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Sehr hart und ungerührt sahen die Gesichter aus, deren Eigenthümer Dempsters Grab umgaben, während der alte Mr. Crewe in seiner leisen, gebrochenen Stimme die Trauergebete ablas – das Bahrtuch hielten Leute wie Mr. Pittman, Mr. Lowme und Mr. Budd – Leute, die Dempster seine Freunde genannt, während er am Leben war: und weltliche Gesichter sehen nie so weltlich aus als bei einer Beerdigung. Sie bringen dieselbe Wirkung verletzenden Mißverhältnisses hervor wie der Schall einer rauhen Stimme, welche die feierliche Stille der Nacht unterbricht.
Das einzige Gesicht, das trauerte, war von einem dicken Kreppschleier bedeckt, und die Trauer war unterdrückt und schweigsam. Niemand wußte, wie tief sie war; denn in den Gemüthern der meisten Nachbarn herrschte der Gedanke, daß Mrs. Dempster kaum ein größeres Glück hätte haben können, als einen bösen Mann zu verlieren, der ihr zum Ersatz ein hübsches Einkommen hinterlassen hatte. Es kam ihnen schwer begreiflich vor, daß sie ihres Gatten Tod anders denn als eine Befreiung fühlen könnte. Die Person, welche am vollständigsten überzeugt war, daß Janets Kummer tief und echt sei, war Mr. Pilgrim, der im allgemeinen einem Glauben an selbstlose Gefühle durchaus nicht ergeben war.
»Diese Frau hat ein zärtliches Herz«, hörte man ihn um diese Zeit bei seinen Morgenrunden häufig sagen. »Ich dachte sonst, es stäke ein gut Theil Firlefanz in ihr; aber sie dürfen sich darauf verlassen, es ist kein Schein an ihr. Wenn er der freundlichste Ehemann von der Welt gewesen wäre, sie hätte nicht mehr fühlen können. Es steckt sehr viel Gutes in Mrs. Dempster – sehr viel Gutes.«
»Das sagte ich immer«, war Mrs. Lowmes Antwort, als er diese Bemerkung gegen sie äußerte; »sie war stets so voll kleiner Aufmerksamkeiten gegen mich, wenn ich krank war. Aber man sagt, sie wäre Tryanitin geworden; wenn das der Fall, werden wir uns nicht mehr vertragen. Es ist sehr unbeständig von ihr, denk' ich, in dieser Weise zu einer anderen Partei überzutreten, nachdem sie die Erste war, die über die tryanitische Heuchelei spottete, und besonders bei einer Frau von ihren Gewohnheiten; sie sollte sich erst von diesen kuriren, ehe sie sich für so überfromm ausgibt.«
»Nun, wissen Sie, ich denke, sie wird sich kuriren«, sagte Mr. Pilgrim, dessen Wohlwollen gegen Janet jetzt gerade weit über jenem gemäßigten Punkt stand, wo er seinen weiblichen Patienten ein wenig kluge Herabsetzung erlauben konnte. »Ich weiß ganz gewiß, sie hat während der ganzen Krankheit ihres Gatten keine geistigen Getränke angerührt; und sie hat fortwährend solche in der Nähe gehabt. Ich sehe, daß sie manchmal sehr niedergeschlagen ist, weil sie dieselben entbehrt – es zeigt das nur um so größere Entschlossenheit. Diese Kuren sind selten; aber ich habe schon manchmal solche erlebt bei Leuten von starkem Willen.«
Mrs. Lowme ergriff die Gelegenheit. Mr. Pilgrims Aeußerungen bei Mrs. Phipps zu wiederholen, die, als ein Opfer Pratts und der Vollblütigkeit, das Vergnügen einer Unterhaltung mit Mr. Pilgrim selten aus erster Hand genießen konnte. Mrs. Phipps war eine Frau von entschiedenen Meinungen.
