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122. Der Sohn Karl Flau

Das Innere der Annahmestelle war von einem übergeschäftigen Treiben erfüllt. Selbst an diesem hellen Sommertag herrschte hier halbe Dunkelheit, ein paar grünbeschirmte elektrische Lampen beleuchteten die Männer und die Kofferberge. Wie immer, wenn Karl Siebrecht hierherkam, schüttelte er den Kopf. »Hier herrscht ja wieder mal eine Affenhitze!« sagte er mißbilligend. »Wieviel Grad haben wir denn, Kiesow?«

»Neunundzwanzig Grad im Schatten, Herr Direktor«, sagte Kiesow. »Eigentlich müßten wir hitzefrei kriegen wie die Kinder in der Schule.« Er sah seinen ehemaligen Feind und jetzigen Arbeitgeber mit ruhigem Lächeln an.

»Sie sind ja heute so vergnügt, Kiesow?« fragte er. »Was ist denn los mit Ihnen?«

»Ich geh morgen in Urlaub, Herr Direktor, mir kann die Hitze piepe sein. Ich mach an die See, mit meiner ganzen Familie, für drei Wochen.«

»Ist Herr Kunze drin?« fragte Karl Siebrecht mit einem Deuten des Kopfes nach dem Innern des Schalterraums.

»Jawohl, Herr Direktor, der schimpft schon eine halbe Stunde herum. Dem ist auch zu heiß!«

Karl Siebrecht trat in den Innenraum, wo, auch bei elektrischem Licht, zwei Buchhalter in Hemdsärmeln schrieben. Herr Kunze, der über Abrechnungen am Tisch gesessen hatte, hob den Blick: »Neunundzwanzig Grad, Siebrecht!« sagte er vorwurfsvoll.

»Ich hab's auch schon gemerkt«, antwortete Karl Siebrecht lachend und hängte seinen Staubmantel an einen Haken. »Man möchte wahrhaftig die Kleider dazuhängen! Aber das wird jetzt auch anders. Wir haben die Bewilligung: wir brechen hinten durch, bekommen noch einen Raum dazu, Fenster und Luft.«

»Gottlob!« sagte Kunze. »So war's auch nicht mehr zu machen!«

»Und sonst? Wie steht's hier? Ich wollte mich doch noch mal persönlich umsehen, ehe ich in Urlaub – Aber was ist denn das?« unterbrach er sich und sah staunend einen braungebrannten Marineblauen in der Tür an.

Einen Augenblick betrachteten sich die beiden ehemaligen Freunde schweigend.

Dann machte Karl Siebrecht eine Handbewegung. »Komm herein zu mir, Kalli!« sagte er.

»Meine Frau und mein Junge warten da hinten«, antwortete Kalli.

»So komme ich zu euch, Kalli«, sagte Karl Siebrecht sofort. »Wenn es euch recht ist, heißt das.«

»Natürlich ist es uns recht, Karl. Wir sind eigentlich nur nach Berlin gekommen, um dich zu sehen. Das erste Mal nach all den Jahren.«

»Nun, du wirst finden, daß sich Berlin ein wenig verändert hat. – Einen Augenblick, Kalli, ich hole nur Mantel und Hut.«

»Ist schon recht, Karl, ich warte solange.«

Aber er hatte kaum zu warten, Siebrecht war sofort zurück. »Ich freue mich, Kalli, daß ich dich sehe! Immer noch das alte, gute, getreue Gesicht. Wie die Zeiten von damals wieder wach werden, wenn ich dich so ansehe! Denkst du noch manchmal an die alten Zeiten, Kalli?«

»Ja, wir denken noch oft daran zurück, Rieke und ich.«

»Wo hast du sie denn? Ich muß doch Rieke auch gleich guten Tag sagen! Und einen Jungen habt ihr? Ich habe leider noch immer keine Kinder. Wo sind sie also?«

»Irgendwo da hinten.«

»So laß uns doch zu ihnen gehen! Warum stehen wir hier noch? Ich bin so gespannt –«

»Einen Augenblick, Karl.« Kalli berührte ihn an der Schulter. »Wenn du jetzt Rieke und den Jungen siehst ...«

»Ich weiß doch, Kalli! Selbstverständlich ist alles vergeben und vergessen, das heißt, ich hatte wohl nichts zu vergeben, Rieke schon eher.«

