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9. Rein in die Arbeit! Raus aus der Arbeit!

Der kleine Buckel mit den hängenden Affenarmen stand vor Karl Siebrecht und sah ihn schräg von unten schweigend an. Dabei zeichnete sich das Weiß des Augapfels, das einzige Weiß in diesem kohlegeschwärzten Gesicht, stark ab – das gab dem Alten ein böses Aussehen! Nach einer Weile, als Edwin ganz sicher war, der Polier war wirklich fort, fragte er: »Wat bist denn du for eener?«

»Genauso einer wie du!« lachte Karl Siebrecht.

»Det sare nich! Biste verwandt mit'n Polier?«

»Nein!«

»Aber aus seine Freundschaft biste?«

»Kein Gedanke!«

Der Buckel dachte nach. Dann: »Denn kennste den Chef! Kennste den Chef?«

»Auch nicht. Nie gesehen.«

»Wen kennste denn uff den Bau?«

»Keinen. – Doch – den alten Busch.«

»Den hat er doch jeschaßt!«

»Und heute früh wieder eingestellt!«

»Hat er? Wirklich?«

»Hat er! Wirklich!«

»Und dir hat er ooch injestellt? Woher kennste denn den Polier?« »Kenne ihn gar nicht.«

»Den mußte doch kennen! Ick soll dir doch sanft anfassen – det hat er noch uff keenen jesagt.«

»Du brauchst mich auch nicht anders anzufassen als die anderen!«

»Det sare nicht. Sare det nur nich.« Der Buckel seufzte. Dann, dringlich: »Junge, sare bloß, warum hat er dir injestellt?«

»Wahrscheinlich, weil ich ihm leid getan habe, ich bin nämlich arbeitslos.«

»Und denn sanft anfassen!« Der Buckel seufzte, noch kummervoller. »Ich sehe schon, du bist stickum ...«

»Was bin ich?«

»Du willst es nur nich sagen. Na, denn laß, aba det sare ick dir: wer uff mir jesagt hat, hier stinkt's, der hat jelogen!« Er erregte sich stärker: »Hier schnüffelste nischt raus! Ick habe keenen Koks nich verschoben! Wer det sagt, lügt. Und sonst ooch nischt.«

»Ich bin kein Spion vom Polier.«

»Siehste! Nun ist's raus! Aber vom Chef biste eener! Ich hab's jleich an deine Pfoten jesehen, wie ich deine Pfoten jesehen habe, ha' ick mir jesagt, det is eener von's Büro, der kommt schnüffeln!«

»Aber bestimmt nicht! Ich weiß nich mal, wie der Chef heißt!«

»Det sare nich – ick bin reell bis uff de Knochen! Bei mir schnüffeln Se nischt aus! Wat wollen Se sich de schönen Pfoten dreckig machen?! Ich zeige Sie alles, und denn setzen Sie sich irgendwo ins Warme, und denn saren Se dem Chef: der Edwin is reell. Und det können Se mit ruhigem Gewissen sagen, ohne sich die Pfoten dreckig zu machen –«

Karl Siebrecht zog sich die Joppe aus. »Also jetzt fangen wir mit der Arbeit an. Das ist alles Gefasel von dir, Edwin! Wo liegt der Koks? Im fünften Stock sollen wir anfangen –« Der Buckel starrte ihn mit einem so verzweifelten Augenverdrehen an, daß er lachen mußte. »Wirklich! Ich arbeite. Zehn Mark soll ich die Woche kriegen – was kriegst du, Edwin?«

Edwin seufzte, sehr schwer. »Ick nehm dir's nich ab. Von meinswejen, wenn de dir partuh insauen willst! Aber desterwejen schnüffelste doch nischt raus!«

Und nun fingen sie wirklich an, die Kokskörbe herumzuschleppen, Glut von einem in den anderen zu tragen, mit einem Blasebalg loszufauchen, neue Feuerung in Körben aus dem Keller heraufzuholen. Es war eigentlich eine vergnügliche Arbeit, der Polier hätte Schlimmeres und Schwereres für Karl Siebrecht finden können. Der Koks prasselte so angenehm in den Körben, die rote Glut leuchtete und wärmte so freundlich in der kalten Novemberluft, friedlich ächzte und knarrte das Leder des großen Blasebalges, während freundliche Wärme Karls Gesicht und Hände bestrich ... Und nun hinein in die eisig pfeifende Zugluft der Treppen und Gänge, an den offenen Fenstern vorbei, hinab in die schwarze, naßkalte Höhle der Kokskeller, den Korb gefüllt und wieder hinauf im Trab zu der Wärme, der sanften Glut, dem behaglichen Ächzen.

