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Zweiter Teil.
Kalli Flau

24. Ein harter Winter

Der Apriltag war klar und sonnenwarm, ein vorweggenommener Maitag. Die Dienstmänner mit ihren roten Mützen, sechs oder sieben an der Zahl, saßen an der Westseite des Stettiner Bahnhofs behaglich im warmen Licht. Einige frühstückten ihre Stullen, andere dösten. Es war eine ruhige Viertelstunde zwischen zwei Zügen. »Da kommt auch der Paule!« sagte einer.

»Und seine Haifische wieder dabei!« meinte ein anderer.

»Sitzt auf seinem Karren und läßt sich ziehen!« kopfschüttelte ein dritter. »Daß die Blauen so was bloß dulden! Er tut ja keinen Handschlag mehr, der Küraß!«

»Laß ihn doch!« besänftigte der vierte. »Paule kommt an die Siebzig!«

»Dann soll er sich zur Ruhe setzen!«

»Und seine Tochter mit ihren drei Bälgern? Wo der Schwiegersohn sitzt, schon all die Jahre! Du lieber Mann, Paule hat fünf Mäuler satt zu machen!«

»Es soll aber nicht sein!« grollte der andere. »Sind die jungen Bengel Dienstmänner? Sie haben keine Lizenz, und sie zahlen keine Steuern! Mögen sie wegbleiben hier von unserem Bahnhof! Es ist gegen das Recht!«

»Du redest, wie du es verstehst! Was heißt schon Recht? Es war ein harter Winter, und ein Junger hat mehr Hunger als ein Alter!«

Unterdes war der Handwagen mit dem alten Küraß herangekommen. Kalli Flau half dem Steifbeinigen herunter, Karl Siebrecht rollte die Karre zu den anderen, so daß sie jetzt als letzte hinter den Karren der anderen Dienstmänner stand. Es war die hübscheste Karre, schön grün gestrichen und mit einem funkelnagelneuen Schild: »Dienstmann Nr. 77. Paul Küraß. Müllerstraße 87 – Hinterhof.« Der alte Mann war zu den anderen Dienstmännern getreten. »Wat en schöner Morjen heute morjen. Na, denn wolln wa mal sehen!« Er spuckte in die alten sehnigen Hände, wahre Vogelkrallen. »War woll nich ville los, heute vormittag?«

»Nischt, Paul«, antwortete ein Gutwilliger.

»Aber ick denke, der Schwedenzug bringt wat.«

»Und deine Haifische?« fragte ein anderer hitzig. »Denkst du, Paul, das lassen wir uns ewig gefallen?! Die sind nicht in der Innung, Paul, die schnappen uns das Brot weg!«

Unterdes hatten auch Karl und Kalli ein paar Mark gewechselt. »Ich geh dann zum Haupteingang, Karl!« hatte Kalli gesagt.

»Paß aber auf, daß dich die Grünen nicht schnappen!« Die Grünen waren die Gepäckträger, sie waren noch viel erbittertere Feinde der Jungen als die Dienstmänner.

»Sollen die aufpassen, daß ich sie nicht schnappe!« lachte Kalli unbekümmert und schob los, beide Hände in den Taschen. Er trug noch immer seine Matrosenkluft aus dem Januar. Viel hatte sie von ihrer Schönheit eingebüßt, aber der Junge hatte gewonnen: er sah fester aus, das mager gewordene Gesicht hatte etwas Sicheres bekommen. Die dunklen Augen blickten vergnügt und unbekümmert in die Welt. Sie schlugen sich vor niemandem nieder.