»Nun, ich meines Theils bin froh«, bemerkte sie, »zu hören, daß einige Wahrscheinlichkeit einer Besserung Mrs. Dempsters vorhanden ist; aber ich glaube, der Verlauf der Dinge scheint zu zeigen, daß sie mehr zu tadeln war, als die Leute dachten; weshalb sollte sie sonst so bekümmert um ihren Mann sein? Und Dempster, hör ich, hat nahezu all sein Vermögen seiner Frau zu völlig freier Verfügung hinterlassen; das heißt sich nicht benehmen, wie ein so gar böser Ehemann. Ich glaube nicht, daß Mrs. Dempster so sehr provocirt worden ist, als man behauptet. Ich habe Ehemänner gekannt, die Pläne erdachten, um ihre Weiber zu quälen, wenn sie unter der Erde lägen – indem sie ihr Geld ›festbanden‹ und sie hinderten, nochmals zu heirathen. Nicht daß ich jemals wünschen sollte, wieder zu heirathen; ich denke, Ein Mann ist doch wahrhaftig genug für's Leben« – hier warf sie einen grimmigen Blick auf den liebenswürdigen Mr. Phipps, der sich unschuldig an dem »Humoristischen« im »Rotherbyer Wächter« ergötzte und dachte, der Redakteur müsse ein drolliger Kerl sein – »aber es ist empörend, in dieser Weise gebunden zu sein. Ei, man sagt, Mrs. Dempster wird jährlich ihre runden sechshundert Pfund zum mindesten haben. Eine nette Summe für sie, die ein armes Mädchen war ohne einen Heller Vermögen. Es wird alles brauchen, daß sie es nicht irgendwie in Rauch aufgehen lassen wird.«
Mrs. Phipps Ansicht von Janet war indeß nicht im entferntesten die vorherrschende zu Milby. Selbst Nachbarn, die keinen starken persönlichen Antheil an ihr nahmen, konnten kaum die edelgestaltete Frau in Wittwenkleidung, in deren Gesicht ernste, milde Traurigkeit zu lesen war, ansehen, ohne von neuer Bewunderung für sie erfüllt zu werden – ohne wenigstens doch zu fühlen, daß sie ein neues Leben begonnen hatte, in dem es eine Art von Entweihung wäre, auf die schmerzliche Vergangenheit anzuspielen. Und die alten Freunde, die ihr wirklich zugethan waren, deren Herzlichkeit aber in den letzten Jahren zurückgewiesen worden war oder sich abgekühlt hatte, umgaben sie jetzt mit herzlichen Freundschaftsbezeugungen. Mr. Jerome fühlte, daß sein Glück sich wesentlich erhöht hatte jetzt, da er wieder bei jener »hübschen kleinen Frau, Mrs. Dempster« einkehren und mit Freude statt mit Trauer an sie denken konnte. Die Pratts verloren keine Zeit, um sich wieder auf den Fuß alter Freundschaft mit Janet und ihrer Mutter zu stellen: und Miß Pratt hielt es für ihre Pflicht, bei allen passenden Gelegenheiten ihr sehr nachdrückliches Lob auszusprechen über die bemerkenswerthe Seelenstärke, die Mrs. Dempster, wie sie wisse, entwickle. Die Miß Linnets kamen Mr. Tryans Wünschen eifrig entgegen, indem sie Janet begrüßten als Eine, die jedenfalls eine Mitschwester in religiösem Sinn und guten Werken werden würde; und Mrs. Linnet war so angenehm überrascht durch die Thatsache, daß Dempster seiner Frau das Geld »in der hübschen Weise, daß sie damit thun könne, was sie wolle«, vermacht hatte, daß sie sogar Dempster selbst und seine spitzbübische Entdeckung des Mangels in ihrem Rechtstitel auf Pyes Croft in ihr großmüthiges Vergessen erlittener Unbill einschloß. Sie und Mrs. Jerome kamen bei einer gemüthlichen Tasse Thee dahin überein, daß es sehr viele Ehemänner gäbe, von denen man nur Gutes redete und die doch immerfort ein Testament vor Einem geheim hielten, das einen vielleicht so fest binde als nur etwas. »Ich versichere Sie«, fuhr Mrs. Jerome fort, ihre Stimme zu einem vertraulichen Flüstern senkend, »ich weiß bis auf den heutigen Tag nicht mehr von Mr. Jeromes Testament als ein Kind im Mutterleibe. Ich bin durchaus nicht besorgt wegen eines Einkommens – ich weiß recht wohl, Mr. Jerome wird mich in dieser Hinsicht nie in Verlegenheit setzen; aber ich möchte gern ein Tausend oder zwei zur freien Verfügung haben: es macht eine Wittwe viel angesehener.«
Vielleicht war dieser Grund des Respekts vor einer Wittwe nicht ganz ohne Einfluß auf die öffentliche Meinung Milbys und trug etwas dazu bei, um jene aristokratischeren Bekannten Janets versöhnlicher zu stimmen, die sonst vielleicht geneigt gewesen wären, ihren Abfall zum Evangelismus aufs schärfste zu beurtheilen. Irrthümer sehen so gar häßlich aus an unbemittelten Leuten – man fühlt, daß sie sich gleichsam Freiheiten herausnehmen, indem sie sich verirren, während natürlich Leute von Vermögen sich kleine Vergehen erlauben dürfen. »Sie haben das Geld dazu«, wie das Mädchen von ihrer Herrin sagte, die sich selbst krank machte mit geräuchertem Lachs. Wie dem auch gewesen sein möge, es war in ganz Milby Niemand unter ihren Bekannten, der ihr nicht in den ersten Tagen ihres Wittwenstandes Höflichkeiten erwiesen hätte. Selbst die gestrenge Mrs. Phipps machte keine Ausnahme; denn der Himmel weiß, was aus unserer Geselligkeit werden sollte, wenn wir nie Leute besuchten, denen wir Uebles nachreden: wir würden wie die egyptischen Einsiedler in drangvoller Einsamkeit leben.
