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Im Hause Kurfürstenstraße 72 hatte ihn natürlich als erstes der Portier von der marmornen und samtenen Vordertreppe gröblich heruntergeholt und ihn die Dienstbotentreppe hinaufgeschickt. All dies waren neue Erfahrungen für Karl Siebrecht, im ersten Augenblick ärgerlich, bei einigem Nachdenken sofort erträglich. Er war nun eben nicht mehr der Sohn des Bauunternehmers Siebrecht – obwohl er das natürlich noch immer war –, er war der Arbeiter Karl Siebrecht, der arbeitsuchende Karl Siebrecht.
Auch die dickliche Köchin, die ihm die Hintertür geöffnet hatte, schaute ihn recht mißtrauisch an. »Stimmt das auch?« fragte sie. – Karl Siebrecht versicherte, er sei vom Herrn zu vier bestellt. – »Dann warte man!« sagt sie und ballerte ihm die Tür wieder vor der Nase zu.
Es hatte höchst sympathisch nach Gänsebraten und Rotkohl gerochen – der Herr Senden, der Herr von Senden, wie das porzellanene Namensschild an der Hintertür auswies, mußte ein wohlhabender Mann sein. Gänsebraten an einem Alltag – das hatten Siebrechts sich in ihren besten Zeiten nicht erlaubt. Es konnte übrigens auch Ente sein – und dem Jungen fiel ein, daß er heute, vermutlich zum erstenmal in seinem Leben, kein warmes Mittagessen bekommen hatte. Bei diesem Gedanken fing sein Magen, trotz der Stullen, auf das unverschämteste zu knurren an.
Karl Siebrecht machte den Mund weit auf und schluckte mehrmals hintereinander beträchtliche Mengen Luft, bekanntlich ein unfehlbares Mittel gegen solche Rebellion des Magens. Aber der noch immer spürbare Enten-Gänsebraten-Geruch erwies sich als stärker: der Magen knurrte fort. Er knurrte auch weiter, als die Tür aufging und ein grünlivrierter Knabe den Besucher von oben bis unten musterte, dann ziemlich unverschämt sagte: »Mitkommen!« und den Karl Siebrecht erst durch die duftende Küche führte – das Knurren nahm bedrohliche Formen an –, dann durch einen langen Gang, in dem Schritte und Knurren hohl widerhallten, dann durch ein strahlend erhelltes Riesenzimmer – das Eßzimmer, das Berliner Zimmer –, in dem eine Dame mit einem Riesenhut mit zwei Riesenpleureusen einsam am endlosen, weißgedeckten Tisch saß und etwas Braungebratenes vom Teller aß – oh, dieses Knurren! –, und ihn schließlich in ein wiederum großes, aber dämmriges Zimmer brachte, in dem der Herr von Senden in einen Sessel gegossen lag, angestrahlt vom rötlichen Gasfeuer im falschen Kamin, die Füße in braunen knöpfbaren Halbschuhen auf dem Kamingitter.
»Hier ist der junge Mann, Herr Rittmeister!« sagte der grünlivrierte Knirps.
»Raus!« antwortete der Herr von Senden, der nun also auch noch Rittmeister war. Der Knirps verschwand. Der Rittmeister winkte, ohne hochzuzsehen, mit einer langen weißen Hand, an der viele Ringe saßen.
»Setz dich, mein Sohn. Du bist doch der vom Bau?«
»Jawohl!« sagte Karl Siebrecht möglichst laut, denn der Magen knurrte wieder sehr. »Ich heißte übrigens Karl Siebrecht.«
»Sehr angenehm«, sagte der Rittmeister. »Sitzt du?«
»Ich stehe ebenso gern«, meinte der Junge, eine Spur trotzig. Der Empfang verdroß ihn. Trotzdem knurrte sein Magen unentwegt weiter; was die Dame im Eßzimmer auf ihrem Teller gehabt hatte, war bestimmt eine Gänsekeule gewesen.
»Aber warum denn?!« rief der Herr von Senden erstaunt. »Zieh dir einen Sessel heran und setz dich. Wozu stehen, wenn man sitzen kann? Wozu sitzen, wenn man liegen kann? – Na also, das ist vernünftig! Ich dachte schon, nach deinen Taten heute vormittag, du seiest der geborene Rebell!«
»Ich bin überhaupt kein Rebell! Nie gewesen!« erklärte der Junge mürrisch. Er war immer noch nicht mit seinem Gastgeber zufrieden.