Auch Karl Siebrecht hatte sich in diesem Winter verändert und verbessert: sein Gesicht war mager geworden, aber seine Schultern breiter. Auf dem ganzen Körper kein Gramm Fett, aber Muskeln und Sehnen genug, so viel davon, daß ihn auch ein Zwei-Zentner-Koffer nicht erschreckte. Noch immer trug er die Manchesterhose des Vaters, aber die unpraktische Joppe war durch eine braune, nicht mehr ganz frische gestrickte Wolljacke ersetzt worden. Früher hatte sie der alte Busch unter seinem Maurerkittel getragen. Der Winterwind hatte mit Schnee und Regen das Gesicht des Jungen gegerbt, aber auf den Backenknochen lag ein gesundes Rot. In der Zeichenstube des Herrn Kalubrigkeit wären seine Finger jetzt ungeschickt für Reißschiene und Zirkel gewesen, aber sie wußten mit Sackschnauzen und Korbhenkeln ausgezeichnet Bescheid. Karl Siebrecht drehte sich um. Kalli Flau war um die Bahnhofsecke verschwunden. Er sah jetzt zu den Dienstmännern hin, die eifrig auf den alten Küraß einredeten. Er konnte sich gut denken, um was es wieder ging, nämlich um sie, um die beiden Jungen, um die unberechtigte Konkurrenz! Aber sie würden noch ganz anders reden, wenn er ihnen erst gesagt hatte, was ihnen heute zu sagen er entschlossen war. Er sah sie alle langsam der Reihe nach an: die Wichtigsten waren da, die, denen die anderen folgen würden. Vor allem war Kiesow da, Dienstmann Nr. 13, ihr schlimmster Feind, der Stänkerer, mit dem würde er den schwersten Stand haben. Karl Siebrecht bohrte die Hände noch tiefer in die Hosentaschen und schob die Schultern hin und her: die Wolljacke war schon zu warm. Die Sonne brannte hindurch, morgen würde er die Jacke zu Hause lassen. Und was würde er statt der Jacke anziehen? Es fiel ihm nicht das geringste ein, was da sonst Anziehbares zu Hause war. Nun, auch das würde sich finden, nur keine Aufregung. Es hatte sich ja auch in diesem Winter immer wieder was gefunden, so aussichtslos die Lage manchmal auch aussah. Es war kein vergnüglicher, kein behaglicher Winter gewesen, oh, weit von dem! Aber es war ein Winter gewesen, in dem man sich selbst hatte beweisen können, ob man zu etwas taugte oder ob man sich doch lieber zu dem Schürzenzipfel von der alten Minna verkroch! Die Pellkartoffeln waren zu einer Dauereinrichtung geworden und Brot zu einem Festschmaus! Sich richtig satt zu essen in Brot, so weit waren sie noch nicht einmal heute. Aber wenn sogar Rieke einmal weich werden wollte und gemeint hatte, auf dieses eine Brot komme es nun doch wohl nicht an, Karl Siebrecht war unerbittlich geblieben: erst wurden die Schulden bei Oberingenieur Hartleben bezahlt. Nie hatte er vergessen können, wie Kinder und Frau ihn aus der Küche angestarrt hatten, als sei er ein Räuber, der ihnen Vaters Geld forttrug.