Vielleicht die angenehmsten Aufmerksamkeiten für Janet waren die ihrer alten Freundin Mrs. Crewe, deren Anhänglichkeit an ihren Liebling sich als viel zu stark erwies für irgend einen Groll, den man ihr vielleicht um Mr. Tryans willen hätte zutrauen können. Die kleine, taube alte Dame konnte nicht leben ohne ihre gewohnte Besucherin, die sie vom Kind zur Frau hatte heranwachsen sehen, die stets so bereit war, mit ihr zu plaudern und ihr alle Neuigkeiten zu erzählen, obgleich sie taub war, während andere Leute es lästig fanden, ihr ins Ohr zu schreien und sie kränkten, indem sie ihr Hörrohre von mannichfachster Construktion empfahlen.
All diese Freundlichkeit war Janet sehr willkommen. Sie war sich der Hilfe bewußt, die sie ihr lieh in der Selbstbezwingung, die der Segen war, um den sie mit jedem neuen Morgen von neuem bat. Die Hauptstärke ihrer Natur lag in ihrer Zärtlichkeit, die ihrem ganzen Gemüth den Anstrich gab: sie verlieh ihren Wohlthätigkeitsakten eine persönliche, schwesterliche Zartheit; sie ließ sie mit Zähigkeit an jedem Gegenstande festhalten, der einmal ihre freundlichen Empfindungen erregt hatte. Ach! unbefriedigte, verwundete Zuneigung war es, was ihre Beschwerden größer gemacht hatte, als sie ertragen konnte. Und jetzt war kein Damm mehr da, der das volle Hervorfließen jenes reichen Stromes in ihrem Wesen hinderte – kein nagender, geheimer Kummer – kein drohender Schreck – keine innerliche Scham. Freundliche Gesichter strahlten sie an; sie fühlte, daß freundliche Herzen ihr Thun lobten und ihr Gutes wünschten, und dieser milde Sonnenschein des Wohlwollens fiel wohlthätig auf ihre neue Hoffnungen und Anstrengungen, wie der klare Sonnenschein nach dem Regen auf die zarten Blattknospen des Frühlings fällt und sie vom Versprechen zur Erfüllung antreibt.
Und sie bedurfte dieser mittelbaren Hilfe, denn ihr Ringen mit ihrem vergangenen Ich war nicht immer leicht. Die starken Bewegungen, durch welche das Leben eines menschlichen Wesens eine neue Richtung erhält, erringen ihren Sieg, wie die See den ihrigen erringt: wenn auch ihr Vorwärtsschreiten sicher sein mag, wird sie oft, nach einer ungewöhnlich mächtigen Woge, so weit zurückzurollen scheinen, daß sie all den gewonnenen Boden scheinbar wieder verliert. Janet zeigte die starke Anstrengung ihres Willens dadurch, daß sie jede äußere Vorsichtsmaßregel gegen das Nahen einer Versuchung traf. Ihre Mutter war jetzt ihre ständige Gefährtin; sie hatte ihre kleine Behausung geschlossen und war zu Janet gezogen; und Janet gab alle gefährlichen Schlüssel ihr zur Verwahrung und bat sie, dieselben an einem verborgenen Ort zu verbergen. So oft die nur zu wohl bekannte Niedergeschlagenheit und Begierde sie bedrohte, pflegte sie eine Zuflucht zu suchen in dem, was stets ihr reinster Genuß gewesen – indem sie einen ihrer armen Nachbarn besuchte, zum Krankenbett Nahrung oder Trost brachte, mit ihrem Lächeln eine der ihr wohlbekannten Behausungen in den schmutzigen Seitengassen erheiterte. Aber die große Quelle des Muthes, das große Mittel zur Ausdauer war das Gefühl, daß sie an Mr. Tryan einen Freund und Lehrer hatte: sie konnte ihm ihre Nöthen gestehen; sie wußte, daß er für sie betete; sie hatte immer die Aussicht vor sich, ihn bald zu sehen und Worte der Ermahnung und des Trostes zu hören, die auf sie wirkten mit einer göttlichen Kraft, wie sie solche nie zuvor in Menschenworten gefunden hatte.