»Ach nein, das meine ich nicht. Das ist natürlich alles in Ordnung. Aber wenn du jetzt Rieke und den Jungen siehst, ich meine besonders unseren Jungen – gerade ich hänge besonders an ihm ... Wir haben noch mehr Kinder ... Aber gerade der Junge ...«

»Nun, was ist, Kalli? So kenne ich dich gar nicht, du bist ja fast verlegen. Selbstverständlich hängst du besonders an dem Jungen, er ist ja wohl euer Ältester? Was willst du mir denn sagen?«

»Ja, er ist der Älteste, und ich glaube, ich sage dir gar nichts!« Kalli Flau hatte sich jetzt entschlossen, seine Verlegenheit war gewichen, er war wieder ruhig und sicher geworden. »Komm, Karl, du wirst schon sehen ...«

Ein wenig verwundert folgte ihm Karl Siebrecht, ohne jede Ahnung von dem, was ihn erwartete. Es zeigte sich, daß Rieke und ihr Sohn hinter dem Zeitungskiosk gestanden hatten. »Ich freu mich, Rieke«, sagte Karl Siebrecht und schüttelte ihr die Hand. »Das war eine vernünftige Idee, daß ihr mich mal besucht! Ganz wie sonst siehst du aus, Rieke, völlig wie früher. Nur frischer und so braun gebrannt! Damals warst du immer blaß! Ach, Rieke, mach endlich den Mund auf. Ich muß doch hören, ob du noch so redest wie früher!«

»Ja, Karl«, antwortete Rieke lächelnd. »Det Berlinisch, det is waschecht bei mir, det is richtig indanthren. Du hast et nich weggekriegt, und die aufs Land kriegen et ooch nich weg. Det bleibt. – Aba Fett haste ooch nicht anjesetzt, Karl. Haste denn so ville zu tun? Und imma noch mit det olle Jepäck, det dir det nich üba wird!«

»Nein, das wird mir nicht über. Es wächst und wächst, jetzt fahren wir schon bald mit hundert Wagen!« Er wandte sich zu dem Jungen, der halb hinter der Mutter gestanden hatte. »Und das ist also euer Ältester. Guten Tag, mein Sohn –« Er hielt plötzlich inne, so erschrocken war er. »O Gott!« sagte er noch halblaut, und dann verstummte er ganz, den Jungen betrachtend. Denn der, der da vor ihm stand, das war er selbst, er selbst, wie er mit zehn, elf Jahren ausgesehen haben mußte. Dasselbe blonde Haar, der gleiche lange Kopf mit dem schmalen Gesicht und den etwas kühlen blauen Augen, der trotzige Mund mit den aufgeworfenen Lippen ... »O Gott!« hatte er gesagt und war verstummt, ganz in die Betrachtung des Jungen versunken.

Die beiden, Rieke und Kalli, beobachteten ihn stumm. Der Junge sah ihn aufmerksam und kühl an und befreite dann seine Hand aus der des fremden Herrn, der sie gar nicht wieder loslassen wollte. »Kalli«, sagte Rieke dann, »sei so jut und hole mit Karlen det Jepäck und beleg jleich Zimma im Hotel hier jerade jejenüba. Ick jeh mit Karlen – jetzt meene ick Karl Siebrechten – erst mal een Stück, saren wa in de Eichendorffstraße. Ick möchte den ollen Laden mal wiedasehen – wenn dir det recht is, Karl, heeßt det?«

»Natürlich, Rieke, das ist mir schon recht ...«

»Na, denn uff Wiedasehn, Kalli. Hilf Vata'n, Karle, und sieh, det ihr een jrosset Zimma kriegt. Da kannste bei uns uff de Chaise schlafen, und broochst dir nich zu fürchten, so alleene in Berlin!«

»Ich fürchte mich schon nicht vor Berlin, Mutter! Ich will mir alle Autos ansehen – kennen Sie alle Marken, auch die ausländischen?« fragte der Junge Karl Siebrecht.

»Doch, die kenne ich alle, und ich werde sie dir auch alle zeigen, Karl«, antwortete Karl Siebrecht, dem noch immer war wie halb im Traum.

