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Eine halbe Stunde später steht Karl Siebrecht in einem großen Automobilgeschäft Unter den Linden. Wenn es ihm nicht so auf den Nägeln brennte, würde er sich nie ohne alle Vorbereitungen in dieses pompöse Geschäft getraut haben. Aber Herr Kunze hatte ihm gesagt, in drei Tagen müsse das Chaos in Ordnung sein.
Es ist etwas Phantastisches, Unmögliches, Lachhaftes, was er sich vorgenommen hat: er, der keine fünfhundert Mark mehr besitzt (und die Gehälter für die Palude und Egon sind noch nicht bezahlt), will fünf Automobile kaufen oder leihen, und die Fahrer dazu!
Vergeblich versucht der Prokurist, in dessen Händen Karl Siebrecht schließlich gelandet ist, zu erkunden, was dieser junge Mensch eigentlich will. Er weigert sich, seine Wünsche zu äußern. Er will nur mit dem Chef selbst reden ... »Aber ich sage Ihnen doch, der Chef kommt höchst selten ins Geschäft, noch nicht zweimal in der Woche!« versichert der backenbärtige Prokurist nun schon zum drittenmal. »Und um den Verkauf kümmert sich der Chef selbst gar nicht. Sie können mir ruhig alles sagen. Wenn ich mich nicht irre, möchten Sie ein Automobil auf Abzahlung kaufen? Nun, darüber können wir ja verhandeln – wenn Sie uns Referenzen beibringen können ...«
Dieser Nachsatz befestigt Karl Siebrechts Haltung. »Nein«, sagte er entschlossen. »Ich muß mit Ihrem Chef selbst reden. Wollen Sie mir nicht seine Privatwohnung sagen, wenn er nicht hier ist?«
»Das ist leider nicht möglich.. Herr Gollmer wünscht in seiner Villa mit nichts Geschäftlichem gestört zu werden. Wenn Sie sich nicht entschließen können, mir zu sagen, was Sie auf dem Herzen haben –« Der Prokurist machte eine bedauernde Handbewegung.
»Nein, danke. Ich muß mit Ihrem Chef selbst reden.«
»Dann bedaure ich außerordentlich ...«
Karl Siebrecht stand wieder auf der Straße. Im Mittagslicht dieses Maitages sahen die gewaltigen Linden schon herrlich grün aus. Aber eine Ecke weiter war noch ein anderes Automobilgeschäft, er erinnerte sich gut, eine amerikanische Firma. Ob er es dort einmal versuchte? Mit der Engländerin hatte er alles in allem keine schlechten Erfahrungen gemacht. Aber er hatte sich nun einmal gerade diesen Laden in den Kopf gesetzt. Schon ganz im Anfang, als ihm zuerst in der Autodroschke der Gedanke an Autos gekommen war, war gerade dieser Laden schattenhaft vor ihm aufgetaucht. Sein Blick fiel auf ein kleines Firmenschild an der Tür. Es war klein, nicht breiter als ein Lineal und nicht länger als eine Hand, »Inhaber Ernst Gollmer« stand darauf. Ernst Gollmer – unbekannten Wohnortes. Ernst Gollmer – Schlüssel zum Autoparadies, aber nicht auffindbar. Ernst Gollmer – nur einmal die Woche ortsanwesend. Ernst Gollmer – nicht mit dem Verkauf zu belästigen ... Aber, wenn man auch die Adresse von diesem Herrn Gollmer verweigerte, sollte es denkbar sein, daß dieser Inhaber der größten Automobilvertretung Berlins in seiner Villa ohne Telefon war? Es war undenkbar! Und alle Telefoninhaber standen in einem Verzeichnis! Karl Siebrecht sah sich um. Schräg gegenüber lag das Café Bauer, auch eine Stätte, die er noch nie betreten hatte! Jetzt betrat er sie – voller Entschluß!
Er fand das Telefonbuch auf einem Tischchen. Er blätterte und sah sofort, was der backenbärtige Prokurist durchaus nicht hatte erzählen wollen: »Gollmer, Ernst, Kaufmann. Grunewald, Königsallee 27.« Grunewald – das war beinahe eine Landpartie, er kam heute noch ins Grüne, er würde noch mehr Laub sehen als das der alten Linden!