So verfloß die Zeit bis Ende Mai, nahezu einen Monat nach ihres Mannes Tod, als eines Morgens, während sie und ihre Mutter im Speisesaal ruhig beim Frühstück saßen und durch das offene Fenster in den altmodischen Garten blickten, wo der Grasfleck jetzt mit weißen Aepfelblüthen überstreut war – ein Brief für Mrs. Raynor gebracht wurde.
»Ei, er trägt den Poststempel Thurston«, sagte sie. »Er muß von Deiner Tante Anna sein. Ja, so ist's; das arme Ding, sie ist in den letzten Jahren leidender geworden und hat gebeten, nach mir zu senden. Die Wassersucht wird sie wohl endlich wegraffen. Das arme Ding! es wird eine glückliche Erlösung sein. Ich muß hin, meine Liebe – sie ist Deines Vaters jüngste Schwester – obgleich es mir leid thut, Dich zu verlassen. Indessen, vielleicht brauche ich nicht länger als eine Nacht oder zwei dort zu bleiben.«
Janet sah bekümmert aus, als sie sagte: »Ja, Du mußt fort, Mutter. Aber ich weiß nicht, was ich ohne Dich anfangen soll. Ich denke, ich werde zu Mrs. Pettifer laufen und sie bitten, zu mir zu kommen und bei mir zu bleiben, während Du fort bist. Sie wird es gewiß thun.«
Um zwölf Uhr, als Janet ihre Mutter bis an den Wagen begleitet hatte, der sie nach Thurston bringen sollte, sprach sie auf ihrem Rückweg bei Mrs. Pettifer vor, erfuhr aber zu ihrer Enttäuschung, daß ihre alte Freundin den ganzen Tag nicht heimkommen würde. So schrieb sie auf ein Blatt ihres Notizbuchs eine dringende Aufforderung, daß Mrs. Pettifer zu ihr kommen und bei ihr bleiben möge, so lange ihre Mutter fort wäre; und nachdem sie der Magd eingeschärft, die Note ihrer Herrin zu geben, sobald dieselbe nach Hause käme, schritt sie weiter nach dem Pfarrhaus, um Mrs. Crewe zu besuchen, indem sie dachte, auf diese Weise das Gefühl der Verlassenheit und unbestimmten Furcht loszuwerden, das sie ergriff, als sie zum erstenmale seit jener großen Krisis in ihrem Leben allein gelassen worden war. Und auch Mrs. Crewe war nicht zu Hause!
Janet ging traurig wieder heim mit einem Gefühl der Entmuthigung, wofür sie sich selbst als kindisch schalt; und als sie den leeren Speisesaal betrat, konnte sie die Thränen nicht zurückhalten. Solche vage, unerklärliche Zustände der Empfindlichkeit wie dieser – Zustände der Erregung oder der Niedergeschlagenheit, halb geistig, halb leiblich – entscheiden manche Tragödie im Frauenleben. Janet konnte kaum etwas genießen; vergebens versuchte sie ihre Aufmerksamkeit auf ein Buch zu richten; selbst der Sonnenschein kam ihr melancholisch vor, als sie im Garten spazieren ging.
Zwischen vier und fünf Uhr kam der alte Mr. Pittman zu ihr in den Garten, wo sie einige Zeit unter einem der großen Apfelbäume gesessen und gedacht hatte, wie Robert, wenn er recht gut gelaunt war, mit seiner kleinen »Mamsey« nach den Gurken zu sehen und die Kuh mit ihrem Kalb in ihrer Umhegung zu besichtigen pflegte. Bei diesen Gedanken hatte sie wieder zu weinen und zu schluchzen begonnen: und als Mr. Pittman sich ihr näherte, fühlte sie sich müde und erschöpft. Aber des alten Herrn Gesicht und Gefühl waren stumpf, und er schien, zu Janets Befriedigung, nichts von ihrem Kummer zu bemerken.
