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18. Ein Zwischenfall im Zeichenbüro

Manchmal bedauerte es Rieke in der nächsten Zeit doch, daß sie sich ihre Näherei nicht durch einen Zwischenmeister hatte zuteilen lassen: man hätte sich da um ihre Arbeit gekümmert und ihr mit Rat und Tat beigestanden. So saß sie mitunter fast verzweifelt vor ihrer Näherei und wußte nicht aus noch ein. Dann ergriff sie eine panische Angst, ihre Arbeit könne wegen Pfuscherei zurückgewiesen werden und sie müßte dann all diese Stoffe ersetzen. Sie hatte schon immer wenig geschlafen, jetzt schlief sie fast gar nicht mehr, und auch durch dieses bißchen Schlaf spukten noch Abnäher, Kellerfalten und aufgesetzte Taschen. Aber Rieke biß die Zähne zusammen und sagte sich: Det hilft nu allens nischt mehr. Durch mußte! Mir von dem alten Felten ankotzen lassen? So blau! Und sie bezog Posten vor dem Feltenschen Hause – die Aufsicht über den alten Busch kam mal wieder zu kurz –, paßte dort einer Schneiderin auf, die ablieferte, und heftete sich an ihre Sohlen. Sie schob mal wieder die kranke Mutter vor, für die sie um Rat fragen müßte, und erreichte, daß sie mit auf die fremde Schneiderstube genommen wurde. Sie war dort still und bescheiden, oh, wie gut konnte Rieke den Mund halten, wenn es nötig war! Sie machte sich enorm nützlich, und dabei hielt sie ihre Augen offen: ihr entging nichts. Es kostete sie zwei volle Arbeitstage, aber in diesen zwei Tagen lernte sie mehr, als manche andere in zwei Monaten gelernt hätte. Hinter Rieke Busch stand ein ehernes Muß. Die Schneiderin, eine ältliche, sonst nicht gerade süße Person, sagte zu ihr beim Abschied: »Na, Rieke, und wenn de wieder nich Bescheid weeßt, denn fragste mir direkt – det olle Hintenherum mag ich uff den Tod nich ausstehen!«

Rieke Busch machte ihren allerschönsten Schulmädchenknicks und sagte: »Denn dank ick ooch schön, Fräulein Zappow!«

»Und mit dem Bügeln von die schweren Stoffe kommste doch nich zurecht, Rieke«, fuhr Fräulein Zappow kategorisch fort. »Det is nischt for dir. Wenn de mit deine Arbeit soweit bist, denn schick ich dir meinen Bügler. Der is nich teuer, der macht dir det so, det kein Jemecker bei Felten is.«

Wieder ein tiefer Knicks, wieder ein: »Denn dank ich ooch schön, Fräulein Zappow!«

»Noch billiger kommste«, sagte Fräulein Zappow, milde gestimmt durch soviel Dankbarkeit, »wenn de 'nen Mann im Haus hast, dem kann mein Bügler det zeigen. Det lernt jeder. Haste nich noch 'nen Vater? Mir war doch so.«

»Mit Vata is for so wat nischt los, danke ooch schön, Fräulein Zappow. Aba vielleicht lernt's mein Freund ...«

»Wat, 'nen Freund haste ooch schon in deinen Jahren – ick muß saren, ihr Mächen vom Wedding –!«

»Doch nich so, Fräulein Zappow! Wat ick bin, for mir broochte de Liebe nich erfunden sein! Nee, det is so eener, mehr wie 'n Bruda, vastehn Se, Fräulein Zappow?« Aber auf der Treppe schon steckte Rieke der Zappowschen Tür die Zunge heraus. Du olle Zieje, sagte sie bei sich, von deinetwejen hätt ick die beiden Tage bloß Knopflöcher nähen dürfen! Wenn ick und wäre nich so uff 'n Kien jewesen ... Und Rieke kehrte mit neuem Mut zu ihrer Näherei zurück.

