fragte Karl Siebrecht. »Hör doch endlich auf damit! Der hat doch genug!«
»Aber das ist doch Kiesow!« rief Kalli Flau. »Hast du das denn nicht gewußt? Der ist dir doch den ganzen Abend schon nachgelaufen, sogar bis auf den Fuhrhof? – Und ich bin wieder dem Kiesow nachgelaufen!« setzte er mit einem Grinsen hinzu, das Karl Siebrecht nicht sah und doch sah.
»Das hätte ich wissen sollen!« stöhnte Kiesow und setzte sich auch aufrecht. Nun saßen zwei auf dem nassen Straßenpflaster, und zwischen ihnen stand Kalli Flau.
»Ja, das hättest du wissen sollen, Kiesow!« höhnte der. »Aber dafür bist du eben zu dumm! Hast du wirklich geglaubt, ich war mit dem Siebrecht verkracht! So was gibt's ja gar nicht, was, Karle?«
»Nein, Kalli, so was gibt's gar nicht«, antwortete auch Karl Siebrecht. Die Schmerzen ließen immer mehr nach, ihm wurde so fröhlich zumute. Eine Last glitt von ihm ...
»Ich kann dich noch immer anzeigen wegen der roten Mütze auf dem Lehrter«, stöhnte der Dienstmann 13.
»Du kannst überhaupt keinen Menschen mehr anzeigen, Kiesow!« rief Kalli Flau hitzig. »Und wenn du jetzt schon wieder ein Maul riskierst, gibt's noch eine Wucht!« Er schwang seine Fäuste kriegerisch vor Kiesows Nase, der ängstlich aufstöhnte und den Kopf zwischen die Schultern zog.
»Er hat die anderen gegen dich aufhetzen wollen«, erklärte Kalli Flau, »heute nachmittag im Stettiner ... Du mußt ihn auch gesehen haben, Karl!«
»Ach, das war der Kiesow, der auf dem Klo verschwand?«
»Ja, das war er. Und an ihm hat es nicht gelegen, daß du nicht von dreien statt von einem überfallen worden bist. Aber so gemein waren die doch nicht, dabei mitzumachen. Freilich, gewarnt hat dich auch keiner.«
Einen Augenblick herrschte Stille, Kiesow ächzte noch immer vor sich hin und wischte an seinem Gesicht herum.
»Was machen wir nun mit ihm, Karl?« fragte Kalli dann und half dabei dem Freund auf die Beine. »Genug hat der noch lange nicht!«
»Ich tu gewiß nichts mehr gegen euch!« stöhnte Kiesow.
»Du sollst jetzt aber was für uns tun!« sagte Karl. »Du hast genug gegen uns gehetzt, du bist uns eine Entschädigung schuldig. Du kommst morgen früh und von da an regelmäßig auf den Stettiner und gibst all dein Gepäck auf meinen Wagen!«
»Ich kann doch morgen nicht kommen! Ich kann doch morgen nicht laufen!« jammerte Kiesow. »Wo der mich so vertrimmt hat!«
»Läufst du denn auf dem Kopf, Kiesow?« fragte Kalli Flau spöttisch. »Ich habe dich nur an deinen dämlichen Döz geschlagen. Das mußt du eigentlich spüren!«
»Ihr macht ja mein Geschäft hin!« jammerte Kiesow. »Mir bleibt ja nichts, wenn ihr die Hauptfuhren macht.«
»Dir bleiben alle Bahnhöfe außer dem Anhalter und Potsdamer«, sagte Karl Siebrecht. »Und dir bleiben vor allem die Fuhren in die Wohnungen, die habt ihr bisher meist den Haifischen überlassen. Serviere du ruhig deinen lieben Freund Tischendorf ab. Der Ratte bin ich sowieso noch eine Abrechnung schuldig, von wegen Wagenwegfahren und Schildeinsauen, du weißt doch, Kiesow?«
»Das weiß er auch«, stöhnte Kiesow. »Das hat er nun auch noch rausgeknobelt!«