»Ich muß Ihnen eine Arbeit aufbürden. Mrs. Dempster«, sagte er mit einer gewissen, ihm eigenen zahnlosen Feierlichkeit. »Ich wünschte, daß Sie noch einmal die Briefe in Dempsters Schreibtisch durchsähen und nachforschten, ob nicht einer von Poole darunter ist über die Hypothek auf jenen Häusern in Dingley. Es trägt uns zwanzig Pfund ein, wenn Sie ihn finden; und ich wüßte nicht, wo er sein sollte, wenn nicht unter jenen Briefen im Schreibtisch. Ich habe sonst überall nachgesehen. Ich gehe jetzt nach Hause, werde aber morgen wieder nachfragen, wenn Sie so freundlich sein wollen, mittlerweile nachzusehen.«
Janet sagte, sie wolle es sogleich thun, und ging mit Mr. Pittman ins Haus. Aber das Suchen würde einige Zeit beanspruchen, so sagte er ihr Adieu, und sie ging sogleich zu dem Schreibtisch, der in einem kleinen Hinterzimmer stand, wo Dempster zuweilen Briefe schrieb und Leute empfing, die außer den Bureaustunden in Geschäftsangelegenheiten kamen. Sie hatte den Inhalt des Schreibtisches schon mehr als einmal durchgesehen; aber heute, als sie das letzte Briefbündel aus einem der Fächer nahm, sah sie, was sie zuvor nie gesehen, eine kleine Kerbe im Holz in Gestalt eines Daumennagels, augenscheinlich bestimmt, die bewegliche Rückwand des Faches beiseite zu schieben. Sie hatte bis jetzt den bewußten Brief nicht gefunden – vielleicht waren noch mehr Briefe hinter diesem Schieber. Sie schob ihn zurück und sah – keine Briefe, sondern eine halbgefüllte Flasche mit Brandy, Dempsters gewöhnlichem Getränk.
Ein heftiges Verlangen fuhr Janet durch alle Glieder; es schien sie zu bemeistern mit der zwingenden Kraft starker Gerüche, die unsere Sinne überfluthen, ehe wir dessen gewahr werden. Ihre Hand war an der Flasche; bleich und erregt hob sie dieselbe aus ihrer Nische und schleuderte sie mit einem plötzlichen Schauder zu Boden, so daß sich der Geruch im ganzen Zimmer verbreitete. Ohne noch zu weilen, um den Schreibtisch zu verschließen, eilte sie aus dem Zimmer, nahm hastig Hut und Mantel, die im Speisezimmer lagen, und verließ schnell das Haus.
Wohin sollte sie gehen? An welchem Platz würde der Dämon, der wieder in sie gefahren, verscheucht werden? Sie schreitet rasch die Straße entlang in der Richtung nach der Kirche. Sie ist bald am Thore des Kirchhofs; sie tritt hinein und schreitet über die Gräber nach einem Platz, den sie kennt – einem Platz, wo der Rasen erst vor kurzem umgeschaufelt worden, wo bald ein Grabmal errichtet werden sollte. Er ist ganz nahe an der Kirche, auf der Seite, die jetzt in tiefem Schatten liegt, ganz abgeschlossen von den Strahlen der Abendsonne durch einen vorspringenden Strebepfeiler,
Janet setzte sich auf den Boden. Es war ein düsterer Ort. Eine dicke, von Ulmen überragte Hecke war davor, ein vorspringender Strebepfeiler an jeder Seite. Aber sie wollte sich selbst vor diesen Gegenständen abschließen. Ihr dicker Kreppschleier war herabgelassen; aber sie schloß die Augen hinter demselben und drückte die Hände darauf. Sie wollte das Bild der Vergangenheit heraufbeschwören; sie wollte den Dämon mit den schmerzlichen Erinnerungen an das vorübergegangene Elend aus ihrer Seele jagen; sie wollte das alte Entsetzen und die alte Qual erneuern, damit sie sich mit um so verzweifelterer Energie an das Kreuz anklammern könnte, wo der göttliche Dulder ihr göttliche Kraft mittheilen würde. Sie versuchte sich jene ersten bitteren Momente der Scham zurückzurufen, die der schaudernden Entdeckung des Aussätzigen glich, daß der gräßliche Makel ihm anhaftet; den tieferen und immer tieferen Fall; das Herannahen vollständiger Verzweiflung; die schrecklichen Momente am Krankenbette ihres Gatten, der sich selbst rasend gemacht. Und dann versuchte sie es – mit durch den Contrast nur lebhafter gemachter Erinnerung die segensreichen Stunden der Hoffnung, der Freude und des Friedens wieder zu durchleben, die ihr in letzter Zeit beschieden gewesen, seit ihr ganzes Trachten auf die Erlangung von Reinheit und Heiligkeit gerichtet war.
