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Eine Stunde später saßen sie zusammen in der Schneiderstube. Das erste hastige Fragen und Erzählen war vorüber, und ein Verwundern über das unerwartete Glück faßte die beiden. Nachdenklich spielte er mit ihrer Hand, er legte die Finger zusammen und trennte sie wieder – zärtlich. Er sagte: »Wie das alles gekommen ist! Hast du je daran gedacht, Rieke, vorher?«
Und sie, wie immer ganz ehrlich: »Weeßte, Karle, ick hab dir liebjehabt – von Anfang an. Schon wie ick dir da im Zug sitzen sah, ha ick mir in dir verknallt.«
Keine Stimme warnte ihn, er hatte kein Gefühl der Gefahr. Jetzt war es nur die Heimat, die aus ihrem Munde zu ihm sprach. »Was wohl Kalli dazu sagen wird –?« fragte er nachdenklich.
»Ach der!« sagte sie. Sie wurde ein wenig rot. »Der hat doch immer jewußt, det ick dir liebe.« Sie dachte nach: »Weeßte, Karle, ick möchte ihm det lieber selbst erzählen, det von uns.«
»Wann kommt er denn?«
»Meistens so morgens um viere, fünfe. Manchmal wird's ooch später. Janz wie er die Fuhren kriegt.«
»Daß er nun Autotaxi fährt! War denn mit dem Gepäck wirklich gar nichts mehr zu machen?«
»Aber nee doch, Karle! Mal streiken die Bahnmenschen, und mal ist der janze Personenverkehr uff drei Wochen jesperrt von wejen Kohlen und Kartoffeln. Und wer reist, der buckelt sein Jepäck alleene. Nee, Karl, mit die Jepäckabfuhr, det ist alle!«
»Das wollen wir doch erst einmal sehen!« sagte Karl. »Gleich morgen frage ich auf den Bahnhöfen nach. Und dann gehe ich auf die Eisenbahndirektion und zu Herrn Gollmer. Hast du je noch was von Herrn Gollmer gehört?«
»Det is der Autofritze, nich wahr? Nee, Karle, wozu auch? Der Kalli hat seine Autodroschke jleich mit die Konzession von einem ollen Chauffeur jekooft. Det hat er jemacht noch von unserm Jeld, wat wir for die Ablieferung von die Kanalljenvögel bekommen haben. Det meiste Jeld is ja an Herrn Gollmer jegangen, aber een bißken jehörte uns doch schon davon. Siehste, so jehören uns jetzt zwei Drittel von die Taxe, wo wir beide zusammenlegen, wat, Karle?« Einen Augenblick legte sie ihren Kopf zärtlich an seine Schulter. »Ick denke imma, du teilst dir wirklich mit Kalli in die Taxe. Einer fährt tags, der andere nachts.«
»Ach nein, Rieke, ich glaube nicht, daß Taxichauffeur was für mich ist. Ich stelle bestimmt wieder was Größeres auf die Beine.«
»Willste imma noch Berlin erobern, Karle, weeßte noch?« Sie lachte. »Mit Berlin is nischt mehr los, Karle, det is 'ne Schieber- und Nuttenstadt jeworden! Det lohnt det Erobern nich mehr!«
»Das wollen wir erst einmal sehen!« sagte er wieder. »Drei Millionen Menschen können nicht alle Schieber sein. Ich fange wieder was an, Rieke, das sage ich dir. Nun erst recht, nun gerade – wo wir den Krieg verloren haben. Eines Tages wohnen wir noch in einer Villa im Grunewald!«
»Jotte doch, sag bloß so wat nich!« rief sie, ehrlich erschrocken. »Wat soll ick denn in 'ne Villa, womöglich mit ein feinet Dienstmädchen mit 'ne weiße Schürze?! Da würde ick mir ja jraulen! Ick bin froh, det wir diese Wohnung hier haben. Jetzt ha ick mir an die Eichendorffstraße jewöhnt, vorher war mir die Wiesenstraße lieba.«
»Und so wirst du dich eben an eine neue Wohnung gewöhnen und schließlich an die Villa im Grunewald!« Er sah sich um. »Nein, Rieke, hier müssen wir raus, und je eher, um so besser! Wie das alles aussieht: die Tapeten, die Diele, die Fenster! Das ist ja keine Wohnung mehr, das ist eine Höhle! Man merkt wahrhaftig, daß Krieg gewesen ist!« – Sie sah sich mit ihm um. Zum erstenmal seit Jahren sah sie mit wirklichem Interesse den Raum an, in dem sie tagaus, tagein lebte, sie sah den Verfall, sie sah auch den Schmutz; sie schämte sich. – »Und am ungedeckten Schneidertisch habt ihr auch wieder gegessen«, stellte er erbarmungslos fest. »Das muß jetzt alles ganz anders werden!«
»Det war wirklich Zeit, det du kamst, Karle!« gestand sie reuig. »Ick habe mir die letzte Zeit zu sehr jehenlassen. Det hat Kalli ooch immer jesagt. An Kalli liegt det nich, vastehste? Deswejen wollte er ja ooch ...« Sie unterbrach sich.
