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Fünfzehntes Kapitel.

Die steinige Straße, der bittere Nordostwind und die tiefe Finsterniß – und in ihrer Mitte, hinausgestoßen aus ihres Gatten Heim in ihrem dünnen Nachtgewand, eine zarte Frau, deren nackte Füße der Wind durchschnitt, der zugleich ihr langes Haar von dem halbbekleideten Busen wegjagte, in welchem das arme Herz sich zusammenzieht in Qual und Verzweiflung.

Der Ertrinkende, bedrängt durch die höchste Todesangst, durchlebt in einem Augenblick seine ganze glückliche und unglückliche Vergangenheit: wenn die dunkle Fluth sich gesenkt hat wie ein Vorhang, sieht das Gedächtniß in einem Augenblick das Drama ganz durchgeführt. Und selbst in jenen früheren Krisen, die nur Vorbilder des Todes sind – wenn wir plötzlich abgeschnitten werden von dem Leben, das wir kennen, wenn wir nicht mehr erwarten dürfen, daß das Morgen dem Gestern gleicht, und uns durch irgend einen plötzlichen Stoß an die Grenzen des Unbekannten versetzt finden, flammt oft dieselbe Art von Blitzstrahl durch die dunkeln und einsamen Kammern des Gedächtnisses.

Als Janet sich fröstelnd auf den Thürstein setzte, als die Thüre sich schloß hinter ihrem vergangenen Leben und die Zukunft schwarz und gestaltlos wie die Nacht vor ihr lag, flogen die Scenen ihrer Kindheit, ihrer Jugend und ihres schmerzlichen Ehestands ihr ins Bewußtsein zurück und bildeten ein Gemälde mit ihrer gegenwärtigen trostlosen Lage. Das verhätschelte Kind, das sein neuestes Spielzeug mit ins Bett nahm – das junge Mädchen, das voll stolzer Kraft und Schönheit träumt, das Leben sei ein lustig Ding, und eine klägliche Schwäche sei es unglücklich zu sein – die Braut, die mit zitternder Freude aus dem Vorhof in das Allerheiligste des Frauenlebens tritt – das Weib, das eingeweiht zu werden beginnt in Kümmernisse, verwundet, grollend, doch immer noch hoffend und vergebend – die arme geschlagene Frau, die durch langwierige Jahre die einzige Zuflucht der Verzweiflung, Vergessen, sucht: – Janet schien dies Alles in demselben Augenblick zu sein, den sie ihrer Meinung nach auf dem kalten Stein sitzend zubrachte unter dem Anstoß eines neuen Elends. All ihre frühere Fröhlichkeit, alle ihre glänzenden Hoffnungen und Träume, alle ihre Schätze an Schönheit und Liebe dienten nur dazu, das Räthsel ihres Lebens zu verdunkeln: sie waren die trügerischen Versprechungen eines grausamen Geschicks, das jene zarten Blüthen nur getrieben hatte, damit die Stürme und Winde ein größeres Zerstörungswerk zu verrichten hätten, das sie wie ein Lieblingsreh in Zärtlichkeit und liebende Erwartung eingewiegt hatte, nur damit sie einen jäheren Schreck fühlen möchte in den Klauen des Panthers. Ihre Mutter hatte manchmal gesagt, daß die Kümmernisse gesandt würden, um uns zu bessern und Gott näher zu bringen. Welch ein Hohn schien dies Janet! Ihre Kümmernisse hatten sie von Jahr zu Jahr tiefer sinken lassen; sie drückten sie wie schwere, fiebergeschwängerte Dünste und verkehrten sogar den Reichthum ihrer Natur in eine tiefere Quelle des Ungemachs. Ihr Elend war ein fortwährend enger sich schließendes Folterwerkzeug, das nach und nach alle andern Empfindungen ihrer Natur in dem Gefühl des Schmerzes und der krankhaften Sehnsucht nach Linderung aufgehen ließ.

O, wenn nur ein Strahl der Hoffnung, des Erbarmens, des Trostes durch das schreckliche Dunkel dringen wollte, dann könnte sie an eine göttliche Liebe glauben – an einen himmlischen Vater, der für seine Kinder sorgte! Aber jetzt hatte sie keinen Glauben, kein Vertrauen. Nichts gab es in der weiten, weiten Welt, worauf sie sich stützen konnte, denn ihre Mutter war nur eine Leidensgefährtin in ihrem eigenen Loos. Die arme geduldige Frau konnte wenig mehr thun als mit ihrer Tochter trauern; sie besaß demüthige Ergebung genug, um ihre eigene Seele aufrecht zu erhalten, aber sie konnte Janet ebensowenig Trost und Stärke geben, als der verwitterte epheubedeckte Baumstumpf seinem kräftigen, vollästigen Sprößling aufhelfen kann, den eine Lawine niederschmettert. Janet fühlte, daß sie allein war; keine menschliche Seele hatte ihren Schmerz ermessen, ihre Verzweiflung verstanden, ihre Sorgen und Sünden getheilt mit jener tiefblickenden Sympathie, die weiser ist als aller Tadel, wirksamer als aller Vorwurf – solcher Sympathie, wie sie ihr eigenes Herz geschwellt hatte gegen manchen Leidenden. Und wenn es ein göttliches Erbarmen gab, konnte sie es an sich nicht fühlen; es hielt sich fern von ihr, es goß keinen Balsam in ihre Wunden, es streckte keine Hand aus, um ihren schwachen Entschluß zu stützen, ihren ermattenden Muth zu kräftigen.