Aber jetzt, als der Paroxismus der Versuchung vorüber war, begannen sich Furcht und Verzagtheit wie kalte schwere Nebel zwischen sie und den Himmel zu drängen, zu dem sie nach Licht und Leitung aufblickte. Die Versuchung würde wiederkommen – jener Anlauf der Begierde konnte sie das nächstemal bezwingen – sie würde wieder zurückgleiten in jene tiefe, schlammige Grube, aus welcher sie einmal gerettet worden war, und es gab dann vielleicht keine Befreiung mehr für sie. Ihre Gebete halfen nicht, denn die Furcht überwog das Vertrauen; sie hatte keine Zuversicht, daß ihr die gesuchte Hilfe zu theil werden würde; der Gedanke an einen zukünftigen Fall hatte ihr Gemüth zu sehr ergriffen. Allein, in dieser Weise, war sie machtlos; wenn sie Mr. Tryan sehen, ihm alles beichten könnte, würde sie vielleicht wieder Hoffnung schöpfen. Sie mußte ihn sehen, mußte zu ihm gehen.
Janet erhob sich vom Boden und ging raschen, entschlossenen Schrittes fort. Sie hatte lange dort gesessen, und die Sonne war bereits untergegangen. Es war zu spät für sie, um nach Paddiford zu gehen und Mr. Tryan aufzusuchen, bei dem sie vorher nie gewesen; aber in anderer Weise konnte sie ihn diesen Abend nicht sehen, und sie durfte nicht zögern damit. Sie ging auf einem Fußweg über die Felder, auf dem sie Paddiford erreichen konnte, ohne durch die Stadt gehen zu müssen. Der Weg war ziemlich weit, aber sie zog ihn vor, weil sie auf demselben nicht so leicht Bekannten begegnete und der Möglichkeit eines Gesprächs mit Jemandem aus dem Wege ging.
Das Abendroth war schon nahezu verblaßt, als Janet an Mrs. Wagstaffs Thüre klopfte. Die gute Frau war überrascht, sie zu dieser Stunde zu sehen; aber Janets Trauerkleidung und die schmerzliche Erregung ihres Gesichts brachten sie rasch auf den Gedanken, daß irgend ein dringender Kummer sie hergeführt habe.
»Mr. Tryan ist soeben heimgekommen«, sagte sie. »Wenn Sie in's Besuchszimmer treten wollen, will ich hinaufgehen und ihm sagen, daß Sie hier sind. Er schien sehr müde und leidend.«
Zu einer andern Zeit würde Janet bekümmert gewesen sein bei dem Gedanken, daß sie Mr. Tryan störe, während er der Ruhe bedürfe: aber jetzt war ihre Noth zu groß dafür: sie hatte nur ein Gefühl nahenden Trostes, als sie seinen Schritt auf der Stiege hörte und ihn in's Zimmer treten sah.
Er ging mit besorgter Miene auf sie zu und sagte: »Ich fürchte, es ist etwas geschehen. Ich fürchte, Sie sind in Noth.«
Dann erzählte die arme Janet ihre traurige Geschichte von Versuchung und Zaghaftigkeit; und schon während sie beichtete, fühlte sie ihre Bürde zur Hälfte entfernt. Der Akt der vertrauenden Mittheilung, das Bewußtsein, daß ein menschliches Wesen ihr mit geduldigem Mitleid lausche, bereitete ihre Seele vor für jenen größeren Sprung, durch welchen der Glaube den Gedanken an das göttliche Mitgefühl ergreift. Als Mr. Tryan Worte des Trostes und der Ermuthigung sprach, konnte sie die Gnadenbotschaft glauben; die Wasserfluthen, die sie zu verschlingen gedroht hatten, rollten wieder zurück, und das Leben breitete wieder seinen himmelbedeckten Raum vor ihr aus. Sie war unfähig gewesen, allein zu beten; aber sein Gebet jetzt trug auch ihre Seele mit sich empor, wie die breite Zunge der Flamme in ihrem kräftigen Emporschlagen das kleine, flackernde Feuer aufwärts trägt, das für sich allein kaum bestehen kann.
Aber Mr. Tryan wünschte nicht, daß Janet zu dieser späten Stunde auswärts weile. Als er sah, daß sie beruhigt war, sagte er: »Ich werde Sie jetzt nach Hause begleiten; wir können unterwegs plaudern.« Aber Janets Gemüth war jetzt genügend frei, um die Zeichen fieberischer Ermattung in seiner Erscheinung zu bemerken, und sie wollte nichts davon hören, ihm noch eine weitere Anstrengung zu verursachen.