»Haste jehört?« fragte Rieke, als die beiden gegangen waren, »er spricht ganz richtig deutsch, nich wie seine Mutta, da druff hat Kalli imma jesehen.« Leiser setzte sie hinzu: »Und er hat ooch jenau deine Stimme, Karle.«

»Wann ist der Junge geboren, Rieke?« fragte Karl Siebrecht. Sie waren jetzt aus dem Bahnhof getreten und gingen auf die Eichendorffstraße zu. Karl Siebrecht konnte Rieke nicht ansehen, er blickte gerade vor sich hin. Er war so erregt, er war kaum seiner Stimme mächtig. Er hatte einen Sohn! Seit Jahren hatte er einen Sohn, und er hatte nichts davon gewußt! Es mußte sein Sohn sein, er fühlte es!

»Er ist so um drei Monate nach de Scheidung jeboren, Karle«, sagte Rieke jetzt, »Da waren wa schon bei Tante Bertha.«

»Und warum habt ihr mir kein Wort davon gesagt, Rieke?« sagte Karl Siebrecht ganz leise. »Mein ganzes Leben wäre wohl anders geworden, wenn ich gewußt hätte ...«

»Ja, vielleicht biste jetzt böse uff uns, Karle«, fing Rieke Flau wieder an, »det wir det so jeschoben haben. Aba det kannste dir doch denken: ick hatte so nen mächtigen Rochus uff dir und wollte nischt hören und sehen von dir. Und denn, als ick wieda friedlich wurde, war det eijentlich zu spät.«

»Oh, ich verstehe euch schon, Rieke«, antwortete Karl Siebrecht, der bei ihrer klaren, vernünftigen Art auch ruhiger geworden war. »Wahrscheinlich habt ihr alles ganz richtig gemacht. Aber es war eben doch ein Schreck für mich, Rieke, nicht wahr?«

»Aba es war doch een juter Schreck, Karle, wat?«

»Doch, ein guter Schreck, Rieke, ja. Er sieht mir so ähnlich ...«

»Und er is et ooch, innerlich, meene ick, Karl. Janz anders wie unsre andern Jöhren. Drei haben wa noch, zwei Mädels und eenen Jungen. Aba Karl is viel schwieriger, der is jerne for sich und red't ooch nich jerne, und imma über de Bucha. Der taugt nich for 'nen Hof, Karle!«

»Und darum –?«

»Ja, Karle, darum ham wa'n jetzt endlich zu dir jebracht. Kalli meente ooch, du müßtest ihn dir mal ansehn. Wat sein Lehrer is, der sagt ja, er muß uff 'ne höhere Schule. Er hat die Jaben.«

»Ihr wollt ihn mir also ganz lassen? Ach, Rieke, ich sehe, ihr seid doch meine guten Freunde geblieben!«

»Wat sollten wa ooch nich? Wat jewesen is, det is vorbei und vajessen, det war een Irrtum von dir, und am meesten von mir. Jetzt is det wieda janz wie früha, als wa noch in de Wiesenstraße wohnten und waren nischt wie jute Freunde. Det war doch ne sehr schöne Zeit, Karle, wat?«

»Das war es! Weißt du noch unseren Kampf um die Engländerin? Lebt sie denn noch? Näht sie denn noch?«

»Die näht, dadruff valaß dir! – Ja, Karle, nu sag aba mal: wie is det denn nu mit dir? Du bist doch ooch wieder vaheirat? Du trägst doch 'nen Ring!«

»Ja, ich bin wieder verheiratet.«

»Kenn ick ihr?«

»Ja, du hast sie einmal gesehen. Das junge Mädchen, weißt du, das ich in der Nacht gefahren hatte und das mich dann aufsuchte ...«

»Ach, die kleene Dunkle?« Rieke war sehr verwundert. »Komisch is det! Damals hab ick euch ja beide rausgeschmissen, weil ick dachte, ihr hättet wat miteinanda, aba späta hab ick mir jesagt, det war alles bloß eifersüchtije Inbildung. Und nu also doch!«

»Damals war aber wirklich noch nichts, Rieke. Wir kannten uns damals noch gar nicht. Aber das sind alles alte Geschichten, die wir ruhen lassen können.«

»Da haste recht. Aba, Karle, nu die Hauptsache, wat wird denn deine Frau zu Karlen sagen? Habt ihr selbst denn keene Kinda?«

»Nein, Rieke, wir haben keine. Und das macht die Sache leichter, vielleicht macht es sie aber auch schwieriger – ich habe keine Ahnung, wie meine Frau das aufnehmen wird.«

»Ick vasteh schon, Karle, det kann ooch sehr schmerzlich for ihr sind. Jedenfalls mußte erst mit ihr reden. So überraschen, wie wa dir überrascht haben, darfst ihr nich.«


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