Während seine kleine Freundin sich so mit mancherlei Sorgen plagte, von denen sie doch nie ein Wort – auch zu ihm nicht – laut werden ließ, freute sich Karl Siebrecht seiner Doppelverdiener-Existenz. Nach der süßlich lauen Luft der Zeichenstube in das abendlich lichterhellte Berlin sich zu stürzen, im Trab in die Jerusalemer Straße zu laufen, das schwere Dreirad zu holen, die vielen gewichtigen Pakete und Packen mit Konfektionsware aufzuladen, das war eine Wonne! Dann spürte er weder Hunger noch Kälte, Schnee mochte treiben, der Winterwind um die Ecke pfeifen: gewaltig klingend fuhr er los. Warm wurde ihm dabei, er hätte auch in Hemdsärmeln fahren können, das machte ihm gar nichts aus. Bloß kein Stubenhocker werden, dachte er. Und wenn er spät am Abend, meist schon in der Nacht, zu Rieke kam – sie hatte ihm seine Stullen hingestellt und saß noch immer bei ihrer Näherei –, dann sagte er wohl, eifrig kauend: »Daß du das aushältst, Rieke! Immer in der Stube hocken!«

»Im Winta?« fragte sie dagegen, echtes Großstadtkind, das sie war. »Da verderbe ick mir doch draußen bloß mein Zeug. Det spart – in de Stube sitzen. Det wirste schon sehen, wie lange deine Klamotten halten, Karl, jetzt wo de alle Tage uff de Straße liegst.«

»Ach was«, lachte er. »Das tut gerade gut, sich ordentlich durchpusten zu lassen. Und wenn die Kleider hinüber sind, gibt's neue, ich verdiene ja genug Geld!«

»Jetzt noch«, sagte sie warnend. »Hat denn der Felten noch imma keenen neuen Jungen?«

»Ach, der! Der ist, glaube ich, mit mir so zufrieden, daß er gar nicht mehr nach einem neuen sucht. Nicht mal gejammert hat er, als er mir meine zwanzig Mark ausgezahlt hat!«

»Und wie is det uff de Zeichenstube?«

»Auch im Lot, Rieke! Alles im Lot! Beim Oberingenieur bin ich Hahn im Korbe. Da sitze ich fest, auf der Zeichenstube kann ich hundert Jahre alt werden.«

Ach, der ahnungslose Knabe Karl! Wohl hatte er bei Rektor Tietböhl die Schillersche Ballade vom Ring des Polykrates auswendig lernen müssen, aber die richtige Nutzanwendung dazu, das Inwendige gewissermaßen, mußte ihm erst ein besserer Lehrer beibringen: das Leben selbst. Hundert Jahre sicherer Sitz in der Zeichenstube? Dieser ahnungslose Knabe – keine hundert Stunden saß er mehr sicher ... Denn gegen Mittag des nächsten Tages öffnete sich die Tür der Zeichenstube, und herein trat, an der Spitze einer Kommission, die er herumführte in seinem ausgedehnten Betriebe – herein also trat Herr Kalubrigkeit selbst, kurz, fett, schwärzlich, wiederum in einem Gehpelz, aber in einem noch viel feineren als damals auf der Baustelle, das sah Karl Siebrecht sofort. Karl Siebrecht trat in den Schatten eines großen Schrankes, Herr Kalubrigkeit machte eine umfassende, doch unsichere Geste durch den ganzen Raum: »Herr Oberbaurat! Meine Herren! Das sind nu alles meine Malersch!« Er schwieg, schielte unsicher auf das nächste Reißbrett, sah hastig weg und schwieg weiter. In der Gruppe, der er sich nun wieder zuwandte, wurde einiges gemurmelt. »Na ja«, sagte Herr Kalubrigkeit. »Da ist ja wirklich nicht viel zu sehen. Das ist ja immer dasselbe. Ich komme nie her. Gehen wir rauf, meine Herren, Herr Oberbaurat! Eine Treppe höher, da ist meine Finanzabteilung. Siebenundzwanzig Angestellte, die beiden Prokuristen nicht gerechnet –«

