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94. Die Firma kommt in Gang

In den nun folgenden Wochen fand Karl Siebrecht immer mehr Grund, mit Bewunderung und Dankbarkeit an Hertha Eich zu denken. Er bewunderte ihre Klugheit, er war ihr dankbar für den Takt, mit dem sie sich gerade in diesen arbeitsreichen Wochen ihm entzogen hatte. Sie mußte es vorausgesehen haben, daß ihre Nähe ihn nur verwirren und ablenken würde. Das Vertrauen, mit dem sie eine große Summe Geldes, vielleicht ihr ganzes Vermögen, in seine Hände gelegt hatte, rührte ihn tief. Und wieder bewunderte er ihre Geschicklichkeit, mit der sie ihn ohne ein Wort an die Anwälte Lange & Messerschmidt verwiesen hatte, zwei herrliche Leute, soweit derart behutsame und förmliche Juristen herrlich sein können.

Karl Siebrechts bisherige Erfahrungen mit Anwälten waren wenig ermutigend gewesen, aber diese Anwälte der Familie Eich – einfach ausgezeichnet! Er hätte nicht gewußt, wie er in diesen Wochen ohne sie weitergekommen wäre. Er ging in ihrem Büro aus und ein, er nickte dem Bürovorsteher freundschaftlich zu, tauchte im Allerheiligsten unter und trug seine Sorgen vor. Lange & Messerschmidt hörten ihm zu, manchmal beide, manchmal nur einer. Sie schienen immer Zeit zu haben, und sie wußten für alles Rat. Sie fanden für ihn die ausgezeichneten und gar nicht so teuren Büroräume in einem großen Haus in der Nähe des Potsdamer Platzes, glänzend zwischen den wichtigsten Bahnhöfen gelegen. Sie besorgten ihm den Bürovorsteher Körnig, der sich als eine Perle erwies. Sie führten die schwierigsten Verhandlungen für ihn, mit einer unendlichen Geduld und Aufmerksamkeit, immer auf seinen Vorteil bedacht. Ja, in der entscheidenden Besprechung mit den Herren und Anwälten der Bahn griffen sie sogar Herrn Eich mit Hartnäckigkeit an und setzten ihm so sehr zu, daß er in der Tariffrage wesentliche Zugeständnisse machte. Und Herr Eich war doch in seinem Privatleben ihr eigener Mandant, sie waren die Anwälte seiner Familie! Vielleicht wäre es richtiger gewesen, auch die Absage an Herrn Engelbrecht den Anwälten anzuvertrauen. Aber Karl Siebrecht fand, diesen Weg mußte er allein gehen. Er war sich klar, Engelbrecht würde nicht erfreut über die Zurückweisung seiner Beteiligung sein.

Nein, Engelbrecht war wirklich ganz und gar nicht erfreut, sein fahles Gesicht wurde noch fahler, die unruhigen Augen stachen. »Wieso?« fragte er. »Warum nicht? Ist Ihnen mein Geld nicht gut genug? Stinkt mein Geld etwa?«

»Aber nein!« sagte Karl Siebrecht. »Nur, die Sache ist die: ich habe schon genug Geld, ich habe überreichlich Geld. Ich kann es im Augenblick nicht unterbringen ...«

»Lassen Sie es liegen, bis Sie es gebrauchen können!«

»Dann müßte ich Sie am Gewinn beteiligen, und das kann ich nicht, wenn Ihr Geld nicht arbeitet.«

»Als Sie mich nach dem Gelde fragten, sagten Sie mir, ich sei der erste! Ich habe also auch ein Recht darauf, als erster beteiligt zu werden. Weisen Sie doch den letzten zurück!«

»Sie waren nicht der erste. Ich hatte schon Zusagen von anderer Seite.«

»Dann haben Sie also damals gelogen!«

Karl Siebrecht schwieg, dann sagte er: »Herr Engelbrecht, warum sind Sie denn so ärgerlich? Was kann Ihnen groß daran liegen, Ihr Geld in meinen Betrieb zu stecken? Sie haben doch wahrhaftig Anlagemöglichkeiten genug für Ihr Geld!«

»Was wissen Sie davon?« fragte der Händler böse. »Ich will wissen, warum mein Geld zurückgewiesen ist! Was haben die gegen mich?«

»Aber gar nichts! Wir können das Geld im Augenblick einfach nicht gebrauchen!«

»Wenn die was gegen mich haben, warum werden Sie dann genommen? Ich denke, Sie haben Zicken genug gemacht!«