»Nein, nein«, sagte sie ernstlich, »es würde mich sehr schmerzen, wenn Sie meinetwegen heute noch einmal ausgehen würden. Es ist wirklich kein Grund vorhanden, weshalb ich nicht allein gehen sollte«. Und als er darauf bestand, weil er fürchtete, es möchte Aufsehen erregen, wenn sie so spät allein draußen gesehen würde, sagte sie flehend mit einem halben Schluchzen in der Stimme: »Was würde ich – was würden Andere wie ich thun, wenn Sie von uns gingen? Weshalb wollen Sie nicht mehr daran denken und sich besser in Acht nehmen?« Dieser Vorhalt war ihm schon oft gemacht worden, aber heute – von Janets Lippen – schien er eine neue Kraft über ihn zu haben, und er gab nach.
Zuerst zwar that er es nur unter der Bedingung, daß Mrs. Wagstaff sie begleiten solle; aber Janet hatte sich entschlossen, allein heimzugehen. Sie zog das Alleinsein vor; sie wünschte nicht, daß ihre Gefühle durch ein Zwiegespräch gestört würden.
So schritt sie denn hinaus in das thauige Sternenlicht; und als Mr. Tryan sich von ihr abwandte, fühlte er einen stärkeren Wunsch denn je, sein gebrechliches Leben möge wenigstens so lange dauern, daß er Janets Umkehr vollkommen befestigt, sie nicht länger leiden, kämpfen und sich an die steilen Abhange eines Hügels klammern sehen würde, von wo sie jeden Augenblick in die Tiefen der Verzweiflung geschleudert werden konnte, sondern fest auf dem ebenen Boden der Gewohnheit schreiten. Er beschloß bei sich selbst, daß nur eine gebieterische Pflicht ihn je von Milby entfernen solle – daß er nicht aufhören wolle, über sie zu wachen, bis ihn der Tod abrufe.
Janet schritt rasch vorwärts, bis sie an die Felder kam; dann mäßigte sie ihren Schritt ein wenig, sich ergötzend an dem Gefühle des Alleinseins, das ihr vor wenigen Stunden unerträglich gewesen war. Die göttliche Gegenwart schien ihr jetzt nicht in weiter Ferne, wohin zu gelangen ihr die Schwingen fehlten; selbst das Gebet schien überflüssig in jenen Momenten ruhigen Vertrauens. Die Versuchung, welche erst vor so kurzer Zeit sie hatte erschaudern lassen vor den Möglichkeiten der Zukunft, war jetzt eine Quelle der Zuversicht; denn war sie nicht davon befreit worden? War nicht in der höchsten Gefahr die Rettung erschienen? Ja, die unendliche Liebe bekümmerte sich um sie. Es war ihr zu Muthe wie einem Kinde, dessen Hand fest in der seines Vaters ruht, während seine schwachen Glieder über den rauhen Boden schreiten; wenn es straucheln sollte, der Vater wird es nicht fallen lassen.
Jener Gang im thauigen Sternenlicht blieb Janet für immer im Gedächtniß als eine jener taufartigen Epochen, aus denen die Seele, in die geweihten Wasser der Freude und des Friedens getaucht, mit neuer Energie, mit unveränderlicherer Sehnsucht hervorgeht.
Als sie nach Hause kam, fand sie Mrs. Pettifer dort, die besorgt ihrer Rückkehr harrte. Nachdem sie ihr für ihr Kommen gedankt, sagte Janet blos: »Ich bin bei Mr. Tryan gewesen: ich mußte mit ihm sprechen;« dann erinnerte sie sich, wie sie den Schreibtisch und die Papiere verlassen hatte, und ging in das Hinterzimmer, wo anscheinend seit ihrem Fortgehen Niemand gewesen war; denn da lagen noch die Glasscherben und das Zimmer war noch immer voll von dem verhaßten Geruch. Wie schwach und elend erschien ihr in diesem Augenblick die Versuchung. Sie klingelte nach Kitty und ließ sie die Scherben auflesen und den Fußboden aufwischen, während sie die Papiere wieder an ihren Ort brachte und den Schreibtisch verschloß.