Karl Siebrecht fuhr mit der Elektrischen und dann fuhr er mit einem Pferdeomnibus, der ihn am Hause seines Freundes, des fernen Herrn von Senden, vorüberführte. Er sah hoch: all die grünen Jalousien waren herabgelassen, er winkte ihnen fast übermütig zu. Herr von Senden, der gerne geholfen hätte, weilte unerreichbar fern in Vorpommern, Herr Ernst Gollmer, der vermutlich gar nicht gerne half, wohnte erreichbar in Grunewald, und das war besser! Wieder eine Elektrische – und dann zum Schluß noch ein zweiter Pferdeomnibus, dessen Pferdchen in der Maiensonne immer langsamer der Endhaltestelle am Ringbahnhof Halensee entgegenzuckelten. Der runde Lackhut des Omnibuskutschers warf wahre Blitze in dieser Sonne, und ganz behaglich schlenderte Karl Siebrecht, die Hände auf dem Rücken, nun über die große Eisenbahnbrücke, blieb auch einen Augenblick stehen und sah zu den Geleisen hinab, auf denen ein Güterzug rangierte. Mit ein paar jauchzenden, kreischenden Kindern hüllte ihn der Dampf der Lokomotive plötzlich in eine weiße Wolke – der Dampf verging, und alles war wieder Sonne, Mai und blauer Himmel!
Königsallee 27 – die Tür zum schmalen Vorgarten der großen roten Villa stand offen. Er ging hindurch, stieg ein paar Stufen hinauf und drückte – nun doch mit arg klopfendem Herzen – auf einen Klingelknopf. Er hörte die Klingel schnarren. Vorsorglich nahm er schon jetzt den Hut ab, um es nachher bloß nicht zu vergessen.
Die Klingel hatte geschnarrt, aber nichts erfolgte. Eine ganze Weile wartete er geduldig, dann faßte er zum zweitenmal Mut und drückte wieder auf den Knopf. Wieder schnarrte die Klingel gehorsam, und wieder hörte niemand auf ihren Ruf. Er sah sich argwöhnisch um. Diesem Herrn Gollmer, der sich in seinem eigenen prunkvollen Geschäft verleugnen ließ, war allerlei zuzutrauen: vielleicht gab es hier geheime Beobachtungsfenster, durch die unerwünschte Besucher sofort erkannt wurden. Aber die Villa sah aus wie jede Villa eines reichen Mannes, von irgendwelchen Heimlichkeiten war nichts zu entdecken. Zum drittenmal legte Karl Siebrecht den Finger auf den Klingelknopf, und diesmal ließ er ihn gleich darauf. Wenn man einmal zu etwas entschlossen ist, soll man nicht nachgeben. Hier an der Pforte des Paradieses kehrte er nicht wieder um! Die Klingel schnarrte, schnarrte, schnarrte – endlos.
Plötzlich ging die Tür auf, und eine zornige Mädchenstimme schalt: »Was fällt Ihnen denn ein?! Was soll denn diese Klingelei?! Denken Sie, ich sitze auf meinen Ohren –?« Und in höchstem Erstaunen: »Du lieber Gott! Nein, wie ist denn so was bloß möglich?! Der Handtaschentreter!« Das Erkennen war gegenseitig gewesen, sie starrten sich beide in größter Verblüffung an, das Mädchen aus dem Tiergarten mit den Korkzieherlocken und der junge Mann, der auf ihrer Handtasche herumgetrampelt hatte.
»Das Fräulein mit dem Bruder!« sagte er verblüfft und ließ seinen Hut fallen.
»Da!« rief sie, »da haben Sie schon wieder was hingeschmissen! Nun trampeln Sie bitte auch darauf herum. Sie können ruhig einmal auf Ihren eigenen Sachen herumtrampeln!« Sie besann sich. »Wie haben Sie das denn rausgekriegt, daß ich hier wohne? Das ist doch, gelinde gesagt, eine Unverschämtheit, mir so nachzuspionieren!« Sie warf vor Entrüstung die Locken zurück, und sofort fielen sie wieder nach vorn, stießen leicht pendelnd gegen die Wange. Heute trug sie keinen Hut, dafür hatte sie eine große bunte Schürze um – er hielt sie für eines der Mädchen hier in der Villa.