Rieke mit ihrem nüchternen Verstand und der genauen Kenntnis der Stadt Berlin hatte – leider! – recht behalten: mit den Apfelkähnen war es Essig gewesen. Ein, zwei Tage hatten die Jungen da verdient. Dann war schwerer Frost gekommen, die Spree fror zu, und die Äpfel verschwanden, weiß der Henker, wohin, wahrscheinlich zu den Großhändlern und in die Zentralmarkthalle. Ein paar Tage hatten sich die Jungen noch bei dieser Markthalle herumgetrieben, aber das war nichts, den einen Tag konnte man einen Taler verdienen, und die nächsten zwei Tage sah man in den Mond. Neue Sparmaßnahmen waren nötig geworden: Karl hatte seine Schlafstelle bei der Witwe Bromme aufgegeben und schlief nun in der Buschschen Küche. Kalli Flau aber hatte immer in aller Heimlichkeit die Feltensche Kammer als Schlafplatz benutzt, bis Herr Felten dahinterkam und ihn an die Luft setzte. Es war aber sowieso fällig gewesen, denn Herr Felten hatte einen Laufjungen für elf Mark in der Woche entdeckt. So schliefen die beiden Freunde von da an gemeinsam in der Küche. Die Nähmaschine war nun doch zu Vater Philipp gewandert, und die Jungen hatten ihr Heil bei den Kohlenhändlern versucht, die doch bei solcher Kälte Hochkonjunktur haben mußten. Aber es brachte nichts ein: die Hälfte der Arbeitszeit verlief man, ehe man einen Posten gefunden hatte – und die Jungen wollten immer gleich zwei Posten haben, da sie sich nicht gerne trennten. Hatte man aber etwas gefunden, so blieben plötzlich die Kohlenwaggons aus, und man mußte wieder feiern. Außerdem saute man sich das Arbeitszeug mehr ein, als der Kram wert war: Rieke kam gar nicht mehr aus dem Waschen heraus. Der Februar brachte viel Schnee, und die Jungen gingen unter die Schneeschipper. Das war eine geruhsame Beschäftigung. Die Stadt Berlin war eine milde Dienstherrin, sie verlangte nicht, daß die Braue ihrer Schneeschipper von Schweiß naß wurde. Aber so milde sie war, so sparsam war sie auch, Seide war bei Schipperlöhnen nicht zu spinnen. Außerdem war dies keine Beschäftigung nach den Herzen der Jungen, sie war, geradeheraus gesagt, stumpfsinnig und brachte sie mit den Letzten der Letzten zusammen: den Gästen der Palme, der Herberge zur Heimat in der Wiesenstraße. Das waren nun wirklich die aussichtslosesten Gestalten, aller Romantik bar, arbeitsscheue Schnapssäufer und unverbesserliche Lügner. Die Jungen lernten diese Kerle hassen. So waren sie ordentlich froh, als das Februarende Tauwetter brachte, obwohl sie nun wieder gar nichts verdienten. Sie machten sich an die Bahnhöfe, mit großer Vorsicht zuerst, denn hier gab es die behördlich eingesetzten Gepäckträger und Dienstmänner, die eifersüchtig auf ihre verbrieften Vorrechte achteten. Aber Karl Siebrecht hatte das Glück, am Stettiner Bahnhof auf den alten Dienstmann Küraß zu stoßen, der ihm mit seiner ausgemergelten Gestalt und der Hakennase über einem fast immer feuchten weißen Schnauzbart von seinem Ankunftsabend in Berlin noch in lebhafter Erinnerung war.

Der alte Mann hatte den Jungen natürlich längst vergessen, aber an »det freche Aas vom Wedding« mit seiner Leberwurst erinnerte er sich noch wohl. Er leckte sich sofort den Bart, als ihm Karl Siebrecht von dieser Leberwurst sprach. Zuerst halfen die Jungen dem Alten nur gelegentlich, bald aber ergriffen sie Besitz von seinem ganzen Betrieb, der Dienstmann Nr. 77 war nur noch Staffage. Der Alte ließ sich das gern gefallen. Die Jungen machten ehrlich Halbe-Halbe mit ihm: die Hälfte bekam er für das Firmenschild und die andere Hälfte die Jungen für die Arbeit. Küraß stand sich mit seiner Hälfte jetzt sogar besser als vorher mit dem ganzen Verdienst, denn die Jungen waren hinter der Arbeit her wie die Fliegen hinterm Honig, und gerade die schwersten Lasten, die er schon längst abgelehnt hatte, waren ihnen die liebsten. Auch die Jungen waren zufrieden. Die Nähmaschine konnte von Vater Philipp wiedergeholt werden, nachdem der Herr Hartleben sein Geld zurückbekommen hatte. Sie stand nun bei der Näherin Zappow, Rieke hatte es doch nicht gewagt, noch einmal selbständig zu arbeiten. Sie half der Zappow, es war langweilige Arbeit, es war auch schlechtbezahlte Arbeit, denn die Zappow war geizig, aber man mußte es als Lehrzeit nehmen. In einem halben Jahr vielleicht würde Rieke soweit sein, allein Aufträge auszuführen.