Jetzt, in ihrer gänzlichen Verlassenheit, vergoß sie keine Thräne; gerade vor sich hin in die Finsterniß starrend saß sie da, während sie innerlich auf ihre eigene Vergangenheit sah, wobei sie fast das Bewußtsein verlor, daß es ihre eigene sei und daß sie etwas mehr sei, als eine Zuschauerin bei einem seltsamen und schrecklichen Schauspiel.

Der laute Klang der Kirchenglocke, die Eins schlug, erschreckte sie. Sie war also nicht länger als eine halbe Stunde da gewesen? Und es schien ihr, als hätte sie die halbe Nacht hier zugebracht. Sie wurde nach und nach ganz starr vor Kälte. In jener starken instinktiven Furcht vor Schmerz und Tod, die sie vor dem Selbstmord hatte zurückbeben lassen, sprang sie auf, und die unangenehme Empfindung, auf ihren erstarrten Füßen zu stehen, half ihr den Sinn für die Gegenwart vollständig sich zurückzurufen. Der Wind begann jetzt Risse in die Wolken zu machen, und dann zeigte sich hie und da ein schwacher Sternenschimmer, der sie mehr als die Dunkelheit erschreckte; er war wie ein fühlloser Finger, der auf sie in ihrem Elend und ihrer Erniedrigung deutete; er machte sie schauern bei dem Gedanken an das Morgenzwielicht. Was konnte sie thun? Sie konnte nicht zu ihrer Mutter gehen – sie nicht aufstören in der todten stillen Nacht, um ihr das zu erzählen. Ihre Mutter würde denken, sie wäre ein Gespenst; es würde genug sein des Schrecks, sie zu tödten. Und der Weg dorthin war so lang … wenn sie Jemandem begegnen würde … doch sie mußte irgendwo ein Obdach suchen, um sich zu verbergen. Fünf Häuser von da wohnte Mrs. Pettifer; jene herzensgute Frau würde sie gewiß aufnehmen. Es war jetzt unnütz, stolz zu sein und sich um die Offenkundigkeit zu bekümmern: sie hatte nichts zu wünschen, sich um nichts zu kümmern; nur konnte sie nicht umhin zu schaudern bei dem Gedanken, das Morgenlicht abzuwarten, da, auf der Straße – sie erschrak vor dem Gedanken, lange Stunden in der Kälte zu verbringen. Das Leben mochte Qual, mochte Verzweiflung bedeuten; aber – oh, sie mußte es festhalten, wenn auch mit blutenden Fingern; ihre Füße mußten an der festen Erde haften, die das Sonnenlicht wieder besuchen würde – durften nicht in den unbekannten Abgrund gleiten, wo sie vielleicht sogar nach vertrautem Schmerz sich sehnen würde.

Janet schritt langsam über das rauhe Pflaster mit ihren nackten Füßen; sie zitterte über den hie und da aufflimmernden Sternenglanz und lehnte sich gegen die Mauer, so wie die Windstöße rechts gegen sie anprallten. Selbst der Wind war grausam: er versuchte sie zurückzustoßen von der Thür, wohin sie gehen und wo sie um Erbarmen flehen wollte.

Mrs. Pettifers Haus sah nicht in die Gartenstraße herein; es stand ein Stückchen zurück hinter einem weiten Vorplatz, der sich durch einen Thorweg nach der Straße öffnete. Janet öffnete und sah ein schwaches Licht aus dem Fenster von Mr. Pettifers Schlafzimmer kommen. Der Schimmer eines Nachtlichts aus einem Zimmer, wo eine Freundin lag, war wie ein Strahl der Gnade für Janet nach jener langen, langen Zeit der Finsterniß und Verlassenheit; es würde nicht so schrecklich sein, Mrs. Pettifer aufzuwecken, wie sie gedacht hatte. Doch zögerte sie einige Minuten an der Thür, bevor sie Muth zum Klopfen faßte; es war ihr, als ob der Schall sie auch Andern außer Mrs. Pettifer verrathen müßte, obgleich sonst kein Wohngebäude vorhanden war, das sich auf den Vorplatz öffnete – nur Lagerhäuser und Nebengebäude. Es war kein Kieselsteinchen vorhanden, das sie gegen das Fenster hätte werfen können; auch keine Hausglocke war da; sie mußte klopfen. Ihr erster Schlag war sehr schüchtern – ein schwacher Fall des Klopfers; aber gleich darauf faßte sie sich ein Herz und klopfte mehrmals nacheinander, nicht sehr laut, aber rasch, so daß Mrs. Pettifer den Schall, wenn sie ihn nur hörte, nicht mißverstehen konnte. Und sie hatte ihn gehört, denn bald darauf wurde das Fenster geöffnet, und Janet bemerkte, daß sie sich herausbeuge und zu erkennen versuche, wer an der Thüre sei.

