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Tag für Tag, mit nur kurzen Erholungspausen, behauptete Janet ihren Platz in jenem traurigen Zimmer. Kein Wunder, daß das Krankenzimmer und Lazareth so oft ein Zufluchtsort vor den Stürmen intellektuellen Zweifels gewesen – ein Ruheplatz für den ermatteten und verwundeten Geist. Hier ist eine Pflicht, worüber alle Glaubensbekenntnisse und philosophischen Systeme einig sind: hier wenigstens wird das Gewissen nicht matt gehetzt durch Zweifel, der wohlwollende Impuls nicht gekreuzt durch widerwärtige Theorie; hier kann man zu handeln anfangen ohne irgend eine Präliminarfrage abzumachen. Des Leidenden vertrocknete Lippen während der langen Nachtwachen anfeuchten, das herabsinkende Haupt erheben, die hilflosen Glieder aufrichten, den Wunsch errathen, der keine Äußerung finden kann außer einer schwachen Handbewegung oder einem flehenden Wink der Augen – das sind Pflichten, die keine Selbsterforschung, keine Casuistik, keine Zustimmung zu bestimmten Voraussetzungen, kein Abwägen der Folgen erheischen. Innerhalb der vier Wände, wo der Lärm und die Neugierde der Welt ausgeschlossen und jede Stimme gedämpft ist – wo ein menschliches Wesen, auf das liebende Erbarmen seines Nächsten angewiesen, hingestreckt liegt, ist das moralische Verhältniß von Mensch zu Mensch auf die äußerste Klarheit und Einfachheit zurückgeführt: Bigotterie kann es nicht verwirren, Theorie nicht verdrehen, durch Schrecken zur Ruhe gebrachte Leidenschaft nicht beflecken oder stören. Wie wir uns über das Krankenbett beugen, strömen alle unsere Kräfte zu auf die Kanäle des Mitleids, der Geduld und Liebe und schwemmen hinweg alle die hindernde Trift unserer Zänkereien, unserer Wortwechsel, unserer Afterweisheit und unserer lärmenden, selbstsüchtigen Begierden. Dieser Segen ruhiger Freiheit von den Belästigungen der Meinung ruht auf allen einfachen, unmittelbaren Akten der Barmherzigkeit und ist eine Quelle jener süßen Ruhe, die oft von dem Wärter im Krankenzimmer gefühlt wird, selbst wenn die Pflichten dort schwerer, schrecklicher Art sind.
Etwas von jener wohlthätigen Wirkung fühlte Janet während ihrer Anwesenheit in ihres Gatten Zimmer. Als die ersten herzerschütternden Stunden vorüber waren – als ihr Entsetzen vor dem Delirium nicht mehr frisch war, begann sie ihre Befreiung von der Bürde der Entscheidung betreffs ihres zukünftigen Lebens zu spüren. Die sie erregende Frage, ob sie zu ihrem Gatten zurückkehren solle, war im Nu gelöst worden; und diese Krankheit konnte, Alles wohl erwogen, der Herold eines anderen Segens sein, gerade wie auf jene schreckliche Mitternacht, da sie als eine Ausgestoßene in Kälte und Dunkelheit stand, das Aufdämmern einer neuen Hoffnung gefolgt war. Robert würde besser werden; diese Krankheit konnte ihn ändern; er würde lange Zeit schwach, hilfsbedürftig sein, vielleicht an der Krücke gehen müssen. Sie wollte ihn pflegen mit solcher Zärtlichkeit, solcher allvergebenden Liebe, daß die alte Barschheit und Grausamkeit für immer zerschmelzen mußte vor dem Herzenssonnenschein, den sie um ihn verbreiten wollte. Ihr Busen hob sich bei dem Gedanken, und köstliche Thränen flossen. Janet besaß eine Natur, in der Haß und Rache keinen Platz finden konnten; die langen bitteren Jahre zogen die Hälfte ihrer Bitterkeit aus ihrer immer wachen Erinnerung an die zu kurzen Jahre der Liebe, die vorher gingen; und der Gedanke, daß ihr Gatte je wieder ihre Hand an seine Lippen ziehen und sich die Tage zurückrufen würde, wo sie auf dem Grase beisammen saßen und er ihr scharlachrothe Mohnblumen ins Haar steckte und sie seine Zigeunerkönigin nannte, schien eine Fluth liebenden Vergessens zu senden über den ganzen rauhen und steinigen Weg, den sie seitdem zurückgelegt hatte. Die göttliche Liebe, die sie bereits beschienen, würde ihr beistehen; sie wollte ihr Herz und ihre Hände fortwährend erheben um Hilfe; Mr. Tryan, wußte sie, würde für sie beten. Wenn sie fühlte, daß sie schwach würde, wollte sie es ihm sogleich bekennen; wenn ihre Füße ausgleiten wollten, da war eine Stütze, an die sie sich klammern konnte. O, sie konnte nie wieder in jene kalte, feuchte Gruft der Sünde und Verzweiflung gezogen werden; sie hatte die Morgensonne gefühlt, sie hatte die milde reine Luft des Vertrauens, der Reue und des Gehorsams gekostet.