Wenn nur dieser verfluchte Zwerg, dieser Edwin nicht gewesen wäre! Immer wieder, mitten in der Arbeit, im schönsten Laufen fing er an: »Sag es mir doch: wer hat dir jeschickt? Bloß, det ick es weiß!«

Bis es Karl Siebrecht zu dumm wurde und er ärgerlich rief: »Du mußt ein verdammt schlechtes Gewissen haben, Edwin, daß du mit dem Quatsch nicht aufhörst! Nun halt endlich den Mund, oder ich erzähle wirklich dem Polier, wie du mir hier zusetzt mit deinem Gefasel!«

Von da an schwieg der langarmige Zwerg völlig. Er trennte sich sogar von Karl, wies ihm ein Stockwerk zu, das er allein besorgen sollte – und doch ertappte ihn Karl immer wieder, wie er schweigend unter einer Tür stand und mit hängenden Armen und verdrehten Augen ihn beobachtete, als könne er aus solchem Beobachten erraten, welche Bewandtnis es nun wohl mit seiner neuen Hilfskraft habe. Und einmal überraschte Karl Siebrecht den Zwerg dabei, wie der sich seine Joppe vorgenommen hatte. Er hatte sie sich über die Knie gelegt und fingerte mit seinen schwarzen Pfoten in der Brieftasche herum.

Das war nach der Frühstückspause gewesen. Karl hatte sie benutzt, um schnell noch einmal zu den Trockenmietern herumzuspringen, ob sie wohl noch Hilfe gebrauchten. Oh, sie gebrauchten schon Hilfe! Jetzt lag die Frau, völlig erledigt, im Bett, zitternd, am ganzen Leibe fliegend, und der Mann mühte sich ab, die verquollenen Fenster zu schließen, im Herd mit einer zerschlagenen Kiste Feuer zu machen und seiner Frau etwas Warmes aufzusetzen. Karl Siebrecht hatte sich nicht lange besonnen. Das bißchen Kistenholz war nur wie ein rasch aufflammendes, gleich wieder zusammenfallendes Papierfeuer, er holte von drüben aus »seinem« Keller einen Arm voll Anmachholz und einen Korb Kohlen, ohne viel Nachdenken, ob das nun auch »zulässig« war. Es schien ihm »recht«, und es war ihm ganz egal, daß der Buckel dabei zusah. Es war ihm auch egal, daß die beiden Trockenmieter ihm für sein Tun nicht mit einem Wort dankten, daß der Mann sogar noch sagte: »Ick habe dir nich darum jebeten, det weeßte, du!« Karl Siebrecht hatte es nicht um Dank getan.

Aber als er da nun bei seiner etwas verspäteten Rückkehr aus der Frühstückspause den Zwerg Edwin mit seiner Brieftasche in den Kohlenpfoten fand – und in der Brieftasche war doch, neben manchem Gleichgültigen, die Aster der Erika Wedekind –, da hatte ihn Zorn erfaßt. Noch keine vierundzwanzig Stunden, und die kleine Stadt und die unbeschwerte Jugend waren so fern gerückt, so fern. Aber die Erika Wedekind, die saß fest in ihm, mit ihrem zutraulichen, halboffenen Kindermund – wie oft hatte er während der Arbeit nach einem bayrischen Jodler »Riariatiritiro!« gesummt, und hatte doch nicht den Jodler gemeint ... Er riß dem Edwin die Brieftasche aus der Hand und schrie ihn an: »Nun ist aber Schluß mit deiner Schnüffelei, Edwin! Wenn ich dich noch einmal bei so was erwische, gibt's Krach!«

Der Buckel schien sich aber endlich davon überzeugt zu haben, daß hinter der neuen Hilfskraft nichts anderes steckte als eben eine neue Hilfskraft. Er stand ohne Verlegenheit auf und sagte nur mürrisch: »Bei wem det wohl kracht, du Neuer?! Mach lieber, det de nach deinem Feuer siehst, det verschmookt ja allens! Und übahaupt – es is bald 'ne Viertelstunde nach Frühstück –« Drohendes murmelnd ging er.