»Und was bist du also gewesen?« fragte der. – Der Junge sagte es, so gut es in vier, fünf Sätzen ging. – »Und so hast du denn«, meinte der Rittmeister von Senden, »dein Herz für die Armen und Elenden, als da sind Trockenmieter, erst entdeckt, seit du selbst arm und elend bist. Findest du das nicht komisch?«
»Nein«, sagte der Junge böse. »Bei uns zu Haus gibt es so was nicht! Ich finde das gar nicht komisch.«
»Oh! Oh! Oh!« rief der Rittmeister zweiflerisch. »Du hast also im Himmel gelebt?! Bei euch gab's keine Ortsarmen? Und nicht den bekannten Stadttrottel, den die lieben Bürger in vorgerückter Stunde besoffen machten und in den Stadtteich stießen? Wirklich nicht –?«
In dem Jungen tauchte blitzartig das Bild des langen Ludwig auf, wie ihn alle nannten, eines mit der Fallsucht behafteten Armen. War er nicht selbst hinter dem Betrunkenen als Junge hergelaufen und hatte gedankenlos mit den anderen den Vers gegrölt:
Der lange Ludewig
Find seine Bude nich!
Linksrum! Rechtsrum!
Marsch! Arsch!
»Du bist ja so stille, mein Sohn Karl?« fragte der Rittmeister nach einer langen Weile.
»Ja«, sagte der Junge leise. »Sie haben ganz recht. Wir haben so etwas auch bei uns, und ich habe sogar beim Verhöhnen mitgemacht!«
»Deswegen brauchst du dich nicht zu schämen«, sagte der Rittmeister freundlich. »Es ist nun einmal eine komische Tatsache, daß wir Menschen erst daran denken, wie schlecht es einem gehen kann, wenn es uns selber schlecht geht.«
»Aber Ihnen ist es doch bestimmt nicht schlecht gegangen!« sagte der Junge überzeugt und dachte an die dufterfüllte Küche, die schöne Dame mit den Pleureusen in dem strahlenden Eßzimmer, dachte an den Gänsebraten und sah hinein in den rötlich strahlenden Kamin. »Und Sie wissen doch, wie schlecht es einem gehen kann!«
»Meinst du?« fragte der Rittmeister nachdenklich. Und plötzlich lachend: »Sag doch, wie hat dir mein Schwager, der Herr Kalubrigkeit, gefallen?«
»Ach, mit dem haben Sie doch gar nichts zu tun!«
»Irrtum, mein Sohn! Mit dem baue ich nämlich zusammen die Häuser, wir sind Kompagnons. Er leistet die Arbeit, und ich verdiene Geld dabei.«
»Ich mag nicht, daß Sie so reden«, sagte der Junge nach einer Weile. »Entweder ekelt Sie das alles an, dann sollten Sie es hinschmeißen und nicht davon reden, oder Sie tun's um des Geldes willen, dann – gehe ich lieber!« Er stand auf. Der Magen hatte das Knurren vergessen, er wußte auch nicht mehr, warum er hierhergegangen war, zu diesem Mann, der so vornehm durch die Nase säuselte.
»Ach, wie einfach ist doch das Leben in deinen Jahren!« rief der Herr von Senden. »Immer entweder oder! Entweder wird den Trockenmietern geholfen, oder ich werde arbeitslos! Setze dich wieder. Übrigens ist deinen Trockenmietern geholfen.«
»Ja?« fragte der Junge und setzte sich widerstrebend, aber hiervon wollte er doch noch hören.
»Soweit es noch möglich war. Sie hat einen Blutsturz gehabt und ist im Krankenhaus. Und er ist irgendwo trocken und warm untergebracht. Siehst du, so was kann ich nun doch tun, wenn's mich auch anekelt, wie du sagst.«
»Was ekelt Sie an? Das Tun?«
»Alles!«
»Was alles –?«
»Das ganze Leben!«
»Das ganze Leben?! Warum leben Sie dann noch?!« rief der Junge.
»Vielleicht wegen so einer Unterhaltung wie jetzt. Glaubst du, ich war immer so? Ich war auch mal so wie du!«
»Und warum sind Sie so geworden? Wie wird man so?«
»Was willst du werden?«
Der Junge schwankte einen Augenblick. Dann richtete er sich auf und sagte: »Ich will Berlin erobern!«
»Dann«, sagte der Rittmeister und richtete sich auch auf, »dann bist du auf dem besten Wege, das zu werden, was ich geworden bin!«
»Nie!« sagte der Junge. »Ich nie!«
»Doch! Dann immer!« widersprach der Rittmeister.