Das waren die Gedanken, die Janet durch den Sinn gingen, als sie ihres Gatten Bett umschwebte, und das waren die Gedanken, die sie Mr. Tryan mittheilte, als er kam, um sie zu besuchen. Es war so augenscheinlich, daß sie dadurch in ihrem neuen Kampfe gestärkt wurde – es lag ein solcher Schimmer von ruhigem Enthusiasmus über ihrem Gesicht, als sie davon sprach, daß Mr. Tryan es nicht über sich gewinnen konnte, den Frost warnender Zweifel darauf zu werfen, obgleich eine vorausgehende Unterredung mit Mr. Pilgrim ihn überzeugt hatte, daß nicht die geringste Wahrscheinlichkeit für Dempsters Genesung vorhanden war. Die arme Janet kannte die Bedeutung der sich ändernden Symptome nicht, und als nach Ablauf einer Woche das Delirium etwas von seiner Heftigkeit zu verlieren schien und durch längere, oder kürzere Intervalle von Betäubung unterbrochen wurde, bemühte sie sich zu denken, daß das vielleicht Schritte auf dem Wege zur Besserung seien und schrack davor zurück, Mr. Pilgrim zu befragen, damit er nicht etwa die Befürchtungen bestärke, die in ihrem Gemüth die Herrschaft zu erlangen begannen. Aber als noch einige Tage verflossen waren, hielt er es für angemessen, daß sie sich nicht länger einer Täuschung hingebe. Eines Tages – es war gerade um Mittag, wo schlimme Nachrichten stets am unangenehmsten scheinen – führte er sie aus ihres Gatten Zimmer in das gegenüberliegende Besuchszimmer, wo Mrs. Raynor saß, und sagte zu ihr in jenem gedämpften Tone sympathischen Mitgefühls, der manchmal diesem rauhen Manne einen unvermutheten Anstrich der Milde verlieh: –
»Meine werthe Mrs. Dempster, Sie wissen, es gehört sich in solchen Fällen, auf das Schlimmste vorbereitet zu sein. Ich denke, ich werde Ihnen Schmerz ersparen, indem ich Sie hindere, trügerische Hoffnungen zu nähren, und Mr. Dempster's Zustand ist jetzt derart, daß ich fürchte, wir müssen eine Genesung für unmöglich halten. Die Gehirnerschütterung wäre vielleicht nicht hoffnungslos gewesen, aber wie Sie sehen, ist eine schreckliche Verwicklung vorhanden; und das gebrochene Glied – es thut mir leid, das sagen zu müssen – stirbt ab.«
Janet lauschte mit sinkendem Muth. Jene Zukunft von Liebe und Vergebung würde also nie kommen; er ging für immer von ihr dahin, wo ihr Erbarmen ihn nie erreichen konnte. Sie fröstelte und zitterte.
»Aber glauben Sie, daß er sterben wird«, sagte sie, »ohne noch einmal zum Bewußtsein zu gelangen? ohne mich nochmals zu erkennen?«
»Man kann das nicht mit Bestimmtheit sagen. Es ist nicht unmöglich, daß die Beklemmung des Gehirns aufhört und daß er zum Bewußtsein gelangt. Wenn Sie in diesem Fall irgend etwas zu sagen oder zu thun wünschen, ist es gut, sich darauf vorzubereiten, Ich dachte«, fuhr Mr. Pilgrim, zu Mrs. Raynor gewendet, fort, »Mr. Dempsters Angelegenheiten werden wohl geordnet sein – sein Testament …«
»O, ich möchte ihn deshalb nicht belästigen«, unterbrach Janet; »er hat nur ganz entfernte Verwandte. Damit wollte ich die Zeit nicht vertragen. Ich möchte nur …«
Sie konnte nicht ausreden; sie fühlte, daß sie zu schluchzen begann, und verließ das Zimmer. »O Gott!« sagte sie innerlich, »ist nicht Deine Liebe größer als meine? Erbarme Dich seiner! Erbarme Dich seiner!«
Das geschah am Mittwoch, zehn Tage nach dem fatalen Unfall. Am folgenden Sonntag befand sich Dempster in einem Zustand rasch zunehmender Entkräftung; und als Mr. Pilgrim, der von Anfang an mit seinem Gehilfen abwechselnd im Hause geschlafen hatte, wie gewöhnlich um halb elf Uhr Abends hereinkam, glaubte er kaum, daß das nur schwach noch ringende Leben bis zum Morgen dauern würde. In den letzten paar Tagen hatte er Reizmittel verordnet, um die Erschöpfung zu mildern, die auf die Abwechslungen zwischen Delirium und Betäubung gefolgt war. Diese leichte Verrichtung war jetzt alles, was man noch für den Patienten thun konnte; und so ging denn Mr. Pilgrim um elf Uhr zu Bett, nachdem er dem Wärter Anweisungen gegeben und angeordnet hatte, daß man ihn rufen solle, wenn irgend eine Änderung einträte, oder wenn Mrs. Dempster seine Anwesenheit wünschte.
