Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfter Teil.
Hertha Siebrecht

86. Neue kleine Anfänge

Die Nacht in dem kleinen Absteigehotel in der Invalidenstraße war einfach grauenhaft. Immer hörte er Schritte auf dem Gang vor seiner Tür, hörte Türen klappen und das aufschreiende Gelächter verliebter Paare, hörte Seufzer und Küsse. So fing es an, aber wie endete es –? Sie hatte bewußtlos dagelegen, sie hatte ihn beschimpft und geliebt – er aber hatte sie nicht aufgehoben! Er war geflohen, in die Nacht hinaus war er vor dem Angesicht der Liebe geflohen ...

Stunde um Stunde auf und ab in dem verbrauchten, verschlissenen Zimmer, in dem Sofa wie Bett, in dem die klebrigen Ringe des Likörs auf dem polierten Tisch, die eingebrannten Flecke der hastig abgelegten und vergessenen Zigaretten von der Liebe erzählten, dieser Liebe, die alle entwürdigte – Stunde um Stunde! Was war Rieke einst gewesen, und was war sie nun geworden? Vorbei, vorbei – nie wieder würde es diese fröhliche, mutvolle Gestalt geben! Hätte ich sie doch wenigstens aufgehoben! dachte er. Doch, so grauenvoll dies alles war, er hatte fliehen, er hatte sie liegenlassen müssen! Es gab keine andere Rettung, für ihn nicht wie für sie nicht! Flucht – Flucht vor der Liebe, das war das beste für ihn wie für sie!

Aber – dies kam ihm auch später noch seltsam vor –, aber seit dieser harten Trennung von Rieke wendete sich das Blatt für ihn. Drei und ein halbes Jahr war er verheiratet gewesen, und in dieser ganzen Zeit war ihm nichts gelungen. Und nun –

Nun plötzlich kam er wieder in Gang! Daß er sein Lastauto wiederfinden würde, das hatte ihm Dumala-Bomeyer schon gesagt. Der Händler Engelbrecht tauchte seine schlaffe Hand nur schnell in die Karl Siebrechts und sagte eilig: »Ihr gelber Piepmatz steht da hinten in der Garage. Ich wollte ihn nicht draußen lassen, es war schade um den schönen Lack! Aber nun holen Sie den Wagen auch bald weg, was? Ich brauche den Platz nötig.«

Er fand eine Garage in der Müllerstraße und dicht dabei ein Zimmer bei der Kriegerwitwe Krienke: »Die Stube is zwar vamietet, aba er zahlt ja nie pünktlich – wenn Se wollen, setz ick ihn an die Luft!«

Karl Siebrecht wollte, aber er hatte doch Bedenken, er müsse das Zimmer sofort haben. In dem Hotel wollte er keine Nacht mehr schlafen.

»Heute uff den Nachmittag ziehen Se in«, erklärte die Krienke bestimmt. »Wat denken Se bloß, den Kerl ha ick in eene Stunde raus! Mit dem fang ick einfach Krach an, der kündigt mir, und die janze Wochenmiete muß er mir ooch noch zahlen, det ick ihn bloß rauslasse ...« Und zur Einleitung der Kündigungsverhandlungen warf sie die Küchentür, daß die Wände zitterten. Ein zorniges Gebrüll erscholl, und Karl Siebrecht floh, überzeugt, daß er am Nachmittag würde einziehen können.

Er zog ein, und schon am nächsten Tag begann er mit den Gepäckfuhren. Da lernte er begreifen, warum die Leute diesen Scheinen mit den winzigen Ziffern so großen Wert beimaßen. Jawohl, er bekam jetzt wieder Gepäck zu fahren, aber die Einnahmen waren gering, um jeden Groschen wurde gehandelt, es war gar kein Vergleich mit den Zeiten vor dem Kriege! Er kam gerade so hin, er hatte zu leben, eine Kleinigkeit konnte er zurücklegen, die fünf graublauen Scheine wieder auffüllen, aber an ein rasches Vorwärtskommen war gar kein Gedanke! Das lag auch daran, daß er nicht mehr als einziger Gepäck fuhr, noch andere Leute waren unterdes auf den Gedanken gekommen, daß damit ein bißchen Geld zu machen war. Hinter jeder Chance waren viele her – manchmal hielten sechs, sieben Wagen am Stettiner Bahnhof, und ihre Besitzer unterboten sich in den Preisen.