»Nun, was wollte Kalli –«
Aber sie sagte es ihm nicht, sie lenkte ab. »Siehste da det rote Kleid uff die Maschine?« fragte sie. »Det soll seit vier Wochen fertig sin. Heute abend hat er mir noch beschworen, ick soll et endlich fertigmachen. Na, siehste, und da liegt et noch imma!« Wieder lehnte sie den Kopf an seine Schulter. »Aber heute bist du ja ooch jekommen, Karle! Heute entschuldigt mir sogar Kalli!«
Einen kurzen Augenblick ließ er sich ihre Zärtlichkeit gefallen, dann richtete er sich straff auf. »Weißt du was, Rieke, näh das Kleid fertig, jetzt gleich, heute nacht noch. Gerade jetzt, zum Zeichen, daß es nun anders wird!«
Sie war ein wenig enttäuscht. »Wo wir hier so schön sitzen, Karle? Ick könnte ewig so sitzen!«
Er sagte überredend: »Und dann: ich möchte die Maschine wieder gehen hören. Ich habe dir doch erzählt, deine Maschine hat mich wieder aufgeweckt. Laß sie laufen, vielleicht schlafe ich diesmal dabei ein. Ich habe vier Tage und Nächte auf der Bahn gelegen, das merke ich plötzlich. Ich bin todmüde. Näh das rote Kleid, Rieke!«
»Sofort, Karle! Leg dir nur schön hin, hier uff det Sofa. Warte, ick hole dir noch 'ne Decke. Een paar Preßkohlen wer ick ooch noch in den Ofen packen, det du's een bißken warm hast. Es sind de letzten, aber valleicht bringt Kalli een paar Devisen mit – denn hat der Kohlenfritze jleich was zu feuern in seinem Kella! Alles Schiebung, Karle! – Liegste jetzt jut, Karle? Denn jute Nacht, denn schlaf man schön! Jib mir noch 'nen Süßen! Aba 'nen richtigen, nich so kühle! Der war schon bessa! Jott, Karle, det ick nu deine richtige Braut bin! Jehofft hab ick et imma, aber jejloobt nie! Wann wollen wa denn heiraten?«
»Bald, sehr bald«, sagte er schlaftrunken. »Vielleicht zu Weihnachten, was meinst du?«
»Nee, nich zu Weihnachten!« rief sie rasch. »Valleicht jleich nach Neujahr?«
»Auch recht, Rieke. Dann fangen wir das neue Jahr gleich richtig an. Und nun laß die Maschine rumpeln und sausen, rumpeln und sausen – wie gut sich das anhört! Nun bin ich erst richtig zu Haus. Näh das rote Kleid fertig, Rieke, diese Nacht!«
Die Maschine rumpelte und schnurrte, sie nähte. Er hatte nicht daran gedacht, daß auch Rieke todmüde war, und sie hatte auch nicht daran gedacht. Er fing genau dort an, wo er aufgehört hatte: als Erzieher und Antreiber, und sie ordnete sich ihm noch williger als früher unter, da sie ihn jetzt lieben durfte. Und sie meinten beide, dies könne gutgehen.