»Eigentlich wollte ich Herrn Gollmer besuchen«, erklärte er und bückte sich nach seinem Hut. Er zögerte, dann überwand er sich und trampelte auf den Hut. »Ich hoffe, Sie sind jetzt zufrieden mit mir, Fräulein?«
»Was sind Sie bloß für ein Mensch!« rief sie. »Auf den schönen Hut zu treten! Geben Sie ihn mir mal her!« Sie nahm ihn aus seinen Händen, bog ihn zurecht und klopfte ihn ab. »Vor Ihnen muß man ja Angst kriegen!«
»Sie haben es doch so gewollt, Fräulein!«
»Wenn Sie alles tun wollen, was ich sage? Da haben Sie ihn – es ist ihm noch besser gegangen als meinem armen Bild!«
»Ihrem Herrn Bruder geht es gut, Fräulein?«
Sie sah ihn empört an, dann warf sie einen raschen Blick in die große Halle. »Schämen Sie sich!« sagte sie und wurde rot. »Ich hoffe, Sie erzählen Herrn Gollmer nichts von meinem – Bruder. Was wollen Sie überhaupt von Herrn Gollmer?«
»Ich möchte – ich will – ich habe etwas Geschäftliches mit ihm zu besprechen!«
»Und da kommen Sie hierher?! Hier redet Vater nie über Geschäfte! Das ist ganz nutzlos, er hört Sie gar nicht erst an, er schmeißt Sie auf der Stelle raus!« Sie sah ihn strafend an.
Ihr Vater ... Der große Automobilkaufmann Gollmer war ihr Vater! Wenn das kein Wink des Himmels war! »Fräulein«, bat er, »Fräulein, machen Sie es möglich, daß Ihr Vater mich anhört. Tun Sie es mir zuliebe! Es hängt für mich so viel davon ab, einfach alles! Wenn er mich nur anhört, alles andere ist meine Sache! Aber das müssen Sie möglich machen, bitte, bitte!«
Wenn Karl Siebrecht einen Augenblick über sich nachgedacht hätte, wäre es ihm doch aufgefallen, wie leicht ihm bei diesem Mädchen das Bitten fiel, ihm, der sonst nie bitten konnte. Aber er hatte jetzt nicht die geringste Zeit, über sich nachzudenken. Daß er sie hier getroffen hatte, daß sie hier vor ihm stand – und so gut anzusehen, ach, so gut anzusehen! Und daß er etwas mit ihr zu reden hatte, schon das zweite Mal, als er sie sah, hatte er ein Geheimnis mit ihr. Schon darum mußte es mit diesem Kaufmann Gollmer etwas werden, um sie öfter sehen zu können! Bitte, bitte! hatte er gesagt.
»Sie sind aber wirklich komisch!« sagte sie. »Erst schütten Sie mir meine Handtasche aus und trampeln darauf herum, dann zerreißen Sie mir meine Bilder, dann klingeln Sie Sturm wie ein Einbrecher –«
»Einbrecher klingeln doch nicht, Fräulein!«
»Dann haben Sie wie ein Räuber geklingelt!«
»Räuber klingeln auch nicht!«
»Natürlich, Sie müssen immer recht haben! Und da verlangen Sie noch, daß ich mich mit Ihnen gegen Vater verbünde – komisch finde ich das!«
»Ich verlange es doch nicht, ich bitte Sie darum.« Und er sah sie wirklich sehr bittend an.
»Vater ist heute sehr schlechter Laune«, meinte sie, ein wenig milder. »Seit zwei Stunden wartet er schon auf den Gärtner. Verstehen Sie was von Gärtnerei?«
»Kohl und Mohrrüben kann ich unterscheiden.«
»Also versuchen Sie es«, sagte sie entschlossen. »Aber ich habe mit der Sache nichts zu tun. Gehen Sie hier links um das Haus herum, Vater ist hinten im Garten. Tun Sie, als wenn Sie von der Gärtnerei geschickt wären – und dann? Das ist Ihre Sache! Weiß der Himmel, was daraus wird!« Sie betrachtete ihn kritisch. »Hoffentlich sind Sie im Umgang mit alten Herren geschickter als mit jungen Damen!«
»Also, ich will es versuchen! Ich danke Ihnen!« sagte er mit einem Seufzer. »Würden Sie so nett sein, unterdes für mich den Daumen zu halten? Es kommt wirklich für mich enorm viel darauf an!«
»Haben Sie eine Ahnung, was ich noch alles zu tun habe! In einer halben Stunde essen wir, und das Mädchen ist krank geworden! Ich habe keine Zeit für Daumenhalten!« Ganz überraschend schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu, und mit einem Seufzer ging er um das Haus herum. Aus dem Schatten kam er in die Sonne, und doch war ihm so, als sei es jetzt nicht mehr so hell wie neben der Tür. Dann erblickte er Herrn Gollmer auf dem Rasenplatz.