Karl Siebrecht fand, daß es so nicht weiterging, er entschloß sich und besuchte an einem Sonntagvormittag seinen alten Freund und Gönner, den Regierungsrat Kunze, jetzt im Ruhestand. Die Glocken läuteten gerade zum Kirchgang, aber Herr Kunze war nicht zur Kirche gegangen, er war auch nicht sonntäglich gekleidet. Er sah schmuddlig und unrasiert aus, von der alten Wohlbeleibtheit war nicht das geringste mehr zu sehen. Herr Kunze hatte schlechte Zeiten hinter sich.

»So!« sagte er und gab dem Siebrecht nicht einmal die Hand. »Lassen Sie sich auch einmal wieder sehen? Was wollen Sie denn? Ich habe nicht viel Zeit für Sie!« Er deutete auf einen Haufen bunter Pappstückchen, die er vor sich auf dem Tisch liegen hatte. »Zusammensetzspiel«, sagte er. »Ich mach mir die Dinger selber. Wo ich in einer Zeitschrift in der Lesehalle ein hübsches buntes Bild finde, da reiße ich es mir raus, klebe es auf Pappe, schneide es kurz und klein, und dann setze ich es wieder zusammen. Damit kann man die Zeit schon hinbringen. Manchmal werfe ich die Schnitzel von sieben, acht Bildern zusammen, da habe ich dann drei Tage damit zu tun, das richtig zusammenzulegen. Das ist verdammt schwierig, sage ich Ihnen!«

»Sehen Sie nicht manchmal Ihre Kollegen von der Direktion?« fragte Karl Siebrecht, erschüttert von dem Verfall seines alten Gönners.

»Ach die!« sagte Herr Kunze verächtlich. »Das sind ja alles Betrüger! Die haben mich schön reingelegt! Wissen Sie, wie ich meine Pension gekriegt habe in der Inflation? Vierteljährlich! Nachträglich! Manchmal haben meine Frau und ich nicht das Essen für zwei Tage von der Pension eines Vierteljahres kaufen können! Alle Ersparnisse meines ganzen Lebens habe ich darangesetzt, alles Silber und alle Wäsche verkauft – und gehungert haben wir doch! Immer haben wir gehungert! Da habe ich mir das mit dem Zusammensetzen von Bildern angewöhnt, wenn man sich da richtig reinkniet, vergißt man das Grübeln und auch sogar den Hunger.«

»Aber Sie werden doch wieder arbeiten, Herr Kunze!« rief Karl Siebrecht. »Ich hol Sie mir. Ich habe wieder angefangen, Gepäck zu fahren, vorläufig noch in ganz kleinem Maßstab. Aber ich will es vergrößern. Ich suche jetzt Verbindung mit jemand von der Direktion, der etwas von meiner früheren Arbeit weiß und der mich ein wenig fördern kann. Ich brauche nur eine Chance, die Arbeit will ich dann schon allein tun. Wissen Sie niemanden, Herr Kunze?«

»Nein«, sagte Herr Kunze und schüttelte trübe den Kopf. »Ich weiß niemanden, und ich will mit denen auch nichts mehr zu tun haben.«

»Das ist schade«, sagte Karl Siebrecht und gab Herrn Kunze die Hand zum Abschied. »Aber ich beiße mich schon durch. Ich habe das sichere Gefühl, wir arbeiten noch zusammen!«

Der Regierungsrat schüttelte den Kopf: »Nie! Und eigentlich finde ich meine Zusammensetzspiele jetzt auch ganz hübsch. Wenn Sie irgendwo bunte Bilder in Zeitschriften finden, dann schicken Sie sie mir!«

Siebrecht ging schon, da fiel ihm noch etwas ein. »Hören Sie mal, Herr Kunze, kennen Sie einen gewissen Herrn Eich bei der Direktion?«

»Eich?« sagte Herr Kunze und zeigte zum erstenmal etwas mehr Leben. »Eich –? Und ob ich den kenne! Kennen Sie ihn denn?«

»Ich kenne ihn nicht, aber ich kenne jemand Verwandtes von ihm. Hat der da was zu sagen?«

»Und ob der was zu sagen hat! Eich – du lieber Himmel, wenn Eich nichts zu sagen hat, hat keiner mehr was zu sagen!«

»So«, sagte Karl Siebrecht gedankenvoll. »Danke schön, Herr Kunze. Ich will mir den Fall mal überlegen.«

Er überlegte ihn sich manchen Tag, aber er konnte sich nicht entschließen, den Hörer abzunehmen und nach Fräulein Hertha Eich zu fragen. Nur nicht wieder mit den Frauen anfangen, dachte er. Frauen bringen mir bloß Unglück ...


 << zurück weiter >>