Ja, es ging wieder langsam voran in der steinigen Wiesenstraße. Jetzt verdienten schon drei Geld – nein, eigentlich vier. Denn Rieke hatte ihr Wort wahr gemacht, sie hatte den Vater nicht wieder aus den Augen gelassen, keine Viertelstunde war der Mann mehr ohne Aufsicht gewesen. Es waren zuerst schlimme Zeiten mit ihm, oh, Rieke war voll Gift und Galle gewesen, wenn die paar Groschen im Hause statt für Brot für diesen verdammten Fusel ausgegeben werden mußten, damit der Alte nur Ruhe gab. Aber ganz langsam hatte sie ihn heruntergekriegt, aus dem Liter war ein halber Liter geworden, ein Viertelliter. Nun bekam er schon nichts mehr, und es ging auch. In den Nächten war der alte Busch noch immer unruhig, die Rieke – die verstorbene Frau Rieke – wollte ihm nun einmal den Frieden nicht gönnen. Aber das ließ sich ertragen, der Rieke – dem sehr lebendigen Mädchen Rieke – machte eine durchwachte Nacht noch immer nichts. Freilich, sehr zusammengeschnurrt war der Maurer bei dieser Entwöhnung, Karl Siebrecht hatte es richtig geahnt: der Mann würde wohl nie mehr auf einen Bau gehen. Er wurde jetzt rasch grau, sein kurz gehaltener roter Vollbart verschoß von Woche zu Woche mehr. Aber da saß dieser Mann nun stumpfsinnig am Fenster bei der Zappow, und die Zappow ärgerte das. Die Zappow ärgerte jeder Mensch, der nicht so arbeiten mußte wie sie. Sie sah sich das einen Tag an, sie sah es sich – mit viel Schelten auf Rieke – auch noch einen zweiten Tag an, aber am dritten nahm sie ein Bügeleisen, drückte es dem alten Busch in die Hand und kommandierte: »Nu aber los, Männecken! Nu haste lange jenug Feierabend jehabt, nu wird jebügelt!« Und, siehe da, der alte Busch bügelte. Unter den nicht aufhörenden Belehrungen, Ermahnungen, Scheltreden von Fräulein Zappow lernte er es, Frauen- und Kindermäntel zu bügeln. Zuerst mußte man noch sehr auf ihn aufpassen. Mitten im schönsten Bügeln vergaß er völlig seine Beschäftigung, stand da, glotzte ein Loch in die Luft, bis der Geruch von angesengtem Stoff Fräulein Zappow daran mahnte, daß nicht nur ein Loch geglotzt, sondern auch eines gebrannt wurde. Dann sprang sie auf und überschüttete ihn mit Schmähungen. Gehorsam setzte er sein Eisen wieder in Schwung und vergaß das nächste Mal, Kohlenglut nachzufüllen, und bügelte kalt, ein wenig verwirrt darüber, daß die Mäntel nicht glatt werden wollten. Aber allmählich lernte er es, mit der Zeit wurde der Maurer Busch zu einem ausgezeichneten Bügler. Jetzt bügelte er schon richtig mit Schwung und Gefühl für Fasson. Weiß der Himmel, was er sich dabei dachte, wenn er dastand. Er hatte den Mantel fertiggebügelt, hielt ihn vor sich hin und schüttelte ihn sachte, daß die Falten auch richtig fielen. Dann trat ein Ausdruck in sein Gesicht – es war, als käme ein Funken Licht in seine ausgeblaßten Augen. Die Zappow rief Rieke Busch an: »Kiek bloß, wie er wieder mal dasteht, Rieke! Der olle Jenießa! Ordentlich zärtlich tut er mit dem Mantel, als steckte janz wat anderes darin. Diese Männa – Schweine sind se durch de Bank, vor denen is nischt sicher!«

Der alte Busch hätte nun sehr viel mehr verdienen können als die paar Groschen, die ihm Fräulein Zappow gnädigst bewilligte. Gute Bügler waren immer gesucht und verdienten ihr Geld. Aber sosehr Rieke Busch für Geldverdienen war, hier widersetzte sie sich. Der Vater kam nicht aus ihrer Nähe. Man mußte nicht jede Dummheit in seinem Leben ein paarmal machen. Und wahrscheinlich tat der alte Busch wirklich nur in ihrer Nähe gut. Keiner konnte erraten, was in seinem Kopfe, selbst in den lichtesten Momenten, vorging. Aber immer sah er in der Tochter wohl eher die Mutter. Das Sprechen hatte er sich fast ganz abgewöhnt, er gab nur Laute von sich, die Mißbehagen, Einverständnis, Hunger ausdrückten. Nur nachts, wenn er »unruhig« war, was jetzt seltener vorkam, sprach er noch, und dann sprach er auf eine unbeholfene, erschütternd eindringliche Art, als habe durch ein Wunder ein Stummer Sprache bekommen. Er war wohl schrecklich allein mit sich. Die ganze Welt war längst versunken für ihn, und die einzig Überlebende außer ihm war die tote Frau. An sie dachte er, für sie schlug noch sein fühlloses Herz, zu ihr sprach er, bei ihr flehte er, ihm endlich zu verzeihen, ihm die Last seines bösen Gewissens abzunehmen. Aber die einzig für ihn noch Lebende war tot, sie hörte nicht, ihr Herz war Asche, sie verzieh nie mehr. Und also dann: Staub zu Staub, Asche zu Asche, Erde zu Erde!