Seine Stimme verlor sich im Füßescharren der Auswanderer. Karl Siebrecht atmete auf – es wäre ihm doch nicht angenehm gewesen, hier vor allen Kollegen ... Übrigens hatte er in der Gruppe der Besucher sehr wohl den Herrn von Senden gesehen, dem hätte er gern guten Tag gesagt, aber es hatte sich wirklich nicht so gemacht. Auch die anderen Zeichner atmeten auf: je seltener der Chef kommt, um so gefürchteter ist er, um so leichter schlug jetzt wieder das Herz. Sie steckten die Köpfe zusammen, das Wort von den »Malersch« kursierte. Einige grinsten dazu, andere waren empört, vor allem Herr Feistlein. Oberingenieur Hartleben ging unermüdlich den langen Gang auf und ab, er sorgte dafür, daß allmählich wieder Ruhe wurde. Karl Siebrecht saß schon längst an seinem Zeichentisch, die Reißschiene klapperte, mit einem sanften Schnurren glitt die Reißfeder um das Kurvenlineal. Hinter ihm, über seine Schulter, sagte der Oberingenieur Hartleben: »Das war unser Chef, Karl. Kanntest du ihn schon?«

»Doch, ich habe ihn schon mal gesehen«, antwortete der Junge, ohne hochzublicken.

»Da regen sie sich künstlich auf«, sagte der Oberingenieur immer in seinem Rücken, »weil er sie ›Malersch‹ genannt hat, wo sie doch Zeichner sind. Sie sind empört, daß er ihre Arbeit nicht richtig würdigt. Aber keiner zieht die Konsequenzen und geht. Auch ich nicht. Verstehst du das, Karl? Es müßte dich eigentlich empören.«

»Jeder hängt an seinem Brot«, sagte Karl Siebrecht und blies sanft auf die Zeichnung, damit die Tusche schneller trocknete. »Auch ich hätte gerade jetzt meinen Posten ungern verloren.«

»Wir sagen alle immer ›gerade jetzt‹, Karl! Wir sind alle feige. Wir sind ein feiges Geschlecht geworden«, rief der Oberingenieur bitter.

»Gerade hier in Berlin habe ich das nicht gefunden«, antwortete Karl Siebrecht und dachte an Rieke Busch. »Ich finde, die Leute sind hier unglaublich zäh und mutig.«

»Und hast dich doch im dunklen Schrankwinkel versteckt, Karl!« sagte eine andere, etwas schleppende, etwas näselnde Stimme hinter ihm. »Ich habe dich wohl gesehen.«

Karl Siebrecht sprang auf. Sein Ärmel verwischte die noch nicht trockene Tusche, aber das sah er jetzt noch nicht. »Herr von Senden!« rief er und freute sich. »Ich habe Sie auch gesehen. Ich freu mich ...«

»Siehst du, Karl, das ist hübsch von dir«, meinte der Rittmeister, »und am hübschesten finde ich es, daß man dir deine Freude deutlich am Gesicht abliest. Die sitzen oben in ihrer Finanzabteilung und essen Kaviarbrötchen, wir können ruhig ein Wort miteinander plaudern. Wie gefällt es dir denn hier? Aber zuerst muß ich wohl den Herrn Oberingenieur Hartleben fragen, wie du ihm gefällst?«

»Er macht sich, er macht sich«, sagte der Oberingenieur lächelnd. »Seinen Jahren entsprechend, leistet er genug.«

»Nun, das freut mich zu hören«, meinte der Rittmeister. »Übrigens habe ich nie daran gezweifelt.«

Er hatte sich auf Karl Siebrechts Stuhl gesetzt und die Beine übereinandergeschlagen. Heute trug er zart himbeerfarbene Socken mit einem purpurnen Zwickel. Karl Siebrecht sah es sofort. Herr von Senden zog ein goldenes Zigarrettenetui aus der Tasche und bot es dem Oberingenieur, der mit einem Hinweis auf die strenge Ordnung der Zeichenstube ablehnte. Der Rittmeister aber nahm sich eine. »Ich will es riskieren«, sagte er. »Ich bin zwar nur stiller Teilhaber der Firma, sehr stiller sogar, aber immerhin ...« Nun brannte die Zigarette, und Herr von Senden wandte sich wieder an Karl. »Übrigens dachte ich gar nicht mehr, dich hier vorzufinden. Vor ein paar Tagen hatte ich abends eine Vision von einem Jungen, der dir glich wie ein Ei dem anderen. Dein Doppelgänger saß auf einem Dreirad und schob vor sich einen wahren Berg von Paketen her. Der bist du also nun doch nicht gewesen.«

»Doch, der bin ich auch gewesen!« sagte Karl Siebrecht und wurde ein wenig rot. Vor dem Rittmeister machte es ihm nichts aus, aber der Oberingenieur hätte es nicht zu wissen brauchen.

