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93. Hertha Eich verreist

»Ja, ich weiß«, sagte Karl Siebrecht, »daß Herr Eich mich erst um halb neun erwartet. Aber ich hätte vorher gern noch das gnädige Fräulein gesprochen. Würden Sie mich bitte anmelden?«

»Das gnädige Fräulein ist verreist«, sagte das Mädchen höflich.

Er war wie vor den Kopf geschlagen. »Aber wieso –?! Ich habe doch erst gestern abend hier mit ihr ... Ich habe doch heute noch einen Brief von ihr bekommen. Das heißt, natürlich nicht von ihr ...« verbesserte er sich, denn dies hätte er lieber nicht gesagt.

»Das gnädige Fräulein ist heute mittag abgereist«, sagte das Mädchen.

»Ach so! Ja richtig!« sagte er. Es war an der Zeit, daß er seine Fassung wiedergewann. Hertha Eich hielt eben mühelos jeden Rekord in Überraschungen. »Ich komme dann also um halb neun wieder. – Wann wird übrigens das gnädige Fräulein zurückerwartet?«

»Ich kann es wirklich nicht sagen«, antwortete das Mädchen, und nun stieg er die Treppe wieder hinunter. Die nächste halbe Stunde, bis er zum zweitenmal an der Eichschen Tür klingeln konnte, war nicht angenehm. Ärger, Wut, Enttäuschung, Unentschlossenheit, alles zog an ihm vorüber, vermengte sich, stritt miteinander. Er war überzeugt, daß sie nur darum so überraschend abgereist war, um eben das zu verhindern, was er für notwendig hielt, daß er sie noch einmal sprach, ehe er den Scheck vorlegte oder vernichtete. Natürlich würde er ihn nun vernichten, nie würde er den Scheck benutzen, nie!

Auch die Unterhaltung mit Herrn Eich verlief bei weitem nicht so ruhig und freundlich wie die am Abend zuvor. Herr Eich schien von vornherein zeigen zu wollen, daß er kein stiller Teilhaber war. Den Kopf in die Hand gestützt, sah er die drei Erklärungen durch, schweigend, überlegend. Dann nahm er mit spitzen Fingern ein Blatt und gab es an Siebrecht zurück. »Ich glaube, diesen Herrn scheiden wir besser aus«, sagte er.

»Aus welchem Grunde?« fragte Karl Siebrecht und fühlte schon, daß er bei der kalten Ablehnung des anderen zornig wurde.

»Ich weiß zufällig einiges über den Herrn«, sagte Herr Eich kühl. »Nicht wahr, eigentlich ist er Viehhändler? Ich bin der Ansicht, er gehört nicht in eine Firma wie die Ihre.«

»Er wird nur stiller Teilhaber sein«, widersprach Karl Siebrecht. »Er hat auf jedes Mitbestimmungsrecht verzichtet.«

»Es ist nicht ganz gleichgültig«, sagte Herr Eich, »woher das Geld stammt, mit dem eine Firma arbeitet.«

»Ich habe Herrn Engelbrecht in manchem Jahr als zuverlässigen und ordentlichen Geschäftsmann gekannt«, widersprach Siebrecht hartnäckig.

»Täuscht Sie da nicht Ihr Gedächtnis?« fragte Herr Eich und legte die Fingerspitzen zusammen. »Ich habe in unseren Akten einen Hinweis gefunden, daß er Ihnen einmal mit anderen einen sehr üblen Streich gespielt hat.«

»Mir? Einen üblen Streich? Der Engelbrecht? Nie!« rief Karl Siebrecht entrüstet. Dann dämmerte es ihm langsam. Er wurde rot.

Herr Eich hatte kein Auge von ihm gelassen. Jetzt sagte er sanfter: »Also hatten Sie es wirklich vergessen, das befriedigt mich in gewissem Maße. Das Ganze war doch eine recht zweifelhafte Aktion, nicht wahr? Dieser Austausch der guten Pferde gegen die schlechten –«

»Aber Engelbrecht braucht von all diesen Dingen nichts gewußt zu haben«, versuchte es Siebrecht ein letztes Mal. Es tat ihm leid um den Mann, er hatte heute sofort ja gesagt, und ihm verdankte er den Lastwagen.

»Es ist nicht anzunehmen, daß ein so – erfahrener Handelsmann wie Herr Engelbrecht nicht dieses faule Geschäft durchschaut hat.«

»Der Mann ist mir in den letzten Jahren mehrfach behilflich gewesen, ich würde ihn ungern ausschließen«, bat Siebrecht.

»Eben«, nickte Herr Eich. »Weil er Ihnen in gewissen Dingen behilflich war. Wir waren uns gestern schon einig, daß es mit diesen gewissen Dingen endgültig Schluß ist, nicht wahr?«

Sie sahen sich beide an. Dann sagte Karl Siebrecht: »Es ist gut, ich werde auf ihn verzichten. – Dann sind es aber keine hunderttausend Mark mehr.«

»Nein, dann sind es keine hunderttausend Mark mehr«, antwortete Herr Eich und sah sein Gegenüber an.

