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120. Man kehrt heim

Die Gartenpforte knarrte, leise knirschte der Kies unter seinen Füßen, als er den Weg um das Haus herumging, diesen Weg, den er in Tagen der Verlassenheit so oft gegangen war. Damals hatte er nie jemanden in diesem Garten getroffen, diesmal wurde er erwartet. Er ging schräg über den Rasen, in der Laube stand Ilse Gollmer auf. »Es ist spät geworden, Karl.«

»Ja, es ist spät geworden, Ilse.«

Sie sahen im Dämmern der Nacht einander in die Gesichter, im Dämmern versuchten sie zu erraten, was der andere fühlte, aber sie sahen nur Dämmern. Lange waren sie still. Dann sagte Ilse: »Ich fühle es schon, du kommst, um Abschied zu nehmen.« – Er schwieg. – Sie fragte leise: »Ist es der gestrige Abend?«

»Nein, es ist der gestrige Abend nicht.«

»Es gibt solche Abende«, sagte sie, »an denen ist man wie wahnsinnig. Ich verstehe nichts von dem mehr, was wir gesagt und getan haben. Verstehst du noch etwas davon?«

»Nein«, antwortete er. »Wir wollen den gestrigen Abend ausstreichen. Er ist nie gewesen, Ilse.«

»Nie!« antwortete sie. Aber rascher fuhr sie fort: »Soll denn nun wegen des gestrigen Abends alles zwischen uns entzwei sein, was so lange schweigend bestand? Du mußt es doch auch gefühlt haben, daß ich dich schon lange liebte, Karl.«

»Ich bin zu dir gekommen, um Abschied zu nehmen, Ilse!«

»Nein, du wirst nicht Abschied nehmen! Wir wissen es, daß wir immer aneinander gedacht haben. Wir kommen nicht aneinander vorbei. Ich lasse dich nicht wieder gehen, du kehrst nicht zu ihr zurück! Ich habe es ihr gesagt, heute abend habe ich es ihr gesagt. Ich wollte dich sprechen, aber plötzlich war sie da, und ich sagte es ihr!«

»Was hast du Hertha gesagt?«

»Daß wir uns lieben. Daß sie dich gehen lassen soll und daß sie dich nicht halten kann. Das habe ich ihr gesagt!«

»Und sie hat mich zu dir geschickt. Sie hat zu mir gesagt: ›Laß Ilse Gollmer nicht länger warten!‹«

»Siehst du? Sie weiß auch, daß sie dich nicht halten kann!«

»Und sie hat noch mehr getan, sie hat mich von allen Verpflichtungen frei gemacht, ich soll frei entscheiden können.«

»Sie hat dich bestochen! Mit Großmut hat sie dich bestochen! Sie will dich gar nicht. Jahre hat sie dich gehabt, und sie hat sich nie um dich gekümmert. Aber jetzt, wo sie sieht, ich will dich, da wacht sie auf. Plötzlich ist sie edelmütig! Geh zu der anderen und entscheide dich frei! sagt sie – als ob du noch frei entscheiden könntest!«

»Nein, ich kann nicht mehr frei entscheiden, da hast du recht, Ilse. Aber nicht wegen ihres Edelmutes, wie du es nennst, sondern weil ich durch Jahre an sie gebunden bin, weil ich einmal um sie gekämpft habe, weil wir viel miteinander erlebt haben, weil wir gelernt haben, einander zu ertragen. Weil sie mir notwendig geworden ist für mein Leben. Weil ich sie liebe.«

»Du liebst sie nicht! Du weißt gar nicht, was Liebe ist.«

»So liebe ich sie denn mit der Liebe, die ich kenne, ich kann sie nicht aufgeben!«

»Auch nicht wegen einer anderen, viel größeren Liebe? Wir würden uns nicht nur lieben, ich würde immer bei dir sein. Ich würde dir helfen können, Karl, du solltest ein frohes Leben kennenlernen, kein Leben mehr in Mißmut!«

»Und doch werde ich in mein mißmutiges Leben zurückkehren müssen, Ilse, einfach, weil ich daran gewöhnt bin. Aber es ist gar nicht mißmutig.«

»Oh, ich weiß!« rief sie zornig. »Sie hat heute abend nicht nur die Edelmütige gespielt, sie hat dich auch bezaubert. Sie hat dir versprochen, daß sie ganz, ganz anders werden wird. Sie hat gelächelt, sie kennt doch deine Schwäche, sie weiß, daß du ein schwaches Herz hast ...«

»Nichts von alledem hat sie getan und gesagt! Sie hat mich nur geheißen, zu dir zu gehen!«

»Aber warum bist du gegangen?! Läufst du denn überallhin, wohin sie dich schickt?! Was willst du denn von mir, wenn du mich nicht willst –?!«

»Ich will von dir Abschied nehmen, Ilse«, sagte er und nahm ihre Hand, »denn auch du warst einmal mein Traum. Lange habe ich an dich gedacht als an das höchste Glück, das dies Leben zu verschenken hat – nun halte ich dich und gehe von dir!«

»Kann es denn gar nicht sein?« fragte sie und weinte jetzt in seinem Arm. »Wenn nicht jetzt, dann später ... Sage doch, daß es später sein kann! Du hast doch auch gesagt, daß du mich liebst!«

»Nein, auch nicht später, nie, Ilse. Dich liebe ich wie einen Traum, der sich nie erfüllt. Hertha wie einen Menschen, zu dem ich gehöre.«

»Ich bin aber kein Traum, auch ich bin ein Mensch!«

»Ich weiß, Ilse, und darum müssen wir uns jetzt trennen. Ich muß mich entscheiden, wem ich weh zu tun habe, und du weißt ...«

»Ja, ich weiß. Ich weiß ... Einfach, weil ich zu spät gekommen bin, weil du jetzt an sie gewöhnt bist!«

»Vielleicht. Vielleicht aber auch, weil ich sie liebe, wie du mich liebst. Lebe wohl, Ilse, ich gehe jetzt.« Er wartete, aber sie antwortete nicht. Im Schatten der Laube, im Dämmern der Nacht weinte sie.

Er ging, erst langsam, zögernd. Aber je weiter er sich von Ilse entfernte, um so schneller ging er, gerade wie sie in der vergangenen Nacht vor ihm geflohen war. Jetzt hätte sie rufen können, ihr Ruf hätte ihn nicht mehr erreicht. Er sah das Haus vor sich, sein Haus, Herthas Haus ... Vielleicht würde sie in der Halle sitzen, auf ihn warten. Vielleicht allein oben in ihrem Zimmer ... Aber sie würde seinen Schritt hören, und sie würde sich sagen: Er ist heimgekehrt. Er ist wieder da ... Ja, es war gut, heimzukehren. Irrtümer, Gefahren, Versuchungen, Zeiten der Schwäche: sie blieben keinem erspart. Aber dann kehrte man heim in sein Haus, in sein Eigenstes, in die Heimat, in das, was man aus sich heraus geschaffen hatte, das zu einem Stück des eigenen Ichs geworden war, mochte es nun ein Haus sein oder eine Frau oder eine ganze Stadt.

Nachspiel
Der Sohn


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