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Um 12 Uhr, als alles Suchen und Forschen vergebens gewesen war und der Leichenbeschauer jeden Augenblick erwartet wurde, konnte Mr. Gilfil die harte Pflicht, Sir Christopher dieses neue Unglück zu enthüllen, nicht länger verschieben, da der Baronet es sonst unvorbereitet hätte entdecken müssen.
Der Baronet saß in seinem Ankleidezimmer, wo die dunkeln Fenstervorhänge so zugezogen waren, daß sie nur ein gedämpftes Licht zuließen. Es war die erste Unterredung, die Mr. Gilfil diesen Morgen mit ihm hatte, und er war betroffen zu sehen, wie ein Tag und eine Nacht des Kummers den prächtigen alten Herrn gealtert hatten. Die Furchen auf der Stirn und um den Mund hatten sich vertieft; seine Gesichtsfarbe sah matt und welk aus: unter den Augen befanden sich angeschwollene Wülste, und die Augen selbst, die sonst einen so scharfen Blick auf das Gegenwärtige warfen, trugen jenen leeren Ausdruck, der uns sagt, daß das Gesicht nicht mehr ein Sinn, sondern nur eine Erinnerung ist.
Er streckte Maynard seine Hand entgegen, der sie drückte und sich schweigend neben ihn setzte. Sir Christophers Herz begann zu schwellen bei diesem unausgesprochenen Mitgefühl; die Thränen stiegen auf und rollten in großen Tropfen über seine Wangen herab. Die ersten Thränen, die er seit seinen Knabenjahren vergossen, galten Anthony.
Maynard war es, als ob ihm die Zunge am Gaumen klebte. Er konnte nicht zuerst sprechen; er mußte warten, bis Sir Christopher etwas sagte, das ihn auf die grausamen Worte bringen könnte, die er sprechen mußte.
Endlich bezwang der Baron sich so weit, um zu sagen: »Ich bin sehr schwach, Maynard – Gott helfe mir! Ich dachte nicht, daß etwas mich in dieser Weise entmannen könnte; aber ich hatte Alles auf diesen Burschen gebaut. Vielleicht that ich Unrecht, daß ich meiner Schwester nicht vergab. Sie verlor einen ihrer Söhne vor kurzem. Ich bin zu stolz und hartnäckig gewesen.«
»Wir können kaum Demuth und Zärtlichkeit genug lernen, außer durch's Leiden«, sagte Maynard; »und Gott sieht, daß wir des Leidens bedürfen, denn es fällt schwerer und schwerer auf uns. Wir haben einen neuen Kummer diesen Morgen.«
»Tina?« sagte Sir Christopher, besorgt aufblickend, »ist Tina krank?«
»Ich bin in schrecklicher Ungewißheit ihretwegen. Sie war gestern sehr erregt – und bei ihrer zarten Gesundheit – ich fürchte mich zu denken, welche Wendung die Erregung genommen haben kann.«
»Redet sie irre, die arme liebe Kleine?«
»Gott nur weiß es. Wir können sie nirgends finden. Als Mrs. Sharp diesen Morgen auf ihr Zimmer kam, war es leer. Sie war nicht im Bett gewesen. Ihr Hut und Mantel waren fort. Ich habe überall nach ihr suchen lassen – im Haus und im Garten, im Park und – im Wasser. Niemand hat sie gesehen seit gestern Abend um 7 Uhr, wo Martha ihr Feuer anzündete.«
Während Mr. Gilfil sprach, erlangten Sir Christophers Augen, die begierig auf ihn gerichtet waren, etwas von ihrer früheren Schärfe wieder und eine plötzliche, schmerzliche Regung, wie über einen neuen Gedanken, flog rasch über sein bereits erregtes Gesicht, wie der Schatten einer dunklen Wolke über die Wellen. Als die Pause kam, legte er seine Hand auf Mr. Gilfils Arm und sagte mit leiserer Stimme:
»Maynard, hat das arme Ding Anthony geliebt?«
»Ja, Sir.«
Maynard zögerte nach diesen Worten, kämpfend zwischen seinem Widerwillen, Sir Christopher eine noch tiefere Wunde zu schlagen, und seinem Entschluß, daß Caterina keine Ungerechtigkeit geschehen solle. Sir Christophers Augen waren noch immer in tiefernstem Forschen auf ihn gerichtet, und seine eigenen senkten sich zu Boden, während er es versuchte, die Worte zu finden, welche die Wahrheit am wenigsten grausam sagen würden.
»Sie dürfen nichts Unrechtes von Tina denken«, sagte er endlich. »Ich muß Ihnen jetzt um ihretwillen sagen, was sonst wohl niemals über meine Lippen gekommen wäre. Capitän Wybrow gewann ihre Neigung durch Aufmerksamkeiten, die er in seiner Stellung ihr nicht erweisen durfte. Bevor von dieser Heirath gesprochen wurde, hatte er sich gegen sie wie ein Liebhaber benommen.«
Sir Christopher ließ Maynards Arm los und blickte weg von ihm. Er schwieg einige Minuten still, indem er augenscheinlich sich zu bezwingen suchte, um ruhig sprechen zu können,
»Ich muß sogleich mit Henriette sprechen«, sagte er endlich, mit etwas von seiner alten, scharfen Entschiedenheit; »sie muß Alles erfahren; aber wir müssen es sonst vor Jedermann möglichst geheim halten. Mein lieber Junge«, fuhr er in freundlicherem Tone fort, »die schwerste Bürde ist auf Dich gefallen. Aber wir finden sie vielleicht noch; wir dürfen nicht verzweifeln; die Zeit ist noch zu kurz, um Gewißheit haben zu können. Arme, liebe Kleine! Gott helfe mir! Ich dachte, ich sähe Alles, und war stockblind die ganze Zeit.«