Herr Gollmer war ein großer, ziemlich fetter Mann, der im Augenblick nur mit einem bunten Hemd und einer grauen Flanellhose bekleidet war. Er hatte einen sehr großen, völlig eiförmigen Schädel, der so blank war wie eine Billardkugel – man mußte lachen, daß dieser haarlose Mann der Vater einer so lockigen Tochter war. Herr Gollmer war damit beschäftigt, aus einem jungen türkisgrünen Rasen Gänseblümchen und Butterblumen auszureißen, eine Beschäftigung, die seiner Stimmung nicht gut bekam. »Da!« sagte er zornig. »Das nennen Sie also einen echt englischen Rasen, und dann säen Sie mir solch Dreckzeug rein!« Er betrachtete unwillig die gelbe freundliche Butterblume, die er in der Hand hielt. »Zum Unkrautzüchten brauche ich keinen Gärtner, das schaffe ich allein.«
In Karl Siebrecht tauchten Erinnerungen an den väterlichen Garten auf – wie oft hatte er dort mit der alten Minna Unkraut gejätet, Obstbäume zurückgeschnitten, sogar an das Rosenokulieren hatten sie sich gewagt. »Vom Abreißen gehen die Kuhblumen nicht weg, Herr Gollmer«, sagte er. »Die müssen ausgestochen werden. Es gibt Distelstecher, die kann man sehr gut dafür gebrauchen. Man braucht sich nicht einmal zu bücken dabei.«
»So!« grollte Herr Gollmer. »Dann bringen Sie mir das nächste Mal so einen Distelstecher mit! Aber vergessen Sie ihn nicht wieder, wie ihr alles vergeßt!« Er musterte den jungen Menschen mit Mißbilligung. »Wieder ein neues Gesicht. Nie kommt derselbe Mensch in meinen Garten. Nie weiß einer Bescheid. Was ist nun also mit meinen Blattläusen –?«
»Wenn ich sie einmal sehen dürfte?« fragte Karl Siebrecht vorsichtig.
»Sehen –?! Sie müßten die Aasbande schon riechen von hier! – Kommen Sie mit!« Der Automobilkaufmann führte seinen Gärtner ans Haus. Dort standen an langen Spalieren Pfirsiche, Aprikosen und Kirschen. Sie hatten schon ausgeblüht, deutlich sah man die grünen verdickten Fruchtknoten, aber – »Aber ist das nicht ein Jammer?« rief Herr Gollmer. »Sie haben in diesem Jahr so schön geblüht wie noch nie, kein bißchen Frost ist in die Blüte gekommen, und nun sehen Sie sich das an – sehen Sie sich das an!« wiederholte er mit gesteigerter Stimme. »Ich habe mit dem Dreckzeug gespritzt, das mir Ihr Meister gegeben hat, aber das ist ja, als wenn es Zucker für das Viehzeug wäre! Die leben und vermehren sich immer doller! Es ist rein ekelhaft! Und er schaute mit tiefer Abneigung auf das grünlich-schwärzlich klebrige Gewimmel, das an jeder Astspitze, an jedem Fruchtknoten, an jedem Blatt schmarotzte.
Und wieder half Karl Siebrecht seine Erinnerung. »Mit Spritzen allein ist es nicht getan, Herr Gollmer«, sagte er.
»So!« rief der kampfeslustig. »Das sagen Sie mir nun, wo ich gespritzt habe wie die Feuerwehr? Ich habe nach Teer gestunken wie ein altes Bootshaus, meine Tochter hat mich aus der Wohnung gejagt –«
»Sehen Sie hier die Ameisen?« rief Siebrecht eifrig. »Sehen Sie, wie die hier an den Kirschbaum hochwandern? Schauen Sie mal genau hin: hier bitte, die da und die und die – die tragen alle Blattläuse. Die Ameisen bringen die Läuse auf die Kirschen ...«
»Wahrhaftig, Sie haben recht – da turnt wieder so ein Aas! Aber wozu tun sie das? Bloß um mich zu ärgern?«
»Da, sehen Sie jetzt die Spitzen an, da sitzen die Blattläuse und saugen den Saft aus den Zweigen, und wieder sind die Ameisen bei ihnen. Aber diesmal tragen sie die Läuse nicht fort, sondern sie streicheln sie, sie melken sie. Der Saft der Läuse ist für sie, was der Honig für die Bienen ist. Darum tragen die Ameisen die Läuse in die Kirschen, damit die ihre Weide finden und damit die Ameisen dann den süßen Saft melken können.«