Der Junge rief: »Ich lasse mir keine Angst machen!
Und der Herr von Senden: »Bin ich so, daß man Angst vor mir haben muß?«
Und wieder Karl Siebrecht: »Nie werde ich so werden, wie Sie sind!«
»Und wie bin ich, mein Sohn?«
»Zynisch sind Sie! Angeekelt sind Sie! Sie zweifeln an allem und glauben an gar nichts! Sie lachen über alles, und am schlimmsten finde ich, daß Sie über sich selbst lachen!«
»Einen Augenblick, mein Sohn Karl!« sagte der Rittmeister fast lebhaft, nahm die Füße in veilchenblauen Socken vom Kamingitter und hängte sie über die Seitenlehne des Sessels, so daß er dem Jungen das Gesicht nun voll zuwendete. »Eine Frage nur, Karl Siebrecht! Was wirst du tun, wenn du Berlin erobert hast –?«
Der Junge schwieg verwirrt einen Augenblick, da sagte der Rittmeister schon: »Dann wirst du deiner Eroberung überdrüssig sein! Sie wird dich anekeln! Dann wirst du dasitzen, mit der Macht in Händen, mit dem Reichtum in Händen, und wirst dich fragen: wozu das alles? Was soll ich nun tun? Es ist todeslangweilig, alles. Ich war tausendmal glücklicher damals, als ich noch nichts war und hundert Hoffnungen hatte! Heute bin ich alles und habe nichts mehr zu erwarten.«
»Ich ...« fing der Junge an.
»Noch einen Augenblick, Karl Siebrecht! Noch eine Frage! Glaubst du an Gott?«
»Ich ... ich weiß nicht ...«
»Nun stelle ihn dir immer vor irgendwo da oben im All, seinen Sternen die Bahn zumessend und seiner Menschen Geschicke lenkend. Und seit Äonen von Jahren laufen die Sterne auf ihrer leuchtenden Spur, und seit Äonen von Jahren werden die Menschen geboren, hoffen und sterben, sie lieben und hassen, und sie sterben dann, sie führen blutige Kriege und bauen Kulturen auf, die wieder vergehen – glaubst du nicht, daß Gott längst weiß, daß gar nichts geschieht? Daß alles gleichgültig ist? Er muß das zynischste, das ungläubigste, das am meisten angeekelte Wesen im Weltall sein, dieser Gott! Und das unglücklichste!«
»Warum sagen Sie mir das alles?!« rief der Junge wild und sprang von seinem Sessel auf. »Warum haben Sie mich zu sich bestellt?! Warum haben Sie dann den Trockenmietern geholfen? Bloß um mich zu verderben?! Wollen Sie mir meine Hoffnungen nehmen? Ich habe es auch in der Schule gelernt, daß alles eitel ist! Aber das ist was für die Alten, die satt sind! Ich bin jung und ich bin hungrig ...« Gerade als er dies in seiner Erregung und Empörung rief, fiel ihm die Gänsebraten essende Dame mit den Pleureusen ein, der Hunger überfiel ihn wie ein Wolf, und sein Magen kullerte ganz laut. Unwillkürlich aus all seiner Erregung heraus mußte der Junge hemmungslos lachen. Er konnte gar nicht wieder aufhören mit Lachen, mit seinem Lachen übertönte er sogar das gierige Kullern des Magens.
Der Rittmeister mußte mitlachen. »Warum lachst du nur, Mensch?« rief er. »Sage mir doch, warum du so lachst, damit ich mitlachen kann!« Aber er lachte schon mit.
Atemlos, immer wieder von krampfhaften Lachanfällen geschüttelt, erzählte ihm der Junge, daß er heute zum erstenmal kein warmes Mittagessen gehabt hatte und daß es hier in der Wohnung so schön nach Gänsebraten gerochen habe ... »Entenbraten«, verbesserte der Rittmeister. – Und daß, als er eben gerufen habe, er sei jung und hungrig, plötzlich die Vision des Entenbratens vor ihm aufgetaucht sei, daß sein Magen sofort sich gemeldet habe und daß er darüber habe lachen müssen, lachen ...
