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Ja, Rieke Busch hatte eine so gute Zeit wie noch nie in ihrem Leben. Obwohl nun schon der Dezembermonat gekommen war, in dem die Maurer oft feiern müssen, ging der alte Busch noch alle Tage zur Arbeit. Meistens war Dreckwetter, und wenn es einmal fror, so fror es nur so wenig, daß es der Maurerei keinen Eintrag tat. Unter vier Grad Frost bleibt kein Maurer zu Haus. Auch der alte Busch nicht, der sonst nicht nur den Frost zum Anlaß fürs Blaumachen nahm. Jeden Morgen ging er wortkarg und blicklos fort, und jeden Abend erwartete ihn daheim in der Wiesenstraße seine Schnapsflachse, aus der ihm die Rieke einschenkte; erst ganz nach Wunsch, später, als alles gut ging, schon zögernder, schließlich, als alles weiter gut ging, verdünnte sie den Schnaps mit Wasser und setzte dafür gestoßenen weißen Pfeffer hinzu, damit er auch scharf genug schmeckte. Das tat sie in aller Heimlichkeit, auch ihr Freund Karl erfuhr nichts davon. Das gab dann manchmal unruhige Nächte, lange Stunden mußte sie auf Vaters Schoß sitzen, die Arme um seinen Hals, ihm den Bart kraulend, und statt der Tochter die Frau sein – auch davon erfuhr Karl Siebrecht nichts. Denn am nächsten Morgen ging der Maurer Busch wie sonst zur Arbeit. Ihm war nichts anzusehen, und die ein wenig blasse Rieke hatte dafür die Belohnung, am Freitag vom Polier eine wirklich volle Lohntüte abzuholen. Ach, wie die Familie vorwärtskam! Da war auch noch das Kostgeld, das Karl Siebrecht zahlte – sie lebten direkt üppig, es gab in diesen Wochen nicht nur am Sonntag Fleisch. Und Rieke hatte schon Kohlen für den ganzen Winter gekauft und Kartoffeln, sie hatte für Tilda und sich warmes Zeug angeschafft, und bei alledem hatte sie sogar noch Geld zurückgelegt. »Ick jloobe wirklich, du hast det Jlück in't Haus jebracht, Karl«, konnte sie am Abend sagen, wenn die beiden in der Küche zusammensaßen. Tilda schlief dann schon, und der alte Busch saß am Fenster, starrte in die Nacht hinaus, das Schnapsglas auf dem Fensterbrett, er sah und hörte nichts.
»Verrede es dir bloß nicht, das Glück«, sagte Karl Siebrecht warnend.
»Ach wat! Unglück kommt von alleene, jetzt freu ick mir erst mal.«
»Und was machst du mit all dem Geld, Rieke? Du mußt ja reich werden!«
»Wer ick ooch! Karl, weeßte wat, aber det is noch tiefstet Jeheimnis, ick jloobe, ich riskier wat!« Sie sah ihn mit unternehmungslustigen, vor Freude glänzenden Augen an.