In diesem Augenblick erkannte Karl Siebrecht, daß Herr Eich recht gehabt hatte, den Händler Engelbrecht zurückzuweisen. Herr Engelbrecht war auch nicht anders wie der Franz Wagenseil unseligen Angedenkens, er hatte weder Bedenken noch Hemmungen. »Ich weiß nichts von Zicken, die ich gemacht habe«, sprach Karl Siebrecht kühl, »ich weiß auch nichts von Ihren Zicken, Herr Engelbrecht. Es müßte denn sein, Sie denken jetzt an die halbtoten Zossen, die Sie in den Stall da drüben verkauft haben!«

Der Händler schnaufte. Er war so zornig, daß er nicht einmal sprechen konnte, er schnaufte nur noch.

»Dann also adieu, Herr Engelbrecht. Es tut mir leid, daß es so mit uns zu Ende gehen muß.« Siebrecht wandte sich zur Tür.

Mit einem Satz war der Händler ihm nach. Er legte ihm die Hand, diese schlaffe Hand, schwer auf die Schulter und keuchte: »Und mein Lastauto? Denken Sie, ich lasse Sie mit meinem Lastauto abziehen? Glauben Sie, ich habe es Ihnen geschenkt, damit Sie jetzt mit anderen Leuten die guten Geschäfte machen? Sofort geben Sie mir meinen Lastwagen zurück!«

Einen Augenblick überlegte Karl Siebrecht. Nun verstand er, warum ihm Engelbrecht damals den Lastwagen »geschenkt« hatte. Es war nicht Großmut gewesen, es war auch nicht nur Freude über das gute Geschäft gewesen, nein, das Lastauto war eine Lockspeise gewesen – der Händler hatte an die Gepäckabfuhr gedacht.

»Wegen des Lastwagens werde ich mit meinen Anwälten reden«, sagte Karl Siebrecht kühl. »Eventuell bekommen Sie später Bescheid.«

Er scheute sich aber doch, vor seinen Anwälten dies Kapitel seines Lebens aufzurollen. Er war zu glücklich in der Rolle des jungen Direktors im Berliner Bahnhof-Eildienst. Lieber vereinbarte er eine nächtliche Zusammenkunft mit dem Kriminalassistenten Bomeyer. »Mach dir keine Gedanken, mein Sohn«, sagte Dumala-Bomeyer. »Der Engelbrecht ist ein fauler Kopp, das wissen wir auch. Ich werde mit dem Knaben murmeln, und du wirst deine Ruhe haben. Freilich, einen Feind hast du, und wenn er dir eins auswischen kann, wird er es tun, darauf verlaß dich!«

»Ach, was soll er mir tun können!« sagte Karl Siebrecht und vergaß sofort wieder Dumala-Bomeyer und Engelbrecht.

Denn soviel Arbeit ihm die Anwälte auch abnahmen, den eigentlichen Aufbau der Gepäckabfuhr mußte er allein erledigen. Diesmal half ihm kein Kalli Flau, diesmal hatte er keine Zeit, langsam einen Stamm kundiger Männer heranzubilden. Von heute auf morgen mußte wenigstens der Bahnhofsdienst in Ordnung sein. Wie er herumlief, wie er Männer annahm, anlernte, immer wieder dasselbe sagte, immer wieder erfuhr, daß doch nicht getan wurde, was er anordnete, wie er Geduld lernen mußte, wo er am liebsten gebrüllt hätte! Von morgens bis abends war er von einem Bahnhof zum anderen unterwegs – er hatte sich einen kleinen alten Personenwagen gekauft, einen Laubfrosch, wie so ein Ding damals hieß –, und wenn der letzte Zug gefahren war, wenn der letzte Lastwagen in seiner Garage verschwunden war, eilte er auf das Büro am Potsdamer Platz. Dort erwartete ihn Herr Körnig, grau, sorgenvoll, aber eifrig. Briefe wurden diktiert, Gehaltsfragen besprochen, Geldeingänge geprüft, die ersten noch so ungewissen Kalkulationen aufgestellt. Vorläufig arbeitete die Firma noch mit Verlust, aber vorläufig fuhr auch noch die ganze Konkurrenz, der Vertrag mit der Bahn war noch nicht abgeschlossen.