»Die Ameisen melken die Läuse. Sieh da, Sie sind kein dummer junger Mann«, sagte Herr Gollmer nachdenklich. »Sie sind der verständigste Gärtner, den mir Ihr Meister bisher geschickt hat.« Er betrachtete den jungen Mann nicht ohne Wohlwollen. Karl Siebrecht erwog, ob jetzt nicht der richtige Zeitpunkt zum Sprechen gekommen wäre, aber es war noch zu früh. Die wohlwollende Stimmung mußte sich erst festigen. Unwillkürlich warf er einen Blick hinauf zu den Fenstern der Villa. Und als sei es von diesem Blick herbeigezogen worden, erschien das junge Mädchen in einem dieser Fenster. Es hatte die Hände erhoben und zeigte, daß es beide Daumen mit Intensität drückte. Dabei nickte es so nachdrücklich mit dem Kopf, daß die langen Locken wehten. Und wie ein Spuk war das Mädchen wieder verschwunden. All dies war so schnell gegangen, daß Herr Gollmer nur hatte fragen können: »Und was mache ich nun? Nun habe ich zu den Blattläusen auch noch die Ameisen! Hoffentlich haben Sie nicht alle sieben ägyptischen Plagen für mich in Vorbereitung.«
»Wenn Sie spritzen, Herr Gollmer«, sagte Karl Siebrecht geläufig, »zerstören Sie wohl die Blattläuse. Aber ein Teil entgeht Ihnen immer. Und von diesen tragen die Ameisen sich neue Kühe auf die eben befreiten Zweige, also müssen Sie zuerst die Ameisen vernichten, Ameisen gehören überhaupt nicht in einen ordentlichen Garten.« – Herr Gollmer betrachtete ihn düster. – »Das ist ganz einfach, Sie gießen jeden Ameisenbau mit heißem Wasser aus. Dann hindern Sie die Ameisen, an den Obstbäumen hochzugehen, das ist schon schwieriger, denn jeder Stamm, jede Stelle, wo die Spaliere in der Erde enden, muß gut mit Raupenleim bestrichen werden.« – Herrn Gollmers Miene wurde immer düsterer. – »Und wenn Sie das alles getan haben, dann spritzen Sie, und in drei oder fünf Tagen haben Sie Ihr Obst blattlausfrei. Natürlich müssen Sie von Zeit zu Zeit den Leimanstrich erneuern, aber das macht nicht viel Mühe.« Karl Siebrecht sah Herrn Gollmer zufrieden mit dem entwickelten Arbeitsplan an.
»Hören Sie mal«, sagte der jetzt düster. »Sie sagen immer ›Sie‹, ›Sie‹. Meinen Sie, ich soll das alles tun? Mit heißem Wasser laufen und Leim aufstreichen?«
»Natürlich! Sonst werden Sie die Biester nie los!«
»Mein lieber Jüngling«, sprach Herr Gollmer mit Nachdruck, »reden können Sie gut, aber dafür bezahle ich Sie nicht, sondern fürs Arbeiten. Sehen Sie da hinten den Schuppen? Da drin ist Raupenleim und die Obstbaumspritze, und heißes Wasser kriegen Sie in der Küche. Und nun machen Sie sich mal fein an Ihre Arbeit. Ich werde unterdes mittagessen, dann wollen wir sehen, was Sie außer Reden leisten.«
»Einen Augenblick, Herr Gollmer!« rief Karl Siebrecht entsetzt. Er wußte, es war ein ganz falscher Augenblick, aber er konnte doch nicht hier, da die Entscheidung drängte, stundenlang Blattläuse vertilgen. »Ich bin nämlich gar kein richtiger Gärtner, ich bin ...«
»Daß Sie kein richtiger Gärtner sind, habe ich schon längst gemerkt. Ein Gärtner verrät nämlich nie seine Geheimnisse. Der hätte die Läuse vertilgt und mich an ein Wunder glauben lassen. Sie werden wohl so ein Gelegenheitsarbeiter sein – in alle Berufe reingerochen und keine Lust zu vernünftiger Arbeit! Wir werden es uns ja nachher besehen! Mahlzeit!«
Verzweifelt sah ihm Karl Siebrecht nach. Aber daß dies nun wirklich nicht der richtige Augenblick war, Herrn Gollmer aufzuklären, das begriff auch er – trotz aller Eile, die er hatte. Herr Gollmer hätte ihn für einen Faulenzer erklärt und vor die Tür gesetzt. Seufzend ging Karl in den Gartenschuppen. Er fand dort alles, was er brauchte, er fand sogar ein Paar sehr schmutzige schilfleinene Hosen, aber besser, als seinen guten Anzug einzuschmutzen, war das doch. Er zog sich um und begab sich mit zwei Gießkannen in die Küche.