Janet konnte nicht überredet werden, das Zimmer zu verlassen. Sie ersehnte und erwartete einen Augenblick, in dem ihres Gatten Auge mit Bewußtsein auf ihr ruhen und er erfahren würde, daß sie ihm vergeben hatte.
Wie er sich verändert hatte seit jenem schrecklichen Montag, vor nahezu vierzehn Tagen! Er lag regungslos, nur ein unregelmäßiges Athemholen bewegte die breite Brust und den dicken, muskulösen Hals. Seine Wangen waren nicht mehr roth und aufgedunsen; sie waren bleich, eingesunken und hager. Kalter Schweiß stand in Tropfen auf der vorspringenden Stirn und auf den abgezehrten Händen, die regungslos auf der Bettdecke lagen. Es war besser, die Hände so zu sehen, als wenn sie krampfhaft durch die Luft fuhren, wie sie vor acht Tagen gethan hatten.
Janet saß am Rande des Bettes während der langen Nachtstunden; sie bewachte fortwährend die fühllosen, halbgeschlossenen Augen, wischte ihm den Schweiß von Stirn und Wangen und ließ ihre Linke auf der kalten, den sanften Druck nicht erwidernden Rechten ruhen, die neben ihr auf der Bettdecke lag. Sie war fast so blaß wie ihr sterbender Gatte, und um ihre Augen lagen dunkle Ringe, denn das war die dritte Nacht, seitdem sie das letztemal in einem Bette geruht hatte; aber der angestrengte, forschende Blick ihrer dunkeln Augen stand in seltsamem Gegensatz zu der leeren Bewußtlosigkeit und dem abgezehrten Animalismus des Gesichtes, das sie beobachtete.
Tiefe Stille herrschte im Hause. Sie hörte keinen Laut als die Athemzüge ihres Gatten und das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. Die Kerze, die hoch oben stand, warf ein sanftes Licht herab auf den einen Gegenstand, den sie zu sehen verlangte. Es roch leicht nach Branntwein im Zimmer; ihrem Gatten wurde von Zeit zu Zeit ein Schluck eingeflößt; aber dieser Geruch, der zuerst einen schwachen Schauder in ihr erregt hatte, war ihr jetzt gleichgiltig geworden; sie bemerkte ihn nicht einmal; sie war sich ihrer selbst zu wenig bewußt, um Versuchungen oder Anklagen ausgesetzt zu sein. Sie fühlte nur, daß der Geliebte ihrer Jugend im Sterben lag; weit, weit außer ihrem Bereich, als stünde sie hilflos am Ufer, während er in den schwarzen, sturmgepeitschten Meereswogen versank; sie schmachtete nur nach einem Augenblick, in dem sie dem tiefen vergebenden Mitleid ihrer Seele durch einen liebenden Blick, ein zärtliches Wort Genüge leisten könnte.
Ihre Gefühle und Gedanken waren so zusammenhängend, daß sie die Stunden nicht bemessen konnte und es eine Ueberraschung für sie war, als der Wärter die Kerze auslöschte und das schwache Morgenlicht hereinfallen ließ. Mrs. Raynor, ängstlich besorgt um Janet, war bereits wach und brachte ihr jetzt Kaffee; und Mr. Pilgrim, der auch erwacht war, hatte rasch seine Kleider angelegt und war hereingekommen, um zu sehen, wie es Dempster ginge.
Dieser Wechsel vom Kerzenlicht zum Morgenlicht, dieser Wiederbeginn desselben Kreislaufs der Dinge wie gestern war eher eine Entmuthigung als eine Erleichterung für Janet. Sie wurde sich ihrer fröstelnden Müdigkeit mehr bewußt; das neue Licht, das auf ihres Mannes Züge fiel, schien die stille Arbeit, die der Tod während der Nacht vollbracht, zu offenbaren; sie fühlte ihre letzte sehnsüchtige Hoffnung, daß er sie noch einmal erkennen werde, schwinden.
Jetzt aber brachte Mr. Pilgrim, nachdem er den Puls gefühlt, etwas Branntwein in einem Theelöffel zwischen Dempsters Lippen; der Branntwein floß hinab, und des Kranken Athem wurde freier. Janet bemerkte die Veränderung, und ihr Herz schlug rascher, als sie sich vorbeugte, um ihn zu beobachten. Plötzlich wurde eine leichte Bewegung, wie das Verschwinden eines Schattens, auf seinem Gesicht bemerklich, und er öffnete die Augen voll auf Janet.
Es war fast wie das Wiedersehen mit ihm am Auferstehungsmorgen, nach der Grabesnacht.
»Robert, kennst Du mich?«
Er hielt die Augen auf sie geheftet und man bemerkte eine schwache Bewegung der Lippen, als ob er sprechen wollte.
Aber die Zeit des Sprechens war für immer vorüber – die Zeit zum Erbitten ihrer Verzeihung, wenn er sie erbitten wollte. Konnte er die volle Vergebung lesen, die in ihren Augen geschrieben stand? Sie erfuhr es nie; denn als sie sich über ihn beugte, um ihn zu küssen, war der dichte Schleier des Todes zwischen ihnen gefallen, und ihre Lippen berührten einen Leichnam.