Der Junge arbeitete munter fort und sang dabei sein »Riariatiritiro!« immer lauter – keiner konnte ja wissen, was er sich dabei dachte! Und je mehr gegen die Mittagsstunde zu die Knochen von der ungewohnten Arbeit zu schmerzen, die Füße zu brennen anfingen, um so mehr steigerte er sein Tempo: er ließ sich nicht unterkriegen! Er sollte zehn Mark die Woche verdienen, und die wollte er auch wert sein.

Gegen zwölf, kurz vor der Mittagsstunde, wurde es laut im Bau: es kam Besuch. Es war der Herr Chef selbst, mit Spitzbauch und Gehpelz, laut in Sprache und Benehmen. Ach, Karl Siebrechts Vater war eine andere Art von Unternehmer gewesen, er hatte mit seinen Arbeitern so gesprochen, daß immer noch zu erkennen gewesen war, er war auch einmal ein Maurer gewesen. Er hatte ihre Sprache gesprochen, ihre Sorgen nicht vergessen. Darum hatte er es wohl auch nie zu einem Gehpelz gebracht und nie zu einem ganzen Häuserblock mit Hunderten von Wohnungen. Der Herr Kalubrigkeit schien nur schimpfen zu können, und was auch gemacht worden war, es war schlecht gemacht. »Ist das der Junge, den Sie mir wieder mal aufgeladen haben, Polier?« bullerte er los. »Ich bin keine Wohltätigkeitsanstalt! Was soll ich denn mit so 'nem Jungen?!«

»Er ist ja billig, Herr Kalubrigkeit«, antwortete der Polier, der all dies wohl gewohnt war, gleichgültig. »Und wenn er sich erst eingearbeitet hat, wird er soviel schaffen wie ein Mann.«

»Immer machen Sie so 'ne Geschichten! Erst den Busch – wo ich Ihnen den Busch extra verboten habe, und nun diesen Bengel! – Halt keine Maulaffen feil, Junge! Siehst du nicht, daß das Feuer nicht brennt?! Da steht er und glotzt! Und überhaupt, wozu hier noch trocknen? Die Wohnung ist trocken!« – Ein langer Herr mit einem scharfen Gesicht, aber dunklen, nicht unangenehmen Augen bemerkte, daß die Wände noch feuchte Flecken zeigten. – »Ach was! Die Wände schwitzen eben. Das kommt, weil die Feuchtigkeit rauszieht. Seit wann heizt ihr hier in der Wohnung, Junge? Das kostet alles ein Geld! Nu –?«

»Ich bin erst seit heute früh hier.«

»Hättest du dich erkundigt! Dieser andere soll kommen, wie heißt er doch, dieser schwarze Buckel! Da wird einfach losgefeuert, ohne Sinn und Verstand, Polier –!«

»Hier wird erst seit gestern geheizt.«

»Ach was, seit gestern! Das sagen Sie auch so aufs Geratewohl! Und immerzu ist der Koks alle, natürlich, der Kalubrigkeit bezahlt neuen! Nächstens heize ich ganz Berlin! Nu, wo ist der Zwerg?« – Edwin war schon da. Mit hängenden Armen und rundem Rücken stand er vor dem Chef und verdrehte die Augen zum Gotterbarmen. – »Nu, seit wann heizt ihr hier – wie heißt du doch?«

»Edwin! Edwin Raabe, Herr Chef«, krächzte der Buckel und schoß einen schnellen Blick nach dem Polier. »Wir heizen –«

»Sieh nicht den Polier an! Sieh mich an. Seit wann heizt ihr diesen Abschnitt?«

»Ick jloobe, ick jloobe, ich ha' so'n schlechtet Jedächtnis –«

»Heizt ihr nicht erst seit gestern?« sagte plötzlich zu dem sich Windenden der lange Herr mit den dunklen Augen.

»Ich bitte dich, Schwager –!« schrie Herr Kalubrigkeit. »Steckst du mit der Bande auch noch unter einer Decke? Natürlich heizt ihr schon seit Dienstag oder gar seit Montag! Aber ich fasse euch, und wenn ich euch fasse, schmeiße ich euch alle raus, und Sie zuerst, Polier!«

»Sie haben mich schon oft rausgeschmissen, Chef!« sagte der Polier gleichmütig. »Und die Wände sind eben noch naß. Wenn nachher die Baupolizei kommt, und es gibt Stunk, schmeißen Sie mich wieder raus, aber nur vor den Herren, weil ich nicht genug geheizt habe.«

»Einmal schmeiß ich dich aber zum letztenmal raus«, murrte Herr Kalubrigkeit. Er sah sich um und fand einen Anlaß, seinen Ärger auszutoben. »Da steht der verdammte Bengel noch immer!« schrie er. »Steht und glotzt! Steht hier zehn Minuten und glotzt! Für mein Geld! Was ist mit dem Bengel?« schrie er den Edwin Raabe an. »Sieh mich an, nicht den Polier! Tut er was, der Bengel, oder glotzt er bloß?«

Der Buckel wand sich. »Er tut schon was, Herr Chef«, sagte er, und mit plötzlichem Entschluß: »Aber von't Frühstück is er ooch 'ne Viertelstunde zu spät jekommen, allens, wat recht is, Herr Chef, aber ick bin reell.«

»So, vom Frühstück eine Viertelstunde zu spät und hier dann gleich wieder zehn Minuten glotzen! Das ist 'ne feine Arbeitsstelle, der Kalubrigkeit ist ja doof, der zahlt's ja! Alles mein Geld! Wo hast du denn gesteckt über Frühstück?«

»Ich war bei den Trockenmietern nebenan –« fing Karl Siebrecht an, der seinen Entschluß gefaßt hatte. Er hatte diesen Unternehmer Kalubrigkeit vom ersten Sehen an gehaßt.

»Bist du stille von den Trockenmietern, Junge!« schrie der Polier.

»Und was war bei den Trockenmietern?« fragte Herr Kalubrigkeit fast sanft.

»Stille biste, Jung!«

»Schande war da«, sagte der Junge fast feierlich. »Schande für Sie und Tod für die Leute! Die Frau ist schon beinahe hinüber, und der Mann wird's auch nicht mehr lange machen. Die Wände sind naß, nicht ganz so wie hier, wo's schon so schön trocken ist, Herr Chef, aber noch so, daß die Hand feucht wird, wenn man drüber wischt. Und die Fenster sind so verquollen, daß sie nicht auf noch zu gehen. Die Frau ist ein paarmal umgefallen, jetzt hustet sie sich die Seele aus dem Leibe.«

»Und er hat denen 'nen janzen Korb Koks und zwei Arme voll Anmachholz rüberjeschleift«, krächzte der Zwerg.

»Das habe ich!« rief der Junge. »Aber ich will's bezahlen, Herr, ich will gar nicht, daß Sie's denen schenken! Herr«, wandte sich Karl Siebrecht an den Langen mit den dunklen Augen, »Sie sehen doch anders aus – wie können Sie es mit anschauen, daß die Menschen in diesen nassen Löchern verrecken?«

»Mein lieber Freund«, sagte der Herr, aber ein wenig verlegen, trotz aller Sicherheit. »Ich fürchte, wir sind beide gleich wenig geeignet, die soziale Frage zu lösen ...«

Sein Schwager, der Unternehmer Kalubrigkeit, unterbrach ihn. Mit einem wahren Schrei stürzte er sich auf den Jungen. »Aber das ist ja ein Anarchist! Das ist ja ein roter Leuteaufhetzer! Raus! Raus aus meinem Bau! Auf der Stelle runter von der Baustelle! Und er wird wegen Diebstahls angezeigt! Nein, er wird nicht angezeigt! Ich will keinen Krach in den roten Blättern haben. Schmeißen Sie ihn doch raus, Polier! Machst du, daß du fortkommst, Bengel! Oder ich schmeiße dich eigenhändig die Treppe runter!«

»Wieviel«, fragte Karl Siebrecht in kaltem Zorn, »wieviel kostet es?«

»Was?! Was redet er? Was will er?«

»Was Koks und Holz kosten – ich möchte es Ihnen bezahlen, Herr Kalubrigkeit!«

»Schmeißen Sie die Trockenmieter auch raus! Er soll sehen, was er erreicht mit seiner Frechheit! Den Busch schmeißen Sie auch raus, Polier! Und Sie –«

»Mich schmeiß ich auch raus, jawohl, Chef!«

»Davon hab ich kein Wort gesagt! Das möchten Sie, mitten aus der eiligsten Arbeit, kurz vorm Frost! – Ist der Junge noch nicht weg?!«

»Also geh, mein Sohn«, flüsterte der lange Herr nahe bei Karl Siebrecht. »Du bringst deinen Freunden nur Unheil. Ich werde nach ihnen sehen. Und heute nachmittag, vier Uhr, Kurfürstenstraße zweiundsiebzig, Senden. Behältst du das?«

»Ja.«

»Also mach, daß du fortkommst!« – Und Karl Siebrecht ging – von seiner ersten Arbeit.


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