Hatte er zuerst nur widerwillig gearbeitet, so kam allmählich Tempo in die Sache. Ihm wurde klar, daß er etwas leisten mußte, wenn seine Bitte auch nur die kleinste Aussicht auf Erfolg haben sollte. Er brühte und lief Trab, die Kannen klapperten, manchmal, wenn er stillestehend sich den Schweiß von der Stirn wischte, sah er zu den Fenstern der Villa hoch. Sie lag ruhig und schweigend da, die Fenster standen offen, kein Mensch war zu sehen. Dann, als das heiße Wasser in der Küche erschöpft war, machte er sich an den Raupenleim. Raupenleim ist eine zähe, sehr klebrige Angelegenheit. Er hat eine verhängnisvolle Neigung, überall dort zu haften, wohin er nicht soll, zum Beispiel an Händen und Kleidern. Leise in sich hinein fluchend, aber in immer schnellerem Tempo hantierte Siebrecht mit dem Leim. Er schmierte, er klebte, er verleimte den Ameisen jeden Zugang. Dabei war er sich dessen wohl bewußt, daß inzwischen auf allen Bahnhöfen eine sich ständig vermindernde Zahl von Karrenschiebern einen aussichtslosen Kampf um stets wachsende Gepäckberge führte! In der Eichendorffstraße rasselte das Telefon, es regnete Beschwerden, und die Palude konnte nichts antworten wie: »Der Chef ist seit Stunden verschwunden!«
Ja, er, der Kommandeur dieses kleinen, heldenhaft kämpfenden Heeres, er arbeitete in der schönsten Maiensonne in einem Garten. Statt Franz Wagenseil zu überlisten, führte er Ameisen auf den Leim, statt Gepäck zu befördern, beförderte er Läuse ins Nirwana! Auch mit den vermessensten Anstrengungen ihrer Phantasie würden sie sich den Chef nie in diesem friedlichen Grunewaldgarten denken können – manchmal war es ihm selbst so, als träume er dies alles nur. Genug des Leims, her mit der Obstbaumspritze! Es war eine Karrenspritze, und Herr Gollmer hatte recht, mit seinen Gärtnern zu grollen: sie war nach der letzten Benutzung nicht gereinigt, und der Kolben war natürlich festgerostet. Oder Herr Gollmer war selbst daran schuld, er würde ihm das schon versetzen; dieser Mann, der hier einfach Sklaven preßte, verdiente keine Schonung. Dann hatte er die Spritze wieder in Gang. Die Lösung fuhr mit einem leichten Sausen aus der Messingdüse, breitete sich fächerförmig aus, glitzerte in der Sonne in allen Regenbogenfarben, und nun fiel sie wie ein dichter Nebel in die Zweige. In die Zweige und auf die Läuse – er lächelte grimmig: von diesem Schreckenstag würden die ältesten Läuse noch ihren Urenkeln berichten, in Läusezeitaltern! Nur wenige entrannen der Vernichtung.
»Das können Sie aber prima!« sagte eine anerkennende Stimme hinter ihm.
Er fuhr überrascht herum und hätte jetzt fast die junge Dame mit Nikotinbrühe besprengt. »Sind Sie jetzt endlich fertig mit dem Essen?« fragte er vorwurfsvoll.
»Längst! Vater hat sich noch zu einem Nickerchen hingelegt. Er läßt Ihnen sagen, wenn Sie hiermit fertig sind, sollen Sie Butterblumen aus dem Rasen stechen!«
»Und das haben Sie mir eingebrockt!« Er hatte den Spritzenhahn abgedreht und betrachtete sie vorwurfsvoll. »Wie lange will Ihr Vater denn noch schlafen?«
»Das kann man nicht so genau sagen, manchmal schläft er bis fünf, halb sechs.«
»O Gott!«
»Aber Sie haben ja Ihre Beschäftigung. Wollen Sie nicht ganz als Gärtner bei uns eintreten? Ich finde, diese Tracht kleidet Sie ausgezeichnet.«
Er war für ihren Spott unempfänglich. »Liebes Fräulein Gollmer!« bat er flehend. »Sie haben mir schon so wunderbar geholfen, Sie haben mir auch beide Daumen gedrückt –«
»Ich –? Wie komme ich dazu!«
»Vorhin am Fenster! Aber wahrscheinlich habe ich es nur geträumt. Es ist mir überhaupt alles hier wie ein Traum: der Garten, Sie, alles ...«
»Vergessen Sie die Blattläuse nicht in Ihrem Traum! Vater sagt, Sie sind Spezialist in Blattläusen, Sie werden direkt leidenschaftlich, wenn Sie von Läusen reden.«
»Ach, Fräulein Gollmer, warum ziehen Sie mich immerzu auf? Es hängt soviel für mich an dieser Unterredung mit Ihrem Vater, vielleicht alles. Und nicht nur für mich, für ein halbes Dutzend Leute, die zu mir gehören! Und Sie machen mich zu einem Narren!«
»Was soll ich denn tun?« fragte sie, ein wenig betroffen und eingeschüchtert.