»Ich bin's, Mrs. Pettifer – Janet Dempster. Nehmen Sie mich auf, um der Barmherzigkeit willen.«

»Barmherziger Gott! was ist vorgefallen?«

»Robert hat mich hinausgejagt. Ich bin schon eine Zeit lang in der Kälte draußen.«

Mrs. Pettifer sagte nichts mehr, sondern hastete vom Fenster weg und war bald, mit einem Lichte in der Hand, an der Thür.

»Kommen Sie herein, meine Gute, Liebe, kommen Sie herein«, sagte die gute Frau mit zitternder Stimme, indem sie Janet ins Haus zog. »Kommen Sie in mein warmes Bett, und möge Gott im Himmel Sie erhalten und trösten.«

Die mitleidsvollen Augen, die zärtliche Stimme, die warme Berührung verursachten in Janet einen neuen Gefühlsausbruch. Ihr Herz schwoll, und sie brach plötzlich, wie ein Kind, in lautes leidenschaftliches Schluchzen aus. Mrs. Pettifer mußte unwillkürlich mit ihr weinen, aber dann sagte sie: »Kommen Sie herauf, meine Liebe, kommen Sie. Verweilen Sie nicht länger in der Kälte.«

Sie zog das arme schluchzende Wesen sanft die Treppe hinauf und überredete sie, sich in das warme Bett zu legen. Aber es dauerte lange, bevor Janet sich niederlegen konnte. Sie saß da, den Kopf auf die Kniee gelehnt, krampfhaft schluchzend, während die mütterliche Frau sie mit Kleidern zudeckte und die Arme um sie legte, um sie zu erwärmen. Endlich hatte die krampfhafte Leidenschaft sich erschöpft, und sie sank auf das Kissen zurück; aber ihre Kehle war noch immer erregt von kläglichen Seufzern, wie sie ein kleines Kind schütteln, selbst wenn es schon eine Zuflucht an seiner Mutter Brust gefunden hat.

Als Janet ruhiger wurde, beschloß Mrs. Pettifer, hinunter zu gehen und eine Tasse Thee zu bereiten, das Erste, woran eine freundliche alte Frau als an ein beruhigendes und erquickendes Mittel in allen Nöthen denkt. Glücklicher Weise war keine Gefahr vorhanden, ihre Magd aufzuwecken, ein träges Mädchen von sechzehn Jahren, das im Giebelstockwerk wonniglich schnarchte und vor dem man wohl verbergen konnte, in welcher Weise Mrs. Dempster hereingekommen war. So beschäftigte sich denn Mrs. Pettifer selbst damit, das Küchenfeuer anzufachen, das unter einer ungeheuern »Ofenkrücke« glimmend gehalten wurde – eine Behandlung, wodurch die Kohle der mittleren Grafschaften Ersatz leistet für ihr langsames Anbrennen und ihre massenhafte weiße Asche.

Als sie den Thee hinauftrug, lag Janet ganz ruhig da; die krampfhafte Erregung hatte nachgelassen, und sie schien in Gedanken verloren; ihre Augen waren ausdruckslos auf die von dem Nachtlicht geworfenen Schatten gerichtet, und alle die Linien des Kummers waren vertieft in ihrem Gesicht.

»Nun, meine Liebe«, sagte Mrs. Pettifer, »kommen Sie und trinken Sie eine Tasse Thee; Sie werden sehen, daß er Sie erwärmen und sehr beruhigen wird. Ei, mein liebes Herz, Ihre Füße sind kalt wie Eis. Nun trinken Sie den Thee, und ich werde sie in Flanell wickeln, und dann werden sie warm werden.«

Janet richtete ihre dunkeln Augen auf ihre alte Freundin und streckte ihre Arme aus. Sie war zu sehr bedrückt, um etwas zu sagen; ihr Leiden lag wie ein schweres Gewicht auf ihrem Sprechvermögen; aber es drängte sie, die gütige, freundliche Frau zu küssen. Mrs. Pettifer setzte die Tasse nieder und beugte sich über das traurige schöne Gesicht, und Janet küßte sie mit ernsten, weihevollen Küssen – Küssen, die ein neues und engeres Band zwischen der Helferin und der Hilfesuchenden besiegelten.

Mrs. Pettifer fühlte, es wäre das Beste, was sie thun könnte, sich ruhig niederzulegen und nichts mehr zu sagen. Sie hoffte, Janet würde vielleicht einschlafen. Was sie selbst betraf, so war es ihr, bei jener Neigung zum Wachen, die den vorgerückten Jahren eigen ist, unmöglich, sich nach dieser aufregenden Ueberraschung so weit zu sammeln, um wieder einschlafen zu können. Sie lag da, der Uhr lauschend, neugierig, was wohl zu dieser Gewaltthätigkeit Dempsters geführt hatte; sie betete für das arme Wesen an ihrer Seite und bemitleidete die Mutter, die das alles morgen erfahren mußte.



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