»War das nur so per Zufall«, fragte der Rittmeister weiter, »oder ist das eine Dauerbetätigung bei dir?« Er sah dabei nicht Karl, er sah die Asche seiner Zigarette an. Dann stippte er sie mit einem langen rosigen Fingernagel ab.

»Vorläufig mache ich das alle Abende«, sagte der Junge.

»Wegen Geld?« erkundigte sich der Rittmeister immer weiter.

»Auch!« antwortete der Junge immer wortkarger. Jetzt wußte er wieder, was er an dem Rittmeister auszusetzen hatte: der Mann war ein Bohrer. Er zerfaserte alles, schließlich blieb einem gar nichts Festes mehr in den Händen.

»Aber«, fragte der Rittmeister erstaunt, »sollte sich da nicht eine etwas würdigere und einträglichere Beschäftigung für dich finden lassen? Botenjunge auf einem Dreirad! Sicher hat Herr Hartleben dann und wann Überarbeit zu vergeben, die nicht schlecht bezahlt wird – nicht wahr, Herr Hartleben?« Der nickte.

Der Junge überlegte einen Augenblick, dann stürzte er sich kopfüber in seine Antwort. »Aber«, rief er, »ich will gar keine andere Arbeit! Die gefällt mir, das finde ich gerade so schön in Berlin, daß man hier tun und lassen kann, was man will! Daß keiner nach einem fragt! Warum ist denn das unwürdig, Botenjunge zu sein? Warum ist es würdiger, Zeichnungen zu machen? Ich versteh das nicht, und der richtige Berliner, soweit kenne ich Berlin auch schon, versteht das auch nicht. Wissen Sie, Herr Rittmeister, wie mir ein Mann das erste Trinkgeld in die Hand gedrückt hat, da habe ich gezuckt. Da hat er zu mir gesagt: ›Bist du zu fein, Geld zu verdienen? Da biste wohl auch zu fein, Brot zu essen?‹ – Sehen Sie, Herr Rittmeister, das war ein richtiger Berliner – der hat recht! Das ist das einzig Unwürdige: Brot zu essen, das man nicht verdient hat! – Verzeihen Sie, Herr Rittmeister, Sie habe ich natürlich nicht damit gemeint!«

Der Herr von Senden hatte ein wenig von seiner überlegenen Blasiertheit eingebüßt bei diesem jugendlich feurigen Ausbruch. Herr Oberingenieur Hartleben machte mit den Armen runde, beschwichtigende Bewegungen, als scheuche er ein Huhn vor sich her. Dem Jungen kamen beide Herren unsäglich komisch vor in ihrer Bestürzung – er mußte lächeln. Aber das Lächeln verging ihm, als eine fette, schleppende Stimme sagte: »Ach, Schwager, würdest du nicht einen Augenblick raufkommen und ein paar Worte mit dem Oberbaurat reden? Er macht nun doch Schwierigkeiten wegen der Bauerlaubnis. Nanu, wer ist denn das?«

Der Herr Kalubrigkeit mochte vom Bauzeichnen nichts verstehen und von der ganzen Bauerei wenig. Aber Menschenkenntnis hatte er, und ein Gesicht, das er einmal gesehen hatte, vergaß er so leicht nicht wieder. Er hatte einen von Koksstaub geschwärzten Karl Siebrecht gekannt, und nun sah er einen sauber gewaschenen Jüngling mit hohem Stehkragen, aber das konnte ihn nicht einen Augenblick irreführen. »Das ist ja der Kerl aus Pankow!« schrie Herr Kalubrigkeit, und seine Stimme wurde gellend. »Das ist ja der rote Hetzer, den ich vom Bau geschmissen habe! Das ist ja der Lump, der meinen Koks und mein Holz verschenkt, das ist der Kerl, der mir meinen Polier abspenstig machen wollte, der mir tausend Schwierigkeiten mit diesen Trockenmietern gemacht hat! – Was machen Sie denn hier –?!« Jetzt rückte der Kalubrigkeit dem Siebrecht direkt auf den Leib, und wie es sich gehört, wurde er dabei immer intimer. »Was hast du auf meiner Zeichenstube zu suchen?! Willst du etwa meine Maler aufhetzen, du Anarchist, du –?!«

»Einen Augenblick bitte, Schwager«, ließ sich Herr von Senden vernehmen, aber seine Stimme klang nur schwach gegen das Gebrüll des Selfmademannes.