Eine Weile betrachteten sie sich so schweigend, der gelbliche, ältere Mann und der junge mit den frischen Farben. Der Blick des dunklen Auges traf sich mit dem Blick des hellen. Keiner blinzelte. Es war ganz still ... Dann griff Karl Siebrecht in die rechte Brusttasche, zog den Scheck hervor und sagte: »Ich habe hier noch weitere fünfzigtausend Mark, über die ich allein verfügungsberechtigt bin.«

Herr Eich nahm den Scheck entgegen, ohne irgendwelches Erstaunen zu zeigen. »Schön«, sagte er. »Sehr schön. Achtzigtausend Mark, von denen nur dreißigtausend in bar verfügbar sind, wäre wohl etwas knapp gewesen. Hundertdreißigtausend sind da sehr viel besser.« Er betrachtete den Scheck. »Sieh da«, sprach er mit mildem Erstaunen, »Lange & Messerschmidt, ausgezeichnete Anwälte, vertrauenswürdige Berater – sie sind auch die Rechtsanwälte meiner Familie. Arbeiten Sie schon länger mit den Herren?«

Siebrecht murmelte nur.

Aber auch Murmeln befriedigte Herrn Eich in diesem Augenblick vollkommen. »Jedenfalls könnten Sie die Vertretung Ihrer Interessen bei den Gründungsverhandlungen in keine besseren Hände legen, Herr Siebrecht.«

In diesen Minuten war Karl Siebrecht der Hertha Eich dankbar, daß sie abgereist, daß sie verschwunden war, daß sie bei dieser Verhandlung nicht als stumme Zuhörerin in seinem Rücken saß. Weder hätte er in ihrer Gegenwart dem Vater den Scheck vorlegen, noch hätte er dieses Gerede ertragen können. Wußte der Alte etwas, oder wußte er nichts? Ahnte er nur, oder war alles mit der Tochter besprochen? Dieser Mann im kaffeebraunen Flauschjackett, der so lautlos über die Teppiche seiner Wohnung dahinwanderte, war kein Freund der deutlichen Dinge. Es mußte nicht alles unterstrichen werden: »Nein«, sagte er und schüttelte milde lächelnd den Kopf. »Diese kanariengelbe Farbe Ihrer Wagen ... Gewiß, gewiß, es ist eine Frage von geringerer Wichtigkeit, und es ist Ihre Firma. Aber Sie müssen immer bedenken, Herr Siebrecht, wenn Sie mit uns ein Bündnis eingehen, sind Sie über jede marktschreierische Reklame erhaben. Ein schlichter, unauffälliger Anstrich, vielleicht grau oder kaffeebraun –« Und er strich gedankenvoll über sein flauschiges Hausjackett.

Aber Karl Siebrecht war nicht gesonnen, auch in diesem Punkt nachzugeben. Er kämpfte für sein Kanariengelb, so viele Erinnerungen knüpften sich für ihn daran. Er sagte vielerlei Gründe, und er rief, als Herr Eich gleichmäßig ablehnend blieb: »Im übrigen ist die Post auch gelb, und die braucht doch wahrhaftig keine Reklame!«

Herr Eich war überrascht. »Richtig, die Post«, sagte er. »An die Post habe ich gar nicht gedacht. Tatsächlich ist die Postfarbe, wenn ich so sagen darf, Gelb. Ich habe zwar davon gehört, daß dort Erwägungen schweben, vom Gelb auf Rot überzugehen, immerhin – was bei der Post nicht anstößig war, kann es auch bei Ihnen nicht sein!«

Ein erster Sieg Karl Siebrechts, und sofort folgte eine zweite Schlacht um den Firmennamen. Zwar der »Bahnhof-Eildienst« wurde nach einigem Zögern genehmigt, aber »Siebrecht & Niemand« war völlig unmöglich. Sie diskutierten diesen Namen mindestens eine Viertelstunde lang. Sie erhitzten sich, sie stritten sich mit Erbitterung. Schließlich einigten sie sich dahin, daß ein Kompromiß gefunden werden müsse. Sie berieten lange und ernsthaft über den Kompromiß. Endlich wurde als Firmenbezeichnung festgesetzt: »Berliner Bahnhof-Eildienst – Siebrecht, Niemand & Co.« Wie bei allen Kompromissen, die beiden Teilen gerecht werden sollen, waren beide Teile unzufrieden. Aber immerhin hatte keiner ganz nachgegeben, und das hatte etwas Versöhnendes ...

Dann versenkten sie sich in Fragen des Zusammenschlusses, der Tarife, der Organisation. Es war weit über Mitternacht, als sich die beiden trennten. Längst war das Haus geschlossen, Herr Eich geleitete seinen späten Gast selbst mit dem Hausschlüssel auf die Straße. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er überrascht, »mir fällt eben ein, ich habe Ihnen nicht einmal eine Tasse Tee angeboten.«

Karl Siebrecht hatte den Eindruck, daß Herr Eich lange nicht so überrascht war, wie er tat. Er sagte, daß auch er nicht an Tee gedacht habe ...

»Das kommt daher«, erklärte Herr Eich umständlich, »daß nun auch meine Tochter verreist ist. Sie werden mich entschuldigen.«

Karl Siebrecht entschuldigte. »Das Fräulein Tochter ist für längere Zeit verreist –?«

»Jawohl, für vier oder fünf Wochen. Zu ihrer Mutter, an den Bodensee. – Gute Nacht, Herr Siebrecht.«

»Gute Nacht, Herr Eich!«


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