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Bei ihren gelegentlichen Besuchen bei ihrer nächsten Nachbarin Mrs. Pettifer – einer zu alten Freundin, um gemieden zu werden, weil sie eine Tryanitin war – war Janet gezwungen, manchmal Anspielungen auf Mr. Tryan zu hören und selbst seinem Lobe zu lauschen, dem sie gewöhnlich mit scherzhaftem Unglauben begegnete.
»Nun«, antwortete sie eines Tags, »mir ist Mr. Crewe mit seinen Pfeifen viel, viel lieber als Ihr Mr. Tryan und sein Evangelium. Als ich noch ein kleines Mädchen war, ließ mich Mrs. Crewe in ihrem Garten spielen und zwischen den großen Ulmenbäumen schaukeln, weil Mutter keinen Garten hatte. Mir gefallen die Leute, die gütig sind; Güte ist meine Religion; und das ist der Grund, warum ich Sie liebe, theure Mrs. Pettifer, obgleich Sie eine Tryanitin sind.«
»Aber das ist ja auch Mr. Tryans Religion, wenigstens theilweise. Niemand kann sich mehr dem Wohlthun unter den Armen widmen; und er denkt an ihre Leiber ebenso wie an ihre Seelen.«
»O ja, ja; aber dann redet er von Glauben und Gnade und all dem, macht die Leute glauben, daß sie besser sind als andere und daß Gott sie mehr liebt, als die ganze übrige Welt. Ich weiß, daß er ein gut Theil davon Sally Martin in den Kopf gesetzt hat, und es ist ihr durchaus nicht gut bekommen. Sie war sonst ein so nettes, ehrbares, geduldiges Mädchen, ganz wie sie sein sollte; und jetzt bildet sie sich ein, sie habe ein neues Licht und eine neue Weisheit erworben. Ich liebe das durchaus nicht.«
»Sie irren sich in ihm, ganz gewiß, meine liebe Mrs. Dempster; ich wünschte, Sie hörten ihn einmal predigen.«
»Ihn predigen hören! Ei, Sie böse Frau, wollten Sie mich bereden, meinem Manne ungehorsam zu sein, he? O, schrecklich! Ich werde Ihnen davonlaufen. Adieu.«
Einige Tage nach dieser Unterredung ging Janet gegen drei Uhr Nachmittags zu Sally Martin. Sie dachte, der Pudding, der für sie und »Mammy« bereitet worden war, sei gerade so ein delikater Bissen, wie ihn das arme schwindsüchtige Mädchen am liebsten haben würde, und in ihrer gewohnten Weise dem Impuls folgend, war sie sogleich vom Tische aufgesprungen, hatte ihr Barett aufgesetzt und sich mit einem bedeckten Teller voll davon auf den Weg gemacht. Als sie das Haus betrat, war Niemand dort zu sehen; aber in dem kleinen Nebenzimmer, wo Sally lag, hörte Janet eine Stimme. Es war eine Stimme, die sie nie zuvor gehört, aber sie rieth sogleich auf Mr. Tryan. Ihr erster Gedanke war, den Teller niederzustellen und sich zu entfernen, aber vielleicht war Mrs. Martin nicht zu Hause, und dann würde Niemand da sein, Sally dies köstliche Stück Pudding zu geben. Sie blieb also stehen und war so gezwungen, mitanzuhören, was Mr. Tryan sagte. Er wurde unterbrochen durch einen der heftigen Hustenanfalle der Patientin.
»Es ist sehr schwer zu ertragen, nicht wahr?« sagte er, als sie wieder still war. »Doch Gott scheint Sie wunderbar darin zu unterstützen. Beten Sie für mich, Sally, daß auch ich Kraft haben möge, wenn die Stunde schweren Leidens kommt. Es ist eine meiner schlimmsten Schwächen, vor körperlichem Schmerz zu erzittern, und ich glaube, die Zeit ist vielleicht nicht fern, wo ich zu ertragen habe, was Sie jetzt ertragen. Aber nun habe ich Sie ermüdet. Wir haben genug geplaudert. Adieu.«
Janet war überrascht und vergaß ihren Wunsch, Mr. Tryan nicht zu begegnen; der Ton und die Worte waren ungleich dem, was sie zu hören erwartet hatte. Da war nichts vorhanden von der selbstzufriedenen Salbung des Lehrers, der zum Besten des Zuhörers Bibelsprüche anführt, ermahnt oder auslegt, sondern eine einfache Bitte um Hilfe, ein Geständniß der Schwäche. Mr. Tryan hatte also seine tiefgefühlten Kümmernisse? Mr. Tryan wußte also auch, wie sie, was es heißt, vor einer vorhergesehenen Heimsuchung zu erzittern – zu schaudern vor einer drohenden Bürde, schwerer als er zu ertragen sich zutraute? Die glänzendste tugendhafte That würde Mr. Tryan Janets Wohlwollen nicht so sehr zugeneigt haben, als diese Genossenschaft im Leiden, und dieser besänftigende Gedanke lag in ihren Augen, als er bleich, müde und niedergedrückt im Thorweg erschien. Janets Anblick, die mit der ganzen Abwesenheit des Selbstbewußtseins dastand, die einem neuen und lebhaften Eindruck eigen ist, ließ ihn zurückprallen und ein wenig anhalten. Ihre Augen trafen sich, und sie sahen einander einige Augenblicke tiefernst an. Dann verbeugten sie sich, und Mr. Tryan ging hinaus.
Es liegt eine Gewalt in dem offenen Blick einer aufrichtigen und liebenden Menschenseele, die mehr thut, Vorurtheil zu zerstreuen und christliche Liebe zu entzünden, als die scharfsinnigsten Argumente. Die vollste Auslegung der Lehre Mr. Tryans hätte vielleicht nicht genügt, um sie zu überzeugen, daß er nicht die hassenswerthe Selbstgefälligkeit besitze, sich für ein besonderes Kind Gottes zu halten; aber ein offener, ausdrucksvoller Blick von ihm hatte ihn für immer von jenem Begriffe getrennt.
Dies geschah spät im Herbst, nicht lange vor Sally Martins Tod, Janet erwähnte diesen neuen Eindruck gegen Niemanden, denn sie fürchtete, einer noch vollständigeren Widerlegung ihrer früheren Vorstellungen zu begegnen. Wir alle nehmen bedeutende Rücksichten auf unser einstiges Ich und häufen gar nicht gerne Vorwürfe auf jenes geachtete Individuum, indem wir seine Ansichten total negiren. Janet konnte nicht mehr ohne Mitgefühl an Mr. Tryan denken; aber sie schrak noch immer vor der Idee zurück, seine Zuhörerin und Bewundrerin zu werden. Das wäre eine Umkehrung des Vergangenen, die ebensowenig mit ihrer Neigung als mit ihren Verhältnissen übereinstimmte.
Und in Wirklichkeit wurde die Begegnung mit Mr. Tryan durch das täglich sich vergrößernde Elend ihres Lebens bald in den Hintergrund von Janets Erinnerung gedrängt.