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Es war dunkel, und die Lichter waren schon angezündet, als Mr. Tryan an Mrs. Pettifers Thür klopfte. Ihr Bote hatte die Botschaft gebracht, daß er nicht zu Hause sei, und Janet war den ganzen Nachmittag von dem Gedanken gequält, daß er nicht kommen würde; aber sobald jene Befürchtung durch das Klopfen an der Thür entfernt wurde, fühlte sie ein plötzliches Aufsteigen von Zweifel und Schüchternheit: sie zitterte und fröstelte.
Mrs. Pettifer ging hinaus um zu öffnen und erzählte Mr. Tryan mit so wenig Worten als möglich, was sich während der Nacht zugetragen hatte. Als er seinen Hut ablegte und in's Besuchszimmer treten wollte, sagte sie: »Ich will nicht mit Ihnen hineingehen, denn ich glaube, es ist ihr vielleicht lieber, wenn Sie allein kommen.«
Janet saß da, in einen großen weißen Shawl gehüllt, der sich in ergreifendem Kontrast von ihrem dunkeln Gesicht abhob; ihre Augen waren erwartungsvoll auf die Thüre geheftet, als Mr. Tryan eintrat. Er hatte sie seit ihrer Begegnung bei Sally Martin vor vielen Monaten nicht mehr gesehen; und er fühlte eine starke Regung des Mitleids beim Anblick des schmerzerfüllten Gesichts, auf dem alle Anzeichen des von Janet inzwischen erduldeten Unglücks geschrieben schienen. Ihr Herz hüpfte hoch auf, als ihre Augen den seinen wieder begegneten. Nein! sie hatte sich nicht getäuscht: es lag all die Aufrichtigkeit, all die ernste Traurigkeit, all das tiefe Mitleid darin, von dem ihr Gedächtniß ihr erzählt hatte – mehr als es ihr erzählt hatte, denn in demselben Verhältniß, wie sein Gesicht dünner und abgezehrter geworden war, schienen seine Augen an Intensität gewonnen zu haben.
Er schritt auf sie zu und sagte, die Hand ausstreckend: »Ich bin so erfreut, daß Sie nach mir gesandt haben – ich bin so dankbar, daß Sie glaubten, ich könnte Ihnen irgendwie Trost spenden.« Janet ergriff schweigend seine Hand. Sie war unfähig, bloße Worte der Höflichkeit oder selbst Dankbarkeit zu äußern; ihr Herz war zu voll von anderen Worten, die aufgestiegen waren in ihr, als sie seinem mitleