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Aber wenn Karl Siebrecht sagte, daß er kein Geld hatte, so stimmte das doch nicht ganz. Er wie Kalli sparten, soviel sie nur konnten, und der ganze Haushalt sparte mit. Jede Mark, die vom Geschäftsgewinn abgezweigt werden konnte, wurde diesem Sparfonds zugeführt.
Karl war sich klar darüber, daß, so gut die Geschäfte gingen, es doch seit ein, zwei Jahren kein rechtes Vorwärts mehr gab. Die Einnahmen hielten sich ständig auf der gleichen Höhe und waren, so wie der Betrieb jetzt aufgezogen war, auch kaum steigerungsfähig. Gewiß, er konnte noch ein oder zwei Wagen mehr fahren lassen, aber dann war es auch alle, darüber hinaus gab es nichts mehr.
Der junge Mann, der im Laden an der Eichendorffstraße am Fenster stand und über den kalkweißen Anstrich der Scheibe auf die vom Mailicht helle Straße hinaussah, wußte seit langem, was zu geschehen hatte: er mußte direkt an das Reisepublikum heran. Er mußte auf jedem Bahnhof einen Schalter haben, wie die Gepäckabfertigung, wie die Billettschalter. Das Publikum mußte seine Gepäckscheine direkt bei ihm auf dem Bahnhof abgeben können.
Aber dazu brauchte er Geld, viel Geld, Tausende, wahrscheinlich Zehntausende. Die Bahn verlangte die Einstellung kaufmännisch geschulter Kräfte, eine Buchführung, die ein wenig mehr war als das einfache, von der Palude eingerichtete Kassenbuch. Kassenschränke, Büromöbel mußten gekauft werden. Wahrscheinlich hätte sich Karl Siebrecht das Geld leicht borgen können, aber das wollte er nicht. Er hatte die Firma aus eigenem aufgebaut, es war seine Firma, es sollte auch allein seine Firma bleiben. Er wollte keine Teilhaber, weder tätige noch stille. So hatte er in aller Heimlichkeit angefangen zu sparen, zurückzulegen, heimlich vor allen anderen, heimlich sogar vor der Palude, nur nicht heimlich vor seinen beiden Freunden. Etwas hatte er doch gelernt: nicht wie früher seine Pläne allein mit sich herumzutragen, sondern er hatte die beiden eingeweiht. Nicht, daß er viel oder oft davon geredet hätte, nein, er hatte ihnen einmal eröffnet, dies und jenes habe er vor – wollten sie mitmachen? Sie hatten ohne Zögern ja gesagt, sie legten sich dieselben Entbehrungen auf wie er, sie lebten kein bißchen besser als in der Wiesenstraße.
Langsam, oh, sehr langsam wuchs die Einlage jenes Sparbuchs, das Karl Siebrecht so oft abends im Bett ansah. Zahlen, nur Zahlen – aber jede Zahl bedeutete etwas. 30 Mark – das war ein Ausflug nach Hundekehle, den sie nicht gemacht hatten. 18 Mark – Rieke hatte sie gestiftet, den Schneiderlohn für ihr erstes Kostüm. Hier 300 Mark – das hatte geschafft, das war die Summe, die Kalli und er allmonatlich von ihrem gemeinsamen Gehalt einzahlten. 300 Mark von 550 Mark erspart – das kam ihnen damals schon allerhand vor. Unterdes war die monatliche Sparsumme auf 400 Mark gestiegen; von 150 Mark im Monat bestritten die beiden ihren ganzen Lebensunterhalt, gaben Rieke Kostgeld und Miete, kleideten sich, zahlten Wäsche und Schuhwerk! Sonst nichts – nichts über das Allernotwendigste hinaus.
Langsam war die Schlußsumme gestiegen, viel zu langsam, denn da war einer, der an ihnen zehrte, der sie immer wieder zurückwarf – ein geldgieriger Verschwender! Aber nun lautete sie doch über 4 000 Mark – während Karl Siebrecht durch die Scheibe auf die öden Häuser drüben starrte, sieht er die Zahl vor sich: 4 263,50 Mark. Nun ist soweit, er wird dieser Tage auf die Eisenbahndirektion gehen und mit dem Herrn sprechen. Wenigstens für sein erstes Büro auf dem Lehrter Bahnhof muß das Geld reichen. Er ist soweit!
In seinem Rücken rasselte das Telefon, die Palude nimmt den Hörer ab und meldet sich: »Berliner Gepäck-Beförderung.« Es ist Gepäck abzuholen aus einer Privatwohnung. Karl Siebrecht hört halb hin. Jawohl, auch diese Anrufe mehren sich, aber sie würden wirklich zahlreicher werden, wenn er seine Büros auf den Bahnhöfen hätte. Das gäbe seiner Firma einen offiziellen Anstrich, jetzt ist sie doch nichts als ein Laden in einer Nebenstraße mäßigen Rufes.