»Siehst du, mein Sohn«, sagte der Rittmeister behaglich. »Ich habe doch den richtigen Riecher gehabt. Du bist weder Rebell noch kaltherziger Streber, denn diese beiden Gattungen haben nie Humor. Du aber hast welchen, und deswegen gefällst du mir. Also sage, was ich für dich tun kann.«
»Warum wollen Sie denn etwas für mich tun?«
»Wie vorsichtig!« rief der Rittmeister und goß sich wieder in seinen Sessel hinein. Der Junge empfand zum erstenmal wirkliche Sympathie für diesen Mann, weil er gar nicht daran dachte, ihm nun Entenbraten anzubieten. »Mißtrauisch wie ein junges Waldtier, das zum erstenmal ins Freie tritt und sogar der verlockenden Hafersaat mißtraut. Aber vielleicht hellt es meine Langeweile ein bißchen auf, wenn ich dir auf deinem Wege zur Eroberung Berlins vorwärts helfen kann.«
»Ich bin nicht dazu da, um Ihre Langeweile zu vertreiben!« sagte der Junge störrisch.
»Sehr richtig! Aber vielleicht kannst du deinen Weg machen, ohne dich viel um mich zu kümmern? Ich würde schon auf meine Kosten kommen. So ein Schwätzchen wie heute abend alle Vierteljahre würde mir vollkommen genügen!«
»Ich mag nicht mit Ihnen schwatzen! Ich mag Ihre Art zu schwatzen nicht!«
»Zu gefährlich?«
»Ach was! Ich mag's einfach nicht – solch ein zynisches Geschwätz! Ich will etwas tun, nicht schwatzen!«
»Und was gedenkst du zu Anfang zu tun? Ich nehme an, daß diese Koksschlepperei nur ein Notbehelf war.«
»Natürlich.«
»Und was tätest du lieber?«
»Am liebsten«, sagte der Junge, »wäre ich Chauffeur von einem erstklassigen Auto!«
»Was?!« rief der Herr von Senden ein wenig enttäuscht. »Das denkst du dir als den Anfang deiner Eroberung Berlins?! Und wie soll das etwa weitergehen?«
»Das weiß ich nicht. Das wird sich schon finden. Erst mal möchte ich Chauffeur sein.«
»Nun gut«, sagte der Rittmeister. »Ich finde zwar diese Automobile unausstehlich. Sie machen Krach und stinken. Sie sind unfein – nur Pferde sind wirklich fein. Aber da auch der Kaiser darin fährt – meinetwegen! Also, mein Sohn, wir werden beide morgen früh ein erstklassiges Auto erstehen, und du wirst mein Chauffeur werden.«
»Wie?« fragte der Junge. »Sie wollen wirklich?«
»Ganz wirklich!«
»Aber ein wirklich gutes Auto kostet einen Haufen Geld – über zehntausend Mark!«
»Darum mach dir keine Sorgen. Das Geld wird da sein. Einverstanden, Karl Siebrecht?« Und er streckte ihm die lange weiße, mit den vielen Ringen geschmückte Hand hin.
Dem Jungen war wie ein Traum. Was er sich sehnlichst gewünscht hatte, hier wurde es ihm am ersten Tag seines Berliner Aufenthaltes angeboten! Über jede Erwartung leicht! Aber, warnte es in ihm, das Leben durfte nicht wie ein Traum sein. Die gebratenen Hühner, die einem in den Mund fliegen, schmecken nicht wie die, die man sich erst erkämpft hat. Und überhaupt – was wollte dieser Mann? Er wollte sich seine Langeweile vertreiben, auf Geld kam es ihm nicht an! Er würde amüsiert zuschauen, wie sich dieser Jüngling Karl Siebrecht abstrampelte, und bei jedem Fehlschlag, bei jeder Enttäuschung würde er sagen oder doch denken: Ich habe es mir doch gleich gedacht! Wozu sich erst Mühe geben? Im gleichen Augenblick fiel dem Jungen die Rieke Busch ein. Die zweifelte weiß Gott nicht an sich, die hatte keine Zeit zur Langeweile. Die erlebte alle Tage Enttäuschungen und Fehlschläge, die fraß sie ohne weise Sprüche herunter, die arbeitete weiter. Und plötzlich hatte der Junge die unklare Vorstellung, als lägen da zwei Wege vor ihm und als müsse er bindend für sein ganzes weiteres Leben entscheiden, welchen Weg er gehen wolle: den glatten, bequemen, breiten Weg, auf dem der Herr von Senden sein Führer sein würde, oder den holprigen Pfad, auf dem Rieke Busch neben ihm ging, diesen Pfad, der sich sofort in Dickicht und Dunkel verlor ... Noch unklarer hatte der Junge etwas vor sich wie einen dritten Weg, er wollte an Erika Wedekind denken, aber schon hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung laut sagen: »Nein, danke, Herr Rittmeister. Ich möchte mir lieber allein helfen!«