»Keinen Augenblick, Schwager! Machst du, daß du von meinem Büro kommst, du Lümmel, du?! Auf der Stelle verschwindest du, oder ich lasse dich wegen Hausfriedensbruchs einstecken! Ich zähle bis drei – und wenn du dann nicht fort bist –! Eins – zwei – drei –!«

Vor sich das unabwendliche Ende, war Karl Siebrecht ganz ruhig geworden. Er hatte nicht die geringste Ursache, sich vor irgendwem zu verkriechen. So hatte er gelassen das »drei« abgewartet, und als ihn nun der Kalubrigkeit ansah, vor Wut fast berstend und doch schon voller Hohn, weil der Junge sich eines; Hausfriedensbruches schuldig gemacht hatte, sagte er: »Ich bin hier Bauzeichner bei Ihnen, Herr Kalubrigkeit, fest angestellt. So ganz ohne weiteres können Sie mich nun wohl doch nicht heraussetzen, glaube ich!«

»Bauzeichner!« schrie Herr Kalubrigkeit, nun brüllte er wirklich schon wie ein wilder Ochs. »Welcher Kerl hat die Unverschämtheit gehabt, diesen Lumpen hier einzustellen?! Ich schmeiße den Kerl raus!«

»Welcher Lump«, schrie nun auch Karl Siebrecht und trat dicht an Herrn Kalubrigkeit heran, »welcher Lump hat Ihnen das Recht gegeben, mich einen Lumpen zu nennen?!« Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter, er sah sich rasch um, es war die Hand des Rittmeisters. Unwillig schüttelte er sie ab, er schrie: »Sagen Sie das noch einmal, und Sie fliegen aus Ihrer Zeichenstube heraus, Herr Kalubrigkeit!«

Angesichts solcher Bedrohung hörte Herr Kalubrigkeit sofort mit Brüllen auf. »Ich will wissen, wer diesen Menschen eingestellt hat.«

»Ich, Herr Kalubrigkeit«, sagte der Oberingenieur, aber von irgendwelchem Männermut vor Fürstenthronen war aus seinen Worten nichts zu hören. Im Gegenteil, Herr Hartleben war sehr bleich, seine Stimme schwankte, er hielt das Auge gesenkt und sah weder seinen Brotherrn noch Karl Siebrecht an. Karl Siebrecht sah das wohl, er sah auch – mit einem flüchtigen Blick – die gespannten Gesichter seiner Kollegen, die erschrocken und doch irgendwie erfreut über diese anregende Unterbrechung ihrer Arbeit wirkten. Er sah aber auch den schmissigen Herrn Feistlein, der Schritt für Schritt leise der verhandelnden Gruppe näher zog: wo der Löwe jagt, wittert die Hyäne Beute.

»Warum haben Sie den Mann eingestellt?« fragte Herr Kalubrigkeit.

»Ich ...« Der Oberingenieur hob nun doch das Auge und sah in der Richtung des Herrn von Senden. Aber von da kam kein Wort. Herr von Senden betrachtete nachdenklich die Asche seiner Zigarette, dann schnippte er sie mit dem langen rosigen Nagel ab.

»Nun –?« drängte Herr Kalubrigkeit.

»Der junge Mann ist ein ganz fähiger Zeichner – für seine Jahre«, sagte der Oberingenieur, als gar keine Hilfe kam. »Ich hatte natürlich keine Ahnung, daß Sie ihn schon hatten tadeln müssen, Herr Kalubrigkeit.«

»Ich habe den Bengel vom Bau geschmissen!« schrie in einem neuen Wutanfall der Unternehmer.