Am nächsten Morgen, als sie mit Mrs. Pettifer beim Frühstück saß, sagte Janet:
»Was für eine traurige, ungesund aussehende Gegend das ist, wo Mr. Tryan wohnt. Es muß gewiß sehr nachtheilig für ihn sein, dort zu leben. Schon den ganzen Morgen, seit ich wach bin, habe ich über einen kleinen Plan nachgedacht, den ich für reizend halte – umsomehr, weil Sie dabei betheiligt sind,«
»Ei, was kann das sein?«
»Sie kennen das Haus am Wege nach Redhill, das man Holly Mount nennt; es ist jetzt verschlossen. Das ist Roberts Haus; es gehört jetzt mir und steht auf einem der gesündesten Plätzchen hier herum. Nun habe ich mir so in meinem Sinne gedacht, daß, wenn eine gute, liebe Frau aus meiner Bekanntschaft, die weiß, wie man ein Heim so behaglich und traulich macht wie ein Vogelnest, ihren Wohnsitz dort aufschlagen und Mr. Tryan als Miether haben würde, sie damit eine der nützlichsten Thaten ihres nützlicher Lebens vollbrächte.«
»Sie haben so eine Art, die Sachen in hübsche Worte zu kleiden. Sie müssen deutlicher sprechen.«
»In deutlichen Worten also, ich möchte Sie gern auf Holly Mount unterbringen. Sie würden nicht mehr Miethe zu bezahlen haben als jetzt, und es würde zehnmal angenehmer für Sie sein, als in jenem Winkel zu leben, wo Sie nichts sehen als eine Backsteinmauer. Und dann, da es nicht weit von Paddiford ist, könnte man, glaub' ich, Mr. Tryan überreden, bei Ihnen zu wohnen statt in jenem dumpfigen Haus, unter todten Kohlgärten und rauchigen Hütten. Ich weiß, Sie würden ihn gern bei sich haben und recht mütterlich für ihn sorgen.«
»Gewiß, sehr gern; es wäre mir das Liebste von der Welt. Aber da würde man Möbel brauchen. Mein bißchen Einrichtung wird das Haus nicht füllen.«
»O, ich kann Einiges aus diesem Haus hinschaffen, es ist zu voll: und das Uebrige können wir kaufen. Man sagt, ich werde mehr Geld bekommen, als ich zu verwenden wissen werde.«
»Ich fürchte aber«, sagte Mrs. Pettifer zweifelnd, »Mr. Tryan wird sich kaum überreden lassen. Es ist ihm schon viel zugeredet worden, jenen Platz zu verlassen; und er hat stets gesagt, er müsse dort bleiben – er müsse unter dem Volk sein, und es gäbe keinen andern Platz für ihn in Paddiford. Es schneidet mir durch's Herz, ihn mehr und mehr hinschwinden zu sehen, und ich habe schon manchmal bemerkt, daß er ganz kurzathmig ist. Mrs. Linnet behauptet steif und fest, Mrs. Wagstaff vergifte ihn halb durch schlechtes Essen. Ich weiß nichts darüber, aber er kann nicht viel Behaglichkeit genießen. Ich fürchte, er wird eines Tages plötzlich zusammenbrechen und für immer unfähig zum Predigen werden.«
»Nun, ich werde meine Geschicklichkeit bald versuchen. Ich werde es recht schlau anstellen und ihm nichts sagen, bis alles bereit ist. Sie und ich und Mutter, wenn sie heimkommt, werden uns sogleich an's Werk machen und das Haus in Ordnung bringen, und dann wollen wir Sie behaglich darin einrichten. Ich werde heute mit Mr. Pittman darüber sprechen. Ich werde sagen, ich wünsche Sie als Mietherin darin zu haben. Jedermann weiß, daß ich diese böse Mrs. Pettifer sehr liebe; so wird es die natürlichste Sache von der Welt scheinen. Und dann werde ich Mr. Tryan andeuten, daß er sowohl Ihnen als sich selbst einen Dienst erweisen wird, wenn er seine Wohnung bei Ihnen aufschlägt. Ich denke, ich kann ihn dazu bewegen; denn gestern, als er durchaus in die Nachtluft hinausgehen wollte, habe ich ihn überredet, es zu unterlassen.«
»Nun, ich will hoffen, daß es ihnen gelingt, meine Liebe. Ich verlange nichts Besseres als etwas zur Verlängerung von Mr. Tryans Leben beizutragen, denn ich hege ernste Sorgen um ihn.«
»Sprechen Sie nicht davon – ich kann's nicht ertragen, daran zu denken. Wir wollen nur daran denken, das Haus herzurichten. Wir werden so geschäftig wie Bienen sein. Wie wir der Mutter geschickte Hände vermissen werden! Ich weiß schon, welches Zimmer im obern Stock zu Mr. Tryans Studirzimmer passen wird. Es soll nichts anderes zum Sitzen darin sein außer einem bequemen Stuhl und einem sehr bequemen Sopha, so daß er gezwungen sein wird, sich auszuruhen, wenn er heimkommt.«