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Auf der langen Fahrt von Münster nach Berlin hatte Karl Siebrecht Zeit, sich mit dem gewissen Bomeyer zu beschäftigen, der es durchaus telegrafisch haben wollte, wann Siebrecht wieder in der Reichshauptstadt eintraf – aber er dachte überhaupt nicht an ihn. Sondern er dachte an die allernächste Zukunft, wenig an die Auseinandersetzungen, die ihm bevorstanden, viel an seinen Lastwagen und die Arbeit, die er tun wollte.
Dann stand er auf dem Bahnsteig des Bahnhofs Friedrichstraße, sah den Aufmarsch der Gepäckträger und nickte zufrieden. Man sah es: andere Zeiten waren gekommen. Die Leute schienen ruhiger, die Röcke der Frauen waren wieder länger geworden. Er ging durch die Sperre, jemand tippte ihn an: »He, Sie, Siebrecht!«
Er sah in ein Gesicht, und wenn dieser Mann auch keinen steifen schwarzen Hut mehr trug, so war er doch nicht zu verkennen. »Dumala!« rief Karl Siebrecht erstaunt. »Sind Sie etwa der gewisse Bomeyer?«
»Ich habe nie anders als Bomeyer geheißen«, sagte Dumala steif. »Wollen Sie mit mir in den Wartesaal kommen?« Karl Siebrecht wollte, und stumm ging ihm Dumala voran. »Nein, danke, ich trinke nichts«, sagte Dumala hastig, sobald sie sich gesetzt hatten. »Ich muß gleich weiter. Wir wollen nur schnell ein paar Kleinigkeiten erledigen.« Er zog Papiere aus der Tasche. »Hier ist die beglaubigte Abschrift eines Protokolls über den Autounfall, den Sie in der Nähe von Münster hatten. Ebenso ein ärztliches Zeugnis. Hier ist weiter Ihr Führerschein und Ihr Militärpaß. Ihre Papiere wurden seinerzeit in Verwahrung genommen, man konnte ja nicht wissen –« Der Blick wurde sinnend, aber gleich riß sich Dumala wieder zusammen und wurde rein dienstlich. »Das war erstens«, sagte er. »Zweitens: Ihr Lastwagen ist ermittelt und für Sie beim Viehhändler Engelbrecht untergestellt. Sie können ihn da jederzeit übernehmen, Unkosten sind durch die Aufbewahrung nicht entstanden. Drittens: alle Kosten für Sie sind bezahlt, und Sie haben auch Geld für einen Anfang hier in Berlin bekommen, nicht wahr?«
»Jawoll, Herr Wachtmeister!« sagte Karl Siebrecht und grinste.
Einen Augenblick lächelte auch der ehemalige Dumala, sagte aber gleich wieder ernst: »Weitere Forderungen haben Sie nicht. Sie haben überhaupt nie irgendwelche Forderungen gehabt, nie für irgend jemand etwas getan, erinnern sich an nichts mehr, was mit dem Unfall zusammenhängt, verstanden?«
»Zu Befehl!« antwortete Karl Siebrecht, lächelte aber diesmal nicht.
»Viertens und letztens: Ihre Frau ist benachrichtigt worden, daß Sie einen Unfall hatten. Mir ist berichtet, daß sie diese Nachricht sehr ungläubig aufgenommen hat. In diesem Unglauben ist sie noch dadurch bestärkt worden, daß ihr auf Wunsch des Arztes keine Adresse mitgeteilt werden konnte. Soviel ich weiß, läuft ein Scheidungsbegehren wegen böswilligen Verlassens.« Er sah den jungen Mann noch einmal mit zusammengekniffenen Augen an, dann stand er mit einem Ruck auf: »Sonst noch Fragen?«
»Nur die eine: warum Sie so komisch sind, Dumala? Denn Sie sind verdammt komisch! So heiß kann die Suppe doch nach einem halben Jahr nicht mehr sein!«
»Ich sagte schon, daß ich Bomeyer heiße«, wurde ihm geantwortet. »Ich bin Kriminalassistent beim Polizeipräsidium und habe rein dienstlich mit Ihnen geredet.« Er sah rasch auf die Uhr im Wartesaal. »Es ist jetzt neun Uhr fünfundzwanzig – um neun Uhr dreißig ist mein Dienst zu Ende, vor dem Bahnhof.« Damit nickte ihm der Kriminalassistent Bomeyer steif zu und schritt fremd aus dem Wartesaal. Er steckte aber fünf Minuten später nichtsdestoweniger seinen Arm in alter Vertraulichkeit unter den des ehemaligen Kameraden und sagte ganz als der alte Dumala: »Ja, mein Sohn, das hilft nun alles nichts mehr: ich bin auch untergekrochen. Im Augenblick ist wirklich nichts mehr zu machen. Das damals war unsere letzte Aktion, und ich habe mir Vorwürfe genug gemacht, daß ich dich so halb und halb dazu gezwungen habe. Ich habe erst wieder richtig schlafen können, als ich hörte, du warst über den Berg.« Und er drückte den Arm des anderen mit einer Herzlichkeit, die ganz unerwartet kam.
»Aber warum sind Sie denn so verdammt förmlich mit mir gewesen, Dumala? Das ist bei uns unter vier Augen doch nicht nötig!«
»Man weiß nie, ob man wirklich unter vier Augen ist! Leider bin ich kein ganz unbekannter Mann, gerade unsere letzte Aktion hat viel Stunk gemacht ... Eins tut mir nur leid, mein Sohn Karl, daß wir nämlich die Sache mit deiner Frau nicht wieder in Ordnung gekriegt haben. Sie glaubt steif und fest, du bist feige vor ihr ausgerissen –«
»Das bin ich vielleicht auch. Hätte ich nicht an jenem Abend eine Aussprache mit ihr vor mir gehabt, wäre ich vielleicht gar nicht mitgefahren. Sie haben keine Schuld, Dumala, ich hatte die Karre schon längst verfahren.«
Eine Weile gingen die beiden schweigend nebeneinander her, dann sagte Dumala: »Komm, Sohn Karl, ich bringe dich jetzt zurück bis vor ihre Tür, geh gleich hin und sprich mit ihr. Sie hat lange genug auf dich gewartet.«
»Jetzt? Abends um elf Uhr?«
»Natürlich, jetzt. Jetzt sofort. Zu solchen Gesprächen taugt die Nacht immer am besten!«
»Aber ich kann ihr nur sagen, daß ich mit ihrem Scheidungsbegehren einverstanden bin.«
»So sage es ihr. Aber sage es ihr selbst! Ich habe dich damals von ihr fortgeholt, so will ich dich auch zu ihr zurückbringen.« Damit hatte sich Dumala schon in Marsch gesetzt, und ohne ein weiteres Wort gingen die beiden zurück in die Eichendorffstraße. »So, mein Sohn«, sagte Dumala hier und löste seinen Arm aus dem des jungen Freundes. »Da wären wir also. Wenn ich mich nicht irre, ist es das dritte Haus, von hier gerechnet. In dem einen Fenster scheint noch Licht zu sein. Laß es dir gutgehen, mein Lieber, für die nächsten Jahre kennen wir uns nun nicht mehr. Gute Nacht!« Er tippte gegen den Rand seines weichen Filzhutes, der so gar nicht zu seinem dicken Kopf paßte, und ging eilig, ohne sich noch einmal umzusehen, völlig sicher, daß sein Befehl auch ausgeführt wurde.