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Ich bin nicht ganz sicher, ob die guten Leute von Milby, wenn sie die Wahrheit über die Gräfin Czerlaski gewußt hätten, nicht sehr enttäuscht und mißvergnügt gewesen wären zu finden, daß dieselbe entfernt nicht so schlimm war, als dieselben sich einbildeten. Feine Unterschiede zu machen ist schwierig. Es ist ja so viel leichter zu sagen, ein Ding sei schwarz, als genau die besondere Schattirung von Braun, Blau oder Grün anzugeben, der es wirklich angehört. Es ist ja so viel leichter, unser Urtheil dahin festzustellen, daß unser Nachbar nichts tauge, als auf alle die Umstände einzugehen, die uns zwingen würden, jenes Urtheil zu modificiren.
Und dann denke man an all die tugendhaften Reden, all die scharfsinnigen Bemerkungen, die alle gänzlich auf der fundamentalen Grundlage, daß die Gräfin wirklich eine sehr tadelhafte Person, aufgebaut worden waren und die durch die Zerstörung jener Voraussetzung nun vollkommen über den Haufen geworfen und zu nichte gemacht worden wären. Mrs. Phipps, die Frau des Bankiers, und Mrs. Landor, die Frau des Advokaten, hatten einen Theil ihrer Reputation an die scharfsinnige Vermuthung gesetzt, daß Mr. Bridmain nicht der Gräfin Bruder sei. Ferner war Miß Phipps sich bewußt, daß wenn die Gräfin keine anrüchige Person sei, sie, Miß Phipps, keinen ausgleichenden Vorzug an Tugenden in die Wagschale zu legen hatte gegen der andern Dame offenkundige Überlegenheit in persönlichen Reizen. Miß Phipps' plumpe Figur und unvortheilhafte Kleidung würde dann, statt von einem Tugendhügel und mit einer Aureole ums Haupt herabzublicken, auf demselben Niveau und in demselben Lichte stehend gesehen worden sein, wie der Gräfin Czerlaski dianengleiche Gestalt und wohlgewählte Kleidung. Miß Phipps ihrerseits kleidete sich nicht gern nach dem Effekt – sie hatte es immer vermieden, auf eine Weise, die berechnet war, Sensation hervorzurufen, aufzutreten.
Und dann, welche amüsanten Andeutungen der Gentlemen zu Milby beim Wein würden gänzlich vereitelt und auf nichts zurückgeführt sein, wenn man ihnen gesagt hätte, daß die Gräfin wirklich keiner Vergehen schuldig sei, die sie von streng respektabler Gesellschaft ausschließen mußten; daß ihr Gemahl der wahre Graf Czerlaski gewesen sei, der wie sie sagte, auf wunderbare Weise »entkommen« sei und der – wie sie nicht sagte, wie es aber in gewissen, einst von ihren schönen Händen gefalteten Circularen geschrieben stand – darauf Tanzstunden in der Hauptstadt gegeben hatte; daß Mr. Bridmain weder mehr noch weniger als ihr Halbbruder war, der durch tadellose Rechtlichkeit und Thätigkeit einen Antheil an einer Seidenfabrik sich erworben hatte, und hierdurch ein mäßiges Vermögen, das ihn, wie wir sahen, befähigte, in Zurückgezogenheit Politik, Wetter und die Kunst der Conversation nach Muße zu studiren. Mr. Bridmain, ein 40jähriger Junggeselle wie er war, fühlte sich wirklich äußerst erfreut, seine Schwester in ihrem Wittwenstand bei sich aufzunehmen und in dem Abglanz ihrer Schönheit und ihres Titels zu leuchten. Jeder Mann, der nicht ein Ungeheuer, ein Mathematiker oder ein verrückter Philosoph, ist der Sklave einer oder der andern Frau. Mr. Bridmain hatte seinen Nacken unter das Joch seiner hübschen Schwester gebeugt, und obgleich er durchaus kein »großer Geist« war – sondern in Wirklichkeit sein Geist von der kleinsten Art war – würde er es nicht gewagt haben, diesen Geist sein eigen zu nennen. Er mochte hie und da etwas widerspänstig sein unter der Peitsche der gräflichen Zunge, wie es so die Gewohnheit langöhriger Dickhäuter ist; aber es schien wenig Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß er seinen Nacken jemals frei bekommen werde. Indeß, eines Junggesellen Herz ist wie ein befestigtes Vorwerk, das eine schöne Feindin eines Tags im Sturm oder mit List nehmen kann; und es war immerhin möglich, daß Mr. Bridmain's erste Hochzeit gefeiert würde, bevor die Gräfin ihrer zweiten ganz sicher war. So wie es indeß war, unterwarf er sich allen Launen seiner Schwester, murrte nie, weil ihre Kleidung und ihre Zofe einen beträchtlichen Ausgabeposten bildeten, der über ihr eignes kleines Einkommen von 60 £ jährlich hinausging, und willigte ein, mit ihr ein Wanderleben zu führen, wie Personen auf dem streitigen Grund zwischen Adel und Bürgerstand, statt sich an irgend einem Ort niederzulassen, wo seine 500 £ jährlich ihm die feste Stellung eines Dorfmagnaten gewonnen hätten.