Eine Weile ließen sie ihm Zeit. Dann fragte Karl Siebrecht: »Also wie ist es, Kiesow, ja, oder soll Kalli noch einmal anfangen?«
»Ich muß schon ja sagen, ihr laßt mir nichts anderes übrig, so zu zweien auf einen nieder!«
»Er wird ja sagen und doch nicht kommen, Karl«, meinte Kalli. »Er wird ja sagen und weiter hinter unserem Rücken hetzen. Er ist und bleibt ein hinterhältiger Hund – das bist du, Kiesow!«
»Ich bin jetzt gewiß ehrlich!«
»Das bist du nie! Und weil du das nicht bist, gibst du uns jetzt als Pfand deinen Ausweis als Dienstmann. Den behalten wir so lange, bis wir gesehen haben, du meinst es wirklich ehrlich!«
»Jungens, den kann ich euch doch nicht geben, den brauche ich doch! Und ich habe ihn auch gar nicht bei mir.«
»Du hast eben nach deiner Brusttasche gefaßt, da sitzt er! Nein, Kalli, nimm ihn nicht mit Gewalt, er muß ihn freiwillig hergeben, er kann ja noch mal eine Tracht Prügel haben, wenn ihm das lieber ist.«
»Und das nennst du freiwillig, Siebrecht?!«
»Gib schon her, Kiesow, danke schön. Ich werde ihn dir gut aufbewahren, aber nicht auf meinem Leibe! Nächtliche Überfälle sind nutzlos! Auf Wiedersehen, Kiesow, morgen früh am Schwedenzug! – Los, Kalli, ich freue mich auf zu Hause. Und nun erzähle mir vor allen Dingen: wie war das mit der roten Mütze?«
Der weite Weg nach der Wiesenstraße wurde beiden nicht lang, so viel hatten sie einander zu erzählen. Sie gingen Arm in Arm – zuerst, weil Karl Siebrecht doch noch ein bißchen wacklig auf den Beinen war, dann, weil es ihnen gut gefiel. Karl Siebrecht sah ein, wie unrecht er dem Freund getan hatte, aber auch Kalli Flau gab zu, daß der Freund in manchem recht hatte.
»Was wahr ist, muß wahr sein, Karle«, sagte er. »Unbequem bist du oft für uns mit deinem ewigen Hecheln und Feintun. Aber recht hast du wahrscheinlich. Ich glaube jetzt wirklich, du kitzelst uns noch hoch.«
»Glaubst du das wirklich?« fragte Karl Siebrecht erfreut. »Glaubst du jetzt auch, daß der Fuhrbetrieb klappen wird?«
»Bombensicher!« sagte Kalli Flau mit Überzeugung.
Dann kamen sie in die Wiesenstraße. Es war lange nach zehn Uhr. Über der nie abreißenden Näherei saß Rieke Busch, hob den Kopf und rief Kalli ungnädig an: »Wieso kommste denn so spät, Kalli? Det janze Essen is een Matsch! Det mach lieba nich noch eenmal! Haste wat von Karlen jesehen? Wie jeht denn sein Jeschäft? Hat er meine Stullen jejessen? Wie war er denn jestimmt?«
»Ach, der Hammel!« sagte Kalli Flau wegwerfend. »Der kann mir ja im Mondschein begegnen! Der und sein feines Getue! Der soll mir noch mal kommen!«
Er stolzierte mit steifen Armen in der Küche auf und ab wie ein streitsüchtiger Hahn – und Riekes Augen wurden immer größer und ängstlicher.
Aber ehe sie noch etwas hatte sagen können, ging die Tür auf, und herein polterte Karl Siebrecht und schrie: »Kommst du hier raus, Kalli –?! Kommst du gleich runter auf den Hof –?! Das möchtest du, dich hier bei der Rieke verkriechen, du feiger Kerl –!«
Und auch er stolzierte wie ein kriegerischer Hahn in der Küche, er sah wahrhaft schrecklich aus mit seinem blau und blutig geschlagenen Gesicht, dem zerrissenen Hemdkragen und den von Straßendreck beschmutzten Kleidern ...