Er hörte den Rittmeister leise lachen. »Das habe ich mir beinahe gedacht, mein Sohn Karl«, sagte er höchst zufrieden. »Du hättest mich enttäuscht, wenn du dich anders entschieden hättest. – Aber was machen wir jetzt?«
»Jetzt?« fragte Karl Siebrecht. »Jetzt gehe ich nach Haus, und morgen versuche ich mein Heil anderswo.«
»Wieder auf einer Baustelle?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Oder irgendwas im Autofach?«
»Vielleicht. Aber ich will mir nicht von Ihnen helfen lassen!«
»Das sollst du auch gar nicht! – Sage mal, du hast mir doch gesagt, du bist der Sohn von einem Baumeister ...«
»Ja, aber ...«
»Da kannst du doch sicher mit Reißschiene und Zirkel umgehen?«
»Ja, aber ...«
»Und bestimmt kannst du auch Pausen von Bauzeichnungen machen?«
»Ja doch! Aber ...«
»Was würdest du dazu sagen, wenn du für den Anfang erst einmal auf dem technischen Büro von meinem Schwager Kalubrigkeit arbeiten würdest? Bloß so lange, bis du ein wenig in Berlin warm geworden bist? Du kannst dich ja dabei unter der Hand immer nach etwas anderem umsehen?«
Der Junge grinste. »Herr Kalubrigkeit würde mich wohl denselben Augenblick rausschmeißen, wo er mich zu sehen kriegte!«
»Dich zu sehen? Aber mein Schwager kommt nie auf sein technisches Büro! Glaubst du, das interessiert ihn? Kalubrigkeit ist doch kein Baumeister, Kalubrigkeit ist doch ein Bauunternehmer, den interessiert bloß Geld! Jawohl, er läßt sich mal auf dem Bau sehen, aber von der Bauerei versteht er gar nichts, er will nur Geld sparen, davon versteht er was! Nein, der Kalubrigkeit würde dich nie zu sehen kriegen, nach menschlichem Ermessen nie!«
»Ich möchte nicht gern ...« sagte der Junge zögernd.
»Sei doch kein Schaf, mein Sohn!« ermahnte ihn der Rittmeister milde. »Jetzt lehnst du doch nur ab, weil der Vorschlag von mir kommt. Aber ich sage dir, du bist mir zu gar nichts verpflichtet. Dein Feingefühl kann beruhigt sein. Ich weiß, sie haben augenblicklich irrsinnig zu tun auf dem Büro, sie planen eine riesige Geschichte im Bayrischen Viertel – weißt du, wo das ist?«
»Nein.«
»Das mußt du dir mal ansehen, das wird das Feinste vom Feinen. Fünfstöckige Mietshäuser mit erstklassig imitiertem bayrischem Fachwerk und goldenen Zwiebeln auf dem Dach! Na, und meinen Schwager läßt der Ehrgeiz nicht schlafen, so was muß er auch bauen! Da planen sie nun und zeichnen. Warum sollst du keine goldenen Zwiebeln zeichnen? Es kostet mir nur einen Anruf!«
»Und nach einer Woche oder einem Vierteljahr soll ich zu Ihnen kommen und Bericht erstatten, nicht wahr? Und Sie reden mir alles kaputt, was mich gefreut hat!«
»Nein, nicht einmal das sollst du! Wenn du keine Lust hast, brauchst du dich nie wieder in der Kurfürstenstraße zweiundsiebzig sehen zu lassen. Trotzdem es mich freuen würde. Aber du bist mir zu nichts verpflichtet. Im Gegenteil. Wenn du morgen früh um neun in das Büro Krausenstraße zwölf von Kalubrigkeit & Co. kommst – Co., das bin ich und noch ein Haufen fauler Nichtstuer –, dann wirst du ein Schild an der Tür sehen: ›Bauzeichner und Pauser gesucht‹. Du siehst also, ich mache dir keinen Extraplatz frei. – Einverstanden?«
»Einverstanden!« sagte Karl Siebrecht.