Aber wenn es auch nur Groschen waren, die der Bügler Busch verdiente, Groschen kam zu Groschen, rundete sich zur Mark, sie konnten schon mit Talern rechnen. Wurde dadurch irgend etwas anders? Die Schulden waren bezahlt, die Nähmaschine aus England eingelöst und endgültig ihr Eigentum – schlemmten sie darum? Schliefen die Jungen darum wieder in Betten statt auf dem harten Küchenboden, in Woilache eingewickelt? Machten sie sich satt mit Brot? Wurde ein einziges Wäschestück angeschafft? Nichts von alledem! Jede Mark, die nicht zum Nötigsten gebraucht wurde, verschwand unerbittlich bei Karl Siebrecht. Er war geizig, er war knickerig geworden. Er ließ sich von Rieke genau ihren Wochenverdienst aufzählen und bat sie um ein paar Mark, weil Tilda unbedingt neue Schuhe haben müsse, so sagte er nur abweisend: »Das hat Zeit. Das kommt alles später. Außerdem ist bald Sommer, da kann Tilda ruhig barfuß laufen.« Und der Wochenlohn verschwand in Karls Tasche. Wo blieb der Junge mit dem Gelde? Was hatte er vor? Rieke Busch tröstete sich mit dem Gedanken, daß Karl wohl sparte, um möglichst rasch Minnas Spargroschen zu ersetzen.

Aber Karl Siebrecht dachte nicht an diesen Spargroschen. Minna hatte Zeit. Eines Tages würde auch Minna an die Reihe kommen, aber jetzt noch nicht. Auch die kleine Stadt, in der man noch hatte weich sein dürfen, war weit fort, ebenso weit wie Ria, die nie geschrieben hatte, nicht einmal eine jämmerliche Ansichtspostkarte. Auch Ria war fort, etwas, das eingeschlafen im Herzen lag, das sich einen kurzen Augenblick rührte, eine Schläferin, die einmal die Augen aufschlug – wie sanft und süß einem davon wurde! – und schon wieder weiterschlief. Nein, all das war abgetan, nicht für Minna wurde gespart, sondern für etwas ganz anderes, für etwas wirklich Wichtiges! Wenn Karl Siebrecht es sich genau überlegte, unterschied ihn etwas Wesentliches von seinen beiden Freunden, Kalli Flau und Rieke Busch. Es war nicht die Sprache, die ihn von Rieke Busch unterschied, und nicht die bessere Schulbildung, die er vor Kalli Flau voraus hatte. Das waren unwesentliche Dinge. Man konnte sich sehr gut eine Rieke mit einwandfreiem Deutsch denken und einen Kalli, der etwas vom alten Homer gehört hatte. Die Freunde wären darum nur wenig anders gewesen! Nein, was ihn ganz wesentlich von den beiden unterschied, war, daß diese beiden ganz zufrieden mit ihrer jetzigen Lage waren. Sie verdienten genug, sie konnten sogar etwas zurücklegen, also schön, was nun noch? Nichts weiter! Vielleicht hatte Rieke Busch noch einen kleinen Traum vom Vorwärtskommen, aber weiter als bis zu einer von ihr geführten Schneiderstube reichte er auch nicht. Kalli Flau aber war ein vergnügter Vogel, der jeden Tag für das Seine sorgen ließ, er dachte nicht weiter als bis zum nächsten Brot.