»Wecken Sie ihn auf! Ich muß ihn jetzt sprechen! Es kommt nun schon auf jede Minute an! Vielleicht ist es schon zu spät! Und ich stehe hier rum und beschäftige mich mit Läusen!«
»Sie beschäftigen sich mit mir!« sagte sie streng. Und dann fragte sie argwöhnisch, ganz die Tochter des reichen Mannes: »Sie wollen Vater wohl anpumpen?«
»Nein, ich will ihn nicht anpumpen, wenigstens nicht um Geld! Er soll mir helfen – und nicht einmal das! Ich will ein Geschäft mit ihm machen. Liebes Fräulein Gollmer, bitte, gehen Sie und wecken ihn. Sie können ja alles nachher mit anhören, aber jetzt brennt es!« Er redete immer überstürzter: »Nein, seien Sie lieber nicht dabei, wenn ich Ihrem Vater alles erzähle – wenn Sie dabei sind, kann ich nicht ordentlich reden.«
»Nanu!« rief sie erstaunt. »Ich finde, Sie können gewaltig reden, wenn ich da bin! Sie lassen mich überhaupt nicht zu Wort kommen! Ich –«
»Zum Donnerwetter noch einmal!« schrie eine gewaltige Stimme aus der Villa. »Willst du mal meine Leute nicht von der Arbeit abhalten, Ilse? Und Sie, Jüngling, beeilen Sie sich ein wenig, für Unterhaltungen bezahle ich Sie nicht! Den Kaffee, Ilse, und ein bißchen dalli!«
»Vater –« flüsterte sie. »Und schon wach ... Dann ist er immer schlechter Laune ...« Sie eilte davon, und Karl Siebrecht drehte, ergeben und knirschend, wieder den Hahn auf. Wieder breitete sich vielfältig bunt der Wasserstrahl aus, wurde zum Fächer, verwandelte sich in Nebel ...
»So«, sagte der Gartenbesitzer. »Das genügt für heute. Haben Sie den Kolben doch wieder losgekriegt? Er war mir eingerostet. Spülen Sie die Spritze gut nach, und machen Sie sich wieder menschlich. Sie können sich in der Küche waschen.« Damit drehte sich Herr Gollmer um und war schon wieder fort. Er hatte die Routine aller reichen Leute, den anderen das Wort im Munde abzuschneiden.
Die Spritze war ausgewaschen und Karl Siebrecht gereinigt und sonntäglich. Vom Küchenausgang her sah er in den Garten. In einer Laube klapperten Löffel, er warf den Kopf zurück, legte die Hände auf den Rücken und marschierte entschlossen, quer über den Rasen fort, direkt auf die Laube zu, unter Nichtachtung aller Wege. In der Laube saßen, wie erwartet, Herr Gollmer und Tochter beim Kaffeetrinken. »Wenn ich mich jetzt vorstellen darf«, sagte er, und seine Stimme zitterte ein wenig trotz all seiner Entschlossenheit. »Mein Name ist Karl Siebrecht. Ich bin Mitinhaber der Firma Siebrecht & Flau. Wir befassen uns mit der Gepäckbeförderung von und zu den Berliner Bahnhöfen!«
»Hochinteressant!« sagte Herr Gollmer und rührte, ohne aufzusehen, in seiner Kaffeetasse. »Ilse, gib dem jungen Mann einen Stuhl und eine Tasse Kaffee. Da Sie bei der Vertilgung meiner Blattläuse tüchtig waren, will ich Sie fünf Minuten anhören. Gelingt es Ihnen, mich in fünf Minuten zu interessieren, so reden wir weiter. Wenn nicht, gehen Sie.« Herr Gollmer machte die Uhr von der Kette los, ließ den Deckel aufspringen und legte sie vor sich hin. »Um vier Uhr drei ist Schluß!« sagte er drohend.
Karl Siebrecht lehnte sich zurück. Nur nicht so schnell! dachte er. Fünf Minuten sind eine lange Zeit, in fünf Minuten kann man schrecklich viel reden. Ich darf nicht gleich von dem Geschäftlichen anfangen, ich soll ihn interessieren, von Geschäften hört ein solcher Mann genug ... Und er fing an, vom Tode des Vaters zu erzählen, wie er nach Berlin kam, wie er Rieke kennenlernte ... Er erzählte von den Trockenmietern, von Herrn Kalubrigkeit, von Herrn von Senden ...
Vater und Tochter sahen sich an, als ob auch sie den Herrn von Senden kennten. Aber sie stellten keine Fragen, sie ließen ihn erzählen.