Die Gräfin hatte ihre Gründe, einen ruhigen Provinzort wie Milby zu wählen. Nach dreijähriger Wittwenschaft hatte sie ihre Gefühle so weit bezwungen, daß sie daran dachte, ihrem betrauerten Czerlaski einen Nachfolger zu geben, ihm, dessen feiner Backenbart, nobles Air und romantische Schicksale vor zehn Jahren ihr Herz gewonnen hatten, da sie, als hübsche Caroline Bridmain, in der vollen Blüthe ihrer fünfundzwanzig Lenze, die Erzieherin von Lady Parker's Töchtern war, die er in die Geheimnisse der pas de bas und der Lanciertouren einführte. Sie hatte sieben Jahre in ziemlich glücklicher Ehe mit Czerlaski verlebt, der sie mit nach Paris und Deutschland nahm und dort vielen seiner alten Freunde mit großen Titeln und wenig Mitteln vorstellte, so daß die schöne Caroline beträchtliche Lebenserfahrungen gesammelt und hieraus zwar keine besonders reife und umfassende Weisheit, aber doch viel äußeren Schliff und gewisse praktische Schlußfolgerungen sehr bestimmter Gattung gewonnen hatte. Eine dieser Schlußfolgerungen war, daß es im Leben solidere Dinge gebe, als feine Backenbärte und Titel und daß sie bei der Wahl eines zweiten Gatten diese Dinge einer Equipage und einem Landgut gegenüber als untergeordnet betrachten würde. Nun hatte sie sich durch versuchsweisen Aufenthalt vergewissert, daß die Sorte von Fischen, nach der sie angelte, sehr schwierig in Badeorten anzutreffen war, die bereits von einem Ueberfluß an angelnden Schönheiten besetzt und hauptsächlich von Männern besucht waren, deren Backenbärte gefärbt sein konnten und deren Einkünfte noch viel problematischer waren; so hatte sie sich entschlossen, es mit einer Nachbarschaft zu versuchen, wo man sich gegenseitig ganz genau kannte, und wo die Frauenzimmer meistens schlecht gekleidet und häßlich waren. Mr. Bridmain's langsam arbeitendes Gehirn hatte seiner Schwester Ansichten adoptirt, und es schien ihm, daß eine so hübsche und distinguirte Frau wie die Gräfin sicher eine Partie machen müßte, die ihn vielleicht in die Region der Grafschaftsberühmtheiten erhob und ihm zum mindesten eine Art Verwandtschaft zu den Quartalssessionen Die betr. Gerichtshöfe bereisen jährlich 4 mal das Land und halten in den einzelnen Grafschaften Sitzungen, zu denen Geschworene aus den Honoratioren der Grafschaft beigezogen werden. verlieh.