»Hätte ich das gewußt, ich hätte natürlich nie –«

»Und das nennen Sie einen fähigen Zeichner, Herr Hartleben?« rief Herr Kalubrigkeit und deutete auf das Reißbrett des Jungen. »Dies Geschmier nennen Sie wohl eine Bauzeichnung?! Ich muß mich doch sehr wundern, Herr Hartleben, darüber sprechen wir noch –«

Und wahrhaftig, was da auf dem Reißbrett von Karl Siebrecht zu sehen war, sah nicht nach einer Bauzeichnung aus. Der Jackenärmel des hochfahrenden Jungen hatte gründliche Arbeit geleistet: es war Geschmier! »Ich verstehe es nicht«, stammelte der Oberingenieur. »Er hat sonst nie –«

Auch jetzt nicht die geringste Hilfe von Herrn von Senden. Dafür sagte Herr Feistlein schneidig: »Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Herr Kalubrigkeit! Ich möchte feststellen, daß ich mehrfach die schwersten Bedenken gegen den Jungen bei Herrn Hartleben erhoben habe. Freilich ohne Gehör zu finden. Meiner Ansicht nach ist dieser Bengel faul, unfähig, vor allem aber zu Widersetzlichkeiten geneigt.«

»Und das lassen Sie sich gefallen, Herr Oberingenieur?!« rief Karl Siebrecht dem bedrückt Dastehenden zu. »Von diesem fetten Kerl, der raucht und säuft und sich immer, wenn Sie mal fort sind, von der Arbeit drückt?! Da meutern Sie nicht –?! Und Sie sagen kein Wort, wenn der feine Herr von Senden nicht verraten will, daß Sie mich auf seine Empfehlung eingestellt haben, jawohl, nur auf Ihre Empfehlung, Herr Rittmeister!«

»O heilige Einfalt ...« murmelte der Herr von Senden.

»Hübsche Dinge hört man da, hübsche Dinge«, meinte Kalubrigkeit. »Nun, darüber werden wir später reden, wir müssen jetzt hinauf zum Oberbaurat, Schwager. – Herr Hartleben, geben Sie diesem – Jungen seine Papiere und soviel Geld, wie er eben zu kriegen hat. In fünf Minuten ist er aus der Zeichenstube – verstanden?!«

»Jawohl, Herr Kalubrigkeit«, sprach der Oberingenieur.

Ein paar Minuten später stand Karl Siebrecht vor dem Oberingenieur. »Ich habe«, sagte er eilig, »dir auch ein Zeugnis ausgeschrieben, das ist alles, was ich noch für dich tun konnte.«

»Es tut mir leid, daß Sie soviel Unannehmlichkeiten meinetwegen haben.«

»Ach! Es geht schon in einem hin. Ich werde eben alt, mein Junge, du weißt noch nicht, was das heißt, und Herr Feistlein ist mehr nach dem Sinne unseres Chefs.«

»Der Rittmeister hätte Ihnen beispringen müssen«, sagte der Junge. »Ich hätte nie gedacht, daß er so feige ist!«

»Er will sich wohl bei seinem Schwager keine Läuse in den Pelz setzen. Der Kalubrigkeit ist eben der, der das Geld verdient. Und darum hängen wir von ihm ab und haben keinen Mut vor ihm. Das sind eben die Menschen, Karl.«

»Nein, das sind sie eben nicht!« antwortete der Junge. »Sie sind älter und viel klüger als ich, Herr Hartleben, aber das weiß ich nun doch besser. So sind die Menschen nicht, und so können sie auch gar nicht sein. Sonst kämen nur die Lumpen hoch und trampelten die anständigen Leute unter die Füße. Ich, ich werde anders hochkommen, und wenn ich hochgekommen bin, werde ich zu meinen Leuten anders sein.«

»Ich will es dir wünschen«, sagte der Oberingenieur trübe. »Also, mach es gut, Karl, du weißt, ich werde dich vermissen. Ich habe immer gerne an deinem Zeichentisch gestanden. Viel Glück, Karl!«

»Ich danke Ihnen auch schön, Herr Oberingenieur. Und ich wünsche Ihnen auch viel Glück!« Der Oberingenieur seufzte bloß. Die Tür des Zeichensaales schlug hinter Karl Siebrecht zu. Die hundert Jahre seines Sichersitzens waren vorüber.


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