Er erzählte, wie er Kalli Flau traf, berichtete von Felten, Hagedorn und der Engländerin. Die Äpfelkähne wurden nicht vergessen, und nun waren sie schon bei den Bahnhöfen, der Opa Küraß tauchte auf, danach Kiesow, Kupinski, Franz Wagenseil – und der Kampf begann. Und während er dies alles erzählte, war es Karl Siebrecht, als erzähle er die Geschichte eines anderen. Es schien ihm nicht sein eigenes Leben, jetzt, da er es erzählte, wirkte es so bunt, aus vielen einzelnen Steinen zusammengesetzt, und doch schien alles nur auf ein Ziel gerichtet ...
»Vier Uhr drei«, sagte Herr Gollmer. Er knipste die Uhr zu und steckte sie in die Tasche. Einen Augenblick saßen sie starr, der junge Mann und das junge Mädchen, sie sahen den älteren Mann erschrocken an. »Erzählen Sie doch weiter, Herr Siebrecht«, sagte der. »Ich habe Zeit! Noch eine Tasse Kaffee, bitte, Ilse!«
Eine Welle heißer Freude erfüllte den jungen Mann, einen Augenblick konnte er nicht sprechen. Er hob die Hand, er stotterte: »Ich ... Ich ... Sie ...«
Der Automobilkaufmann tat, als habe er nichts gemerkt. »Lassen Sie sich nur Zeit«, sagte er. »Der Nachmittag ist noch lang ...« Und fünf Minuten später: »So, das wissen wir nun. Sozusagen die menschliche Seite der Angelegenheit. Nun kommt die geschäftliche. Jetzt will ich Zahlen hören. Ilse, bring mir bitte Papier und Bleistift.«
Und nun stellte Herr Gollmer viele Fragen: Wie oft fuhren die Wagen im Durchschnitt? Wie stark waren sie beladen? Wieviel Stück Gepäck? Gewicht? Zahl der Koffer? Verrechnung? Löhne? Länge der täglich zurückgelegten Strecke in Kilometern. »Das ist nichts«, sagte Herr Gollmer am Schluß. »Sie arbeiten ins Blaue. Sie kennen ja nicht einmal Ihre Unkosten! Was Ihnen fehlt, ist eine ordentliche Buchführung! Bilanz, mein Sohn, Bilanz! Nun, das werden Sie alles noch lernen, ich schicke Ihnen einen tüchtigen Buchhalter, der Ihnen das erst einmal einrichtet. Ihre Lastautos sollen Sie haben, morgen früh um neun stehen sie bereit. Am schlimmsten ist es mit den Chauffeuren, aber eine Weile helfe ich Ihnen aus. Lassen Sie bald die tüchtigsten von Ihren Leuten die Fahrerprüfung machen. Sie natürlich auch, Ihr Teilhaber auch! Ilse, bestell den Wagen, wir fahren sofort in die Stadt.« Und mit einem Seufzer: »Ich habe es doch gleich gewußt, daß mich die Blattläuse teuer zu stehen kommen würden!« Herr Gollmer sah den jungen Menschen fast barsch an, dann kniff er die Augen zusammen und fragte: »Warum haben Sie eigentlich nicht Herrn von Senden angepumpt? Das wäre doch viel einfacher gewesen!«
»Kennen Sie Herrn von Senden?« fragte Karl Siebrecht zögernd.
»Doch. Ein wenig.«
»Ja, wenn Sie ihn kennen ... Hätte Herr von Senden mir das Geld geliehen, wäre es ihm egal gewesen, ob ich etwas damit leistete oder nicht. Er hätte es mir aus Freundschaft gegeben. Aber bei Ihnen, Herr Gollmer –«
»Richtig!« sagte der dicke Mann kopfnickend. »Ganz richtig. Hätte ich auch nicht anders gemacht. Man soll sich möglichst wenig schenken lassen im Leben – im allgemeinen werden Geschenke zu teuer für den Beschenkten.« Und zu der Tochter: »Nun, Ilse, im Mantel? Willst du etwa mit uns fahren?«
»Ich möchte ein paar Besorgungen in der Stadt machen.«
»Ach nee! Und du hast gar keine Angst, daß dieser junge Mann wieder auf deiner Handtasche herumtrampeln könnte?«
»Nein«, sagte sie leise. Und sah ihn nicht an, der sie so sehr ansah. Sie hatte also mit ihrem Vater schon vorher von ihm gesprochen, sie hatte sich für ihn eingesetzt! Freilich, von dem zerrissenen Bild würde sie kein Wort gesagt haben ...