Plötzlich horcht Karl Siebrecht auf. Fräulein Palude hat die Adresse notiert: Kurfürstenstraße 72.
»Einen Augenblick, Fräulein Palude«, sagte er und nimmt ihr den Hörer aus der Hand. »Lassen Sie mich mal ...«
Es ist ein plötzlicher Einfall, weiß Gott, woher. »Hier Karl Siebrecht«, sagte er. »Herr Rittmeister von Senden selbst? Hier spricht Karl Siebrecht, Herr Rittmeister. Vielleicht erinnern Sie sich meiner?«
Nur einen Augenblick hat der Mann am anderen Apparat gestutzt, jetzt sagt er lebhaft: »Aber natürlich! Karl Siebrecht! Die Trockenmieter, die Zeichenstube – wie sollte ich das vergessen? Und wie geht es dir, Karl, mein Sohn? Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen – zwei, drei Jahre, nicht wahr?«
»Es wird wohl schon vier Jahre her sein, Herr Rittmeister. – Ja, es geht mir so einigermaßen. Ein bißchen von dem, was ich erreichen wollte, habe ich erreicht.«
Es klingt Stolz aus Siebrechts Stimme.
Der Herr von Senden versteht ihn sofort. Dieser reiche Mann weiß nach Jahren noch alles von dem armen Jungen, den er doch nur vier- oder fünfmal sah.
»Ach ja, die Eroberung von Berlin!« ruft er. »Ein Stückchen hast du also geschafft? Davon mußt du mir aber erzählen, Karl!«
Es geht Karl Siebrecht doch seltsam mit diesem Mann! Er kann ihn eigentlich nicht ausstehen, diesen blasierten Nichtstuer, der bloß wegen Geld die Schwester eines üblen Mannes geheiratet hat. Und doch sagt er sofort: »Gewiß, Herr Rittmeister, ich komme gern einmal wieder zu Ihnen.«
»Und wann machen wir das?« fragt der Herr von Senden. »Ich verreise heute nachmittag für ein paar Wochen.«
»Vielleicht nach Ihrer Reise?« fragt Karl.
Aber der Rittmeister ruft: »Nein, nein, Karl, besser heute noch, sonst bist du mir doch wieder entschwunden.«
»Ich bin immer hier im Büro erreichbar.«
»Dann bist du also ein Büromensch geworden? Ich kann es mir nur schwer vorstellen, und ich glaube auch nicht, daß es von Dauer sein wird. Besser, du kommst jetzt gleich zu mir, läßt sich das mit deinen Bürostunden einrichten? Gibt dein Chef dich frei?«
»Ich glaube«, lächelt Karl Siebrecht. »Ich stehe ganz gut mit meinem Chef! Dann bin ich also in einer guten halben Stunde bei Ihnen.«
»Schön, mein Junge! Ich freue mich.«
Karl Siebrecht hat angehängt und sieht gedankenlos Fräulein Palude an. Er freut sich, aber er weiß eigentlich nicht, warum. Er hat doch nie etwas vom Rittmeister wissen wollen.
»Sie haben aber mächtig feine Bekanntschaften«, sagt Fräulein Palude neugierig. »Das habe ich gar nicht gewußt, Chef!«
»Es gibt recht vieles, was Sie nicht wissen, Fräulein Palude«, antwortet Karl Siebrecht trocken. Das ist der Ton, den er sich seinen Angestellten gegenüber angewöhnt hat, und er hat es erreicht, daß sie alle in ihm trotz seiner Jugend den Chef sehen. Niemand würde es noch einfallen, ihn – wie etwa den Kalli Flau – an seine Haifischzeit zu erinnern. Auch Fräulein Palude hat längst vergessen, daß sie ihn einmal als armen Jungen kannte, der sich bei ihr auf dem Büro wärmte und den sie duzte.
»Ich gehe dann also für zwei, drei Stunden fort, Fräulein Palude«, sagt Karl Siebrecht. »Es wird ja nichts Besonderes los sein.«
Er ist schon im Begriff, in sein Zimmer hinüberzugehen, um sich für den Besuch umzuziehen, da fällt ihm etwas ein. »Ach ja, Fräulein Palude«, sagt er. »Und dann machen Sie mir den Kontoauszug für Franz Wagenseil fertig.«
»Gleich, Herr Siebrecht?«
»Ja, gleich. Ich möchte ihn mitnehmen.«