»Wir müssen an Gehältern und Löhnen sparen, was wir nur können, Herr Körnig«, sagte er immer wieder. »Jeder Groschen Stundenlohn, den wir nur herausholen können, muß rausgeholt werden. Das Geld ist entsetzlich knapp.«

Herr Körnig neigte beistimmend sein graues Haupt. »Und trotzdem muß ich unbedingt noch eine Dame hier fürs Büro haben«, sagte er kummervoll. »Eine Lohnbuchhalterin, die auch ein bißchen was von Kalkulation versteht.«

Auch der Herr Direktor Siebrecht seufzte kummervoll. »Ich will es mir überlegen, Herr Körnig. Wenn es unbedingt sein muß. Aber zwei oder drei Tage geht es wohl noch so?«

»Es muß eben gehen«, antwortete Herr Körnig ergeben. »Vergessen Sie es nur nicht, Herr Direktor!«

Karl Siebrecht vergaß es nicht, das Schicksal selbst half ihm. Denn ein oder zwei Tage später meldete ihm Herr Körnig: »Eine Dame wartet auf Sie schon seit zwei Stunden. Sie sagt, sie kennt Sie, sonst hätte ich sie hier gar nicht sitzen lassen in der Nacht.«

Siebrecht eilte hastig zu der wartenden Dame. Immer wenn ihm in diesen Wochen eine wartende Dame gemeldet wurde, dachte er an Hertha Eich. Aber auch diesmal war sie es nicht, die da in der Nacht auf ihn wartete, aber es war wirklich eine alte gute Bekannte, es war die Palude!

Die Palude, jetzt grauhaarig, aber mit zeitgemäßem Herrenschnitt, erhob sich, schüttelte ihm die Hand und sagte: »Ich habe in der Handelszeitung von der Gründung Ihrer Firma gelesen, Herr Siebrecht. Da wollte ich mich doch einmal nach Ihnen umsehen. Aber so fein wie jetzt haben wir es damals nicht gehabt!«

»Dafür haben wir heute noch mehr Sorgen als damals, Fräulein Palude. Das Geld ist entsetzlich knapp.« – Siebrecht hatte schon entdeckt, daß er diesen Satz ein wenig häufig gebrauchte. Er drückte präzis seine Hauptsorge aus. – »Und wann fangen Sie wieder an, bei uns zu arbeiten? Wir brauchen gerade eine tüchtige Lohnbuchhalterin, die auch ein wenig Ahnung von den Gepäcktarifen hat!«

Fräulein Palude lachte, sie versicherte, deswegen wäre sie nicht gekommen. Aber sie ließ mit sich reden, die alte Anhänglichkeit zog. Sie sträubte sich eine Weile, dann sagte sie ja. Sie konnte es sogar zu Herrn Körnigs Erleichterung so einrichten, daß sie schon vor dem Ersten eintrat, und vorher schickte sie noch einen Getreuen aus der Eichendorffstraße, den rothaarigen, sommersprossigen Lehrling Bremer. Der war nun freilich längst kein Lehrling mehr, er hatte den ganzen Krieg mitgemacht. In der Inflation hatte er eine Wechselstube besessen und war ein recht vermöglicher Mann gewesen. Dann aber hatte er nicht an den Bestand der Rentenmark geglaubt und hatte auf Baisse spekuliert, wobei er alles verlor. Nun war er gerade wieder dabei, von vorn anzufangen wie so viele. – Er war noch immer rothaarig und sommersprossig, aber er war ein scharfäugiger, kühler Mann geworden, einer jener Geschäftsleute etwas amerikanischen Typs, die nicht viel von Gefühlen belästigt werden. Der geborene Personalchef, dachte Karl Siebrecht. Mein künftiger Personalchef. Und er stellte den Egon Bremer ein, mit einem Monatsgehalt, das Herrn Körnig zuerst entsetzte. Er sah aber bald, daß dieser Mann sein Geld wert war. Unermüdlich war Bremer im Geschäftslaubfrosch unterwegs, kontrollierte die Autos, die Gepäckstellen, die Abrechnungen, genierte sich keine Minute, auch einmal als Chauffeur für einen Erkrankten einzuspringen, tippte nach Büroschluß stundenlang Aufstellungen – und war immer gleichmäßig kühl, sachlich, gut gelaunt, etwas hundeschnäuzig.

Wieviel alte bekannte Gesichter um Karl Siebrecht wiederauftauchten aus seiner früheren Glückszeit! Manchmal hielt er inne, und ihm war ganz so, als sei alles dazwischen nur ein langer böser Traum gewesen, Krieg und Inflation, als sei er jetzt erst wieder heimgekehrt. Aber zwei Gesichter fehlten unter den bekannten: die geliebtesten und getreuesten. Er seufzte und ging wieder an die Arbeit. Nein, er war nicht mehr zwanzig, er war nun über dreißig, er hatte Fell zusetzen müssen wie alle!


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