Die Jungen sahen auf Rieke. Ihr immer starrer werdendes Gesicht machte ihnen tiefen Spaß, sie hatten sich so königlich auf diese »Überraschung« gefreut.
»Ach, Rieke –!« rief Karl Siebrecht schließlich, er konnte sich nicht mehr halten, er brach in Lachen aus. Und auch Kalli Flau platzte los.
»Ihr habt euch jekloppt?!« rief Rieke in tiefstem Schmerz. »Nu is allet hin –!« Und sie schlug die Hände vors Gesicht und brach in ein lautes jammervolles Weinen aus.
Den Jungen blieb das Lachen in der Kehle stecken, ihr dummer Scherz sah plötzlich gar nicht mehr scherzhaft aus.
»Rieke!« rief Karl Siebrecht, lief zu ihr hin und umfaßte sie. »Weine nur nicht! Es war doch bloß Scherz, Rieke! Wir haben uns ausgesöhnt, Rieke!«
Und Kalli Flau von der anderen Seite: »Aber Rieke! Wir haben uns doch nicht gekloppt. Wirklich nicht. Der Karl und ich ...«
Sie riß sich los von ihnen, sie schrie zornig weinend den Karl an: »Du hast ihn vertrimmt, ick seh det doch! Schäm dir wat! Zwei Jahre älta biste und hast viel mehr Kräfte wie der! Und du vakloppst ihn, wo de mir extra vasprochen hast, uff 'n uffzupassen!«
»Rieke! Rieke!« rief Karl Siebrecht. »So höre doch, er hat mich nicht geschlagen! Der Kiesow hat mich geschlagen, der hat mich überfallen, und ohne Kalli läge ich jetzt auf einer Unfallwache! Kalli hat mich rausgekloppt. Kalli hat auf mich aufgepaßt, genau, wie er dir versprochen hat!«
»Is det wahr?!« rief sie, und ihre Tränen liefen weiter über das blasse Gesicht. »Is det wirklich wahr? Ach, Kalli, komm her bei mich. Du kriegst 'nen Süßen! Bist ja doch mein Bester, wenn de andern nich zu Hause sind. Na, Karle, jib mir die Flosse. Is ooch allet wieda jut?«
»Alles, Rieke, alles!« bestätigte Karl mit glänzenden Augen.
»Er hat dir ja mächtig durch die Mangel jedreht«, sagte sie, ihn unverwandt betrachtend.
»Kalli den Kiesow aber noch viel mehr! Der kann morgen aus keinem Auge sehen!«
»Det müßt ihr mir alles erzählen, aber nachher. Jott, seid ihr dämliche Bengels, einen so zu erschrecken! Die reinen Kinda! Nu, Kalli, wat stehste hier rum und jrinst wie Nante? Siehste valleicht, det dein Freund nasse Kleedagen hat? Willste dir valleicht jütigst bei die Brommen bemühen und ihm trocknet Zeug holen? Na!«
»Das kann ich doch selbst?«
»I wat! Laß den man loofen. Du bist hier Besuch. – Vata, schlaf nich in, mach Feuer in de Maschine, ick muß noch wat kochen for die Jungens. – Kennste den noch, Vata? Det is Besuch, det is nich der Karle von vorjestern! Det is een janz anderer Karle, Vata, der war uff 'ne weite Reise, der war lang fort von uns. Aba nu is er ja wieda zurückjekommen bei uns, wat, Karle, det biste doch –?«
»Ja, Rieke, nun bin ich wieder zurückgekommen zu euch –«
»For diesmal noch«, sagte Rieke. Aber das sagte sie ganz leise, nur zu sich, als sie sich zum Herd wandte.