»Was riskierst du denn, Rieke?«
»Ja, wat wohl? Karl, ick koof mir 'ne Nähmaschine uff Abzahlung!«
»Wirklich –? Was willst du denn mit einer Nähmaschine? Dein bißchen Näherei!«
»Doch, det tu ick, dazu bin ick imstande; Karl, ha ick dir denn det noch nich jesagt? Doch, det ha ick schon jesagt, haste bloß vajessen, oller Tranpott! Det ist doch mein Traum seit meine Kindertage. Immer, wenn ick bei andere Leute komme, und die Madam sitzt an de Maschine und ritsch, 'ne Naht ruft», und ratscht, 'ne Naht runter, und denn meine fußlige Stichelei mit de Nadel – Karl, 'ne Nähmaschine, det is for mir det Höchste, danach kommt 'ne janze Weile jar nischt!«
»Aber was hast du denn soviel zu nähen, Rieke?«
»Ach, Karl, du bist doch bloß een Junge, darum redste ooch so dußlig! Zu nähen hat 'ne Frau immer, det merkt ihr Männer bloß nich! Und denn, wenn ick erst 'ne Maschine habe, denn mach ick all den Quatsch nicht mehr mit Reinmachen. Det bringt doch keen Jeld, Karl. Nee, denn nähe ick Konfektion ...«
»Was tust du? Konfektion?«
»Na ja, weeßte nich, wat Konfektion is? Ick denke imma, du weeßt allens! Denn näh ick Kindermäntel. Erst ha ick jedacht, ick näh Wäsche. Aber Wäsche ist mir zu poplig mit all die Knopflöcher und Spitzen an die weißen Hosen und Rüschen und Falten – det is nischt for mir. Bei mir muß allet fix jehen. Ick nähe Kindermäntel.«
»Ja, kannst du das denn auch?«
Sie warf ihre hellen Haare in den Nacken und lachte, lachte übermütig und siegesgewiß. »Du olla Dussel du! Und du willst wat Jroßes werden? Du willst janz Berlin erobern? Ja, kannste denn det? Haste det jelernt? Na, wenn du's noch nich kannst, denn lernste det. So schlau wie die anderen sind wir doch allemal! Oder nich –?«
»Doch!« mußte Karl Siebrecht zugeben. »Aber wirst du auch Arbeit kriegen?«
»Natürlich! Ick weeß schon 'ne Firma in de Jerusalemer, die nehmen mir jleich. Die machen det ohne Zwischenmeista, da vadiene ick noch extra wat bei. Jott, Karl, wenn ick erst meine Maschine habe, det soll ein Leben hier werden! Und immer bei Tilda'n – Tilda jar nich mehr alleene.«
Der alte Busch hatte schon eine ganze Weile am Fenster sachte vor sich hingebrummt und gemurrt, sie hatten im Eifer ihrer Unterhaltung aber nicht auf ihn geachtet. Jetzt schlug er mit der Hand zornig gegen die Fensterscheibe, daß sie klirrte. Rieke Busch sprang auf. »Ja doch, Vata! Kriegst noch eenen. Sei bloß ruhig, du erschreckst ja det Kind! – So, siehste, Vata! Und trink schön langsam, noch eenen jibt es heute abend nich.«
»Karl«, sagte sie dann und setzte sich wieder zum Jungen. »Kommste mit, wenn ich die Nähmaschine koofe?«
»Aber ich verstehe nichts von Nähmaschinen!«
»Doch nicht darum, Mensch! Bloß, weil ick so kleen bin! Weil ick se doch uff Abzahlung haben will! Du bist doch schon älter, und denn kannste jebildet reden. Wir machen denen einfach 'nen Schmus vor, det Mutta krank is und nich selba kommen kann.«
»Was kostet denn so 'ne Maschine?«
»Die, die ick möchte, zweihundertsechzig. Hundert Anzahlung, die ha ick nächste Woche zusammen, und der Rest alle Woche fünf Märker.«
»Das dauert ja endlos, Rieke!«
»Zweiunddreißig Wochen – det is nich sehr lange, Karl!«
»Weißt du, Rieke, nehmen wir das Geld doch einfach von meinem Sparbuch! Daß wir die Leute da ankohlen sollen, das möchte ich nicht. Du kannst es dann ja alle Woche auf mein Sparbuch zurückzahlen.«
»Det jibt et aba nich! Wat du dir bloß ausdenkst! Det is ja nich dein Geld, vastehste? Wa haben ausjemacht, daran jehn wa nur in de höchste Not. Biste jetzt in Not, Karl?«
»Das nicht. Aber ich möchte wirklich nicht gern ...«