Das alles war nun in Karl Siebrechts Augen gar nichts. Er wollte voran. Hier den gerade noch geduldeten Handlanger eines alten Dienstmannes zu spielen, das war für ein paar harte Winterwochen ganz recht gewesen, aber auf die Dauer konnte es nicht genügen. Wenn Kalli Flau manchmal davon sprach, daß mit der Zeit wohl die Mütze des Dienstmannes 77 auf sein Haupt übersiedeln würde, so konnte er darüber nur lächeln. Ein Dienstmann werden – du lieber Himmel, wahrhaftig, und was dann? Dann kam gar nichts mehr, Dienstmann war schon ein Schlußpunkt. Es gab nicht einmal Oberdienstmänner – lachhaft! Dies war der Unterschied zwischen Karl Siebrecht und seinen Freunden: sie wollten so wenig. Eigentlich wollten sie gar nichts als nur leben, und das war, weiß Gott, wenig vom Leben verlangt, nur leben! Karl Siebrecht wollte viel mehr. Jetzt, da er in der Stadt Berlin heimisch geworden war, schämte er sich, daß er einmal von der Eroberung dieser Stadt geträumt und gesprochen hatte. Es klang so verdammt großschnauzig. Wenn Rieke Busch nur einmal scherzhaft eine Anspielung auf diesen Traum machte, wurde er saugrob. Sie solle gefälligst an gewisse Unterschriften denken, jeder rede und mache einmal eine Dummheit, sie müsse ihm nicht ewig unter die Nase gerieben werden! So verschloß er ihr den Mund. Er verschloß sich selbst den Mund, nicht einmal in seinen ehrlichsten Stunden gestand er sich, daß der Traum von der Eroberung Berlins noch immer in ihm lebte. Er dachte an etwas anderes, an etwas viel Größeres, als die beiden sich je träumen ließen, aber immerhin an etwas Mögliches. Er sagte ihnen nichts davon, ahnungslos war Kalli Flau um die Ecke des Bahnhofs gegangen, Rieke Busch wußte nichts davon, daß er nun im Begriff stand, ihre Groschen aufs Spiel zu setzen. War das alles? Nein, wenn er dies erreicht hatte – und es konnte sehr gut schiefgehen, es konnte viel eher schiefgehen als gelingen –, wenn er dies erreicht hatte, so kam sofort etwas anderes. Und dahinter ein Neues! Und wieder dahinter mehr, noch mehr ... Gott verdamm mich! dachte er und bewegte die Schultern im Gefühl der Kraft unter der sonnenwarmen Wolljacke. In den nächsten Jahren werde ich nicht viel Ruhe kriegen, und der Kalli auch nicht. Der Junge wird sich noch wundern, wie ich ihn rumtreiben werde!

Er hatte die Dienstmänner bei all diesen Überlegungen und Erinnerungen nicht aus dem Auge gelassen. Sie hänselten noch immer den alten Küraß mit seinen beiden Haifischen. Er würde ihnen gleich anderen Stoff zum Hänseln und Hecheln geben! Noch acht Minuten bis zum Warnemünder Zug, der die Dienstmänner in alle Windrichtungen zerstreuen würde! Gerade noch Zeit genug für sein Vorhaben! Nur nicht sich auf lange Quackeleien einlassen! Unwillkürlich warf Karl Siebrecht einen Blick zu der Seite hin, wo Kalli Flau verschwunden war. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, Kalli von dieser Unterredung auszuschließen. Der hatte die Gabe, die Leute mit einem Witz guter Stimmung zu machen. Aber das war nun zu spät. Er hatte auch immer gedacht, es wäre besser, wenn er seine erste Schlacht allein schlug. Er würde schon aufpassen, daß er diesmal nicht zu scharf wurde. Er hatte in letzter Zeit eine Neigung bei sich festgestellt, zu scharf zu werden, zu kommandieren. Das kam von seiner Stellung zu Rieke und Kalli her; da war er stillschweigend als Führer anerkannt worden. Aber andere würden nicht so stille schweigen.

Noch sieben Minuten! Siebrecht schluckte noch einmal und ging los. Er hatte, wie Kalli Flau, die Hände in die Taschen der Hose gebohrt und bummelte auf die Männer zu. »Hört mal einen Augenblick, ihr!« sagte er.


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