All dies – was reine Wahrheit war – würde den Schwätzern von Milby sehr gewöhnlich vorgekommen sein, da sie ihren Sinn auf Erregenderes gestellt hatten. Es gab da nichts so sehr Verabscheuungswürdiges. Es ist wahr, die Gräfin war ein wenig eitel, ein wenig ehrgeizig, ein wenig egoistisch, ein wenig oberflächlich und weltlich, ein wenig unschuldigem Lügen ergeben. Aber wer beachtet solche kleine Mängel, solche moralische Sommersprossen als unfähig machend zum Eintritt selbst in die respektabelste Gesellschaft! In der That mochten die strengsten Damen in Milby gemerkt haben, daß diese Merkmale keine weite Kluft zwischen der Gräfin Czerlaski und ihnen selbst geschaffen hätten; und da es klar, daß eine weite Kluft vorhanden war – ei nun, so mußte sie im Besitze gewisser Laster bestehen, von denen sie unleugbar frei waren.
Und so kam es, daß die Honoratioren Milby's sich weigerten, die Gräfin Czerlaski anzuerkennen, trotz ihres eifrigen Kirchenbesuchs und des tiefen Aergers, den sie, wie bekannt, über das äußerst geringe Erträgniß der Sammlungen am Aschermittwoch geäußert hatte. So begann sie zu fühlen, daß sie sich betreffs der Vortheile einer Nachbarschaft, wo Jeder mit der Andern Angelegenheiten genau bekannt ist, verrechnet hatte. Unter diesen Umständen kann man sich denken, wie willkommen ihr das unbegrenzte Zutrauen und die Bewunderung war, die sie bei Mr. und Mrs. Barton fand. Sie war besonders aufgebracht über Mr. Ely's Benehmen gegen sie; sie fühlte, daß er durch ihre Schönheit nicht im geringsten gerührt war, daß er über ihre Conversation spottete und von ihr mit Achselzucken sprach. Eine Frau weiß immer, wo sie gänzlich machtlos ist, und scheut ein kalt-satirisches Auge, wie sie ein Medusenantlitz scheuen würde. Und sie war besonders begierig nach geistlicher Beachtung und Freundschaft, nicht blos weil das durchaus das respektabelste Ansehen ist, das man in der Gesellschaft erlangen kann, sondern auch weil sie sich wirklich um religiöse Dinge bekümmerte und das unangenehme Gefühl hatte, sie sei nicht ganz sicher in dieser Hinsicht. Sie hatte ernste Vorsätze, ganz fromm zu werden – ohne jeden Rückhalt – wenn sie einmal ihre Equipage und ihren Landsitz habe. Laß uns diesen einen Schelmenstreich ausführen, sagt Ulysses zu Neoptolem, und wir wollen nachher stets vollkommen ehrlich sein –
ἀλλ’ ἡδὺ γάρ τοι κτῆμα τῆς νίκης λαβεῖν,
τόλμα· δίκαιοι δ’ αὖθις ἐκφανούμεθα.
Die Gräfin citirte Sophokles nicht, sondern sprach bei sich selbst: »Nur dies Bischen Verstellung und Eitelkeit, und dann will ich ganz gut sein und mich ganz tauglich machen für eine andere Welt.«
Und da sie in der kirchlichen Lehre keinen so feinen Geschmack und so viel Einsicht besaß wie in der Toilette, schien ihr der Rev. Amos Barton ein Mann nicht nur von Wissen – denn das versteht sich bei einem Geistlichen stets von selbst – sondern auch von viel Begabung als geistlicher Leiter. Und was Milly betrifft, so liebte die Gräfin sie, so gut es der voreingenommene Zustand ihrer Neigungen gestattete. Denn Du hast wohl schon bemerkt, daß es ein Wesen gab, dem die Gräfin gänzlich ergeben war, und dessen Wünschen sie alles andere dienstbar machte – nämlich Caroline Czerlaski, geborene Bridmain.
So war wirklich nicht viel Verstellung in ihren süßen Redensarten und Aufmerksamkeiten gegen Mr. und Mrs. Barton. Doch deren Freundschaft bot ihr in keiner Weise das, was sie im Auge hatte, als sie nach Milby kam, und es war ihr seit einiger Zeit klar geworden, daß sie ihrem Bruder einen neuen Wohnungswechsel vorschlagen müsse.
Eine Sache, die wir erwarten, ereignet sich oft, aber nie genau in der Weise, wie wir es uns vorstellten. Die Gräfin verließ wirklich Camp Villa, ehe viele Monate verflossen waren, aber unter Umständen, die ihr bei ihren Plänen durchaus nicht in den Sinn gekommen waren.