»Ach, du mit dein feinet Jetue! Wollen wa denn die Leute rinlegen? Die sollen doch ihr Jeld kriegen, uff die Stunde kriegen se's! Det is doch bloß, weil ick noch so aasig jung bin! Na, Karl, zieh keenen Flunsch – willste oder willste nich?«
»Ich will schon.«
»Det is schön von dir, Karl, det freut mir. Du bist een richtiger Freund durch dick und dünn, so wat ha ick mir imma jewünscht. Ach, Karl, ick freu mir so! Komm, Karl, wollen wa eenen scherbeln?« Und sie summte, sich vor ihm drehend, den Rock hob sie mit gespreizten Fingern: »Kumm, Karlinecken, kumm, kumm, kumm in meine jriene Laube. Ach nee, so jeht det nich. Wie jeht denn det, Karl? Wat stehste denn da und starrst mir an wie Muffi? Ha ick wat an mir?«
Ja, da stand er wie ein Stock und starrte sie an. Plötzlich war es ihm aufgegangen, wie hübsch seine kleine Freundin war, leuchtend von Leben, strahlend von Hoffnung. Er starrte sie an und begriff den Bäcker Ernst Bremer besser, dieser Bengel hatte einen Blick für hübsche Mädchen! Rieke Busch war schon jetzt ein verteufelt hübsches Mädchen, und sie würde noch zehnmal hübscher werden. Aber er wollte auf sie aufpassen, er wollte ihr ein rechter Bruder sein, ihr sollte kein Leid geschehen. Für solche wie den Bäcker war Rieke Busch nicht gewachsen. Und Karl Siebrecht zwang sich zu einer ernsten Miene, er sagte so steif wie der Rektor Tietböhl: »Ich glaube, Rieke, du hast deine Schularbeiten noch gar nicht gemacht, und es ist schon nach neun Uhr!«
»Ach, die ollen Schularbeeten!« sagte Rieke und schob die Unterlippe verächtlich vor.
»Und morgen hast du auch Konfirmanden-Unterricht, kannst du denn deine Sprüche schon?«
»Ach, die ollen Sprüche! Wat ick mir for Sprüche schon koofe!«
»Los, Rieke!« befahl er. »Hol deine Hefte und dein Neues Testament.«
Sie sah ihn von der Seite an und brach in Lachen aus. »Jott, Karl, du jefällst mir!« rief sie. »Jenau wie Lehrer Jalle siehst du jetzt aus.«
»Wir haben ausgemacht, Rieke, daß du regelmäßig und ordentlich deine Schularbeiten machst.«
»Ja doch, Karl! Bloß, et hilft nischt.«
»Natürlich hilft es.«
»I wo! Ick bin dumm jeboren, und ick lerne ooch nischt zu.«
»Du weißt ganz genau, daß du nicht dumm bist.«
»Ja, allens wat ick for meine Arbeet brauche, det lerne ick sofort, aber die ollen Bucha –! Karl, schämste dir nich manchmal, det ick so unjebildet bin?«
»Du bist meine kleine Schwester, und ich werde schon dafür sorgen, daß du nicht lange mehr ungebildet bist«, sagte er stolz.
»Bin ick det, Karl? Bin ick deine Schwesta?« rief sie und lief auf ihn zu. »Det is jroßartig von dir, darauf jibst de mir 'nen Kuß!« Sie legte die Arme um seinen Hals. »Na, 'nen richtigen, 'nen richtigen süßen ... Mach die Oogen zu und denk, ick bin deine Ria –!«
»Das darfst du nicht sagen, Rieke. Das schickt sich nicht! Du bist meine Schwester.«
»Na, det weeß ick doch, du olla feina Hammel! Det ick nich deine Jeliebte bin, det weeß ick. So liebste mir nich, nich uff die Art! Aber desterwejen kannste mir doch 'nen richtigen Kuß jeben, nich so wie een Stockfisch. Det hat mir schon imma jefehlt, det mir mal eena streichelt. Mit die olle Knutscherei habe ick jar nischt im Sinn. Also, Karl, nu mal los, nimm mir mal richtig in deine Arme ...«
Und Karl legte seine Arme um ihre zarte, ach, so zarte Gestalt, er näherte seinen Mund ihrem ihm entgegengehobenen Kindermund –
– und er fühlte sich losgerissen von ihr, er taumelte rücklings durch die Küche, schlug gegen den Herd und fiel schwer zu Boden ... Da aber, wo er gestanden hatte, stand jetzt der alte Busch, schwer atmend, seine Lippen bewegten sich. Er sprudelte undeutliche wilde Laute hervor, die Arme pendelten, als wollten sie sofort losschlagen ... Und da stand Rieke, schneeweiß ...
Ehe sich aber Karl Siebrecht aus seinem Sturz hatte aufraffen und ihr zu Hilfe eilen können, hatte sich Rieke schon gefaßt. »Wat fällt denn dir ein, Vata?!« rief sie und hatte die Arme in die Seiten gestemmt, in der typischen Keifstellung so vieler Berliner Weiber, die sie ganz unbewußt übernommen hatte. »Du bist wohl janz verrückt jeworden! Kiek eena den an: nu wird er plötzlich eifersüchtig! Det jibt et bei mir aba nich, vastehste! Nimmste sofort die Arme runter, Vata! Wenn det so is, wenn der Schnaps so uff dir wirkt, denn jibt et jarkeenen mehr, vastanden?!« Sie beruhigte sich. Sie besann sich. »Haste dir wat jetan, Karl? Nee? Nich? Na, is man jut. Vata meent et nich so.« Und wieder zum Vata: »Wat machste bloß for Zicken, Vata? So wat mußte nich wieda machen, da kannste mir wild mit machen! Det is mein Bruda, der Karl, vastehste det? Da haste jar nicht eifersüchtig zu sind!« Sie nahm den Vater bei der Hand und führte ihn wieder zu seinem Stuhl am Fenster. »Na, nun beruhige dir man«, sagte sie sanft. »Hast wat Schlechtet jeträumt, Vata? Is allens nich wahr, ick bin deine Beste. Rieke is deine Beste, wat, Vata?« Sie saß wieder auf des Vaters Schoß, die Arme um seinen Hals. Zu Karl Siebrecht sagte sie: »Jeh man schlafen, Karl. Det hat heute abend doch keenen Zweck mehr. Man muß sich ebend nich zu doll freuen, denn jeht's imma schief! Hau dir in de Mulle, Karl. Und ich mach meine Schularbeeten noch, ick vaspreche dir's, Karl, darauf kannste dir verlassen! Du sollst 'ne jebildete Schwesta kriegen! Jute Nacht, Karl!«
»Gute Nacht, Rieke. Gute, gute Nacht ...«
»Danke schön, Karl. Det war so jut wie 'n Kuß. Danke schön, Karl. Jute, jute Nacht.« – –
Aber von diesem Abend an ging es mit dem alten Busch immer schlechter. Noch wanderte er morgens wie sonst zur Arbeit, aber nun sah er am Abend nicht mehr so sehnlich nach seinem Schnaps aus wie bisher, weil er nämlich schon welchen in sich hatte! »Ick weeß nich, wat det mit Vata'n is«, klagte Rieke: zu Karl. »Ick weeß nich, der Olle trinkt heimlich – det hat er doch noch nie jemacht!«
»Stimmt denn sein Lohngeld?« fragte Karl.
»Det is et ebend – es stimmt! Ob der Olle Schulden in die Kneipen macht? Aba die pumpen ihm doch nischt, wo er nie 'nen roten Heller in de Tasche hat!«
Aber bald stimmte auch das Geld in der Lohntüte nicht mehr. Oder doch es stimmte schon, aber der Alte hatte blaugemacht, heut ein paar Stunden, dann einen halben Tag. Der Polier hatte die Rieke schon vermahnt, so ginge es mit ihrem Vater nicht weiter. Jetzt, wo jeden Tag Frost kommen könne, dürfe er einfach nicht fehlen. Busch würde zu den ersten gehören, die man entließ ... »Wo biste jewesen, Vata?« fragte Rieke ganz aufgeregt. »Wo biste am Mittwochmorgen jewesen? Zu de Arbeet biste jegangen wie sonst, det weeß ick, bloß anjekommen biste nich bei de Arbeet!«
»Jott, Tochter«, sagte der Alte dann bloß. »Wie soll ick det wissen? Mittwoch – sagste Mittwoch?«
»Jawoll, Mittwoch vormittags haste blaujemacht.«
»Mir is een Tag wie der andere, Tochter!« antwortete der Alte trotzig, und mehr war nicht aus ihm herauszukriegen.
Aber Rieke hatte nun in all den Jahren so viele »Touren« vom Alten erlebt, daß sie sich nicht mehr sonderlich aufregte. »Der besinnt sich, Karl«, sagte sie. »Der besinnt sich von janz alleene! Dem mußte bloß Zeit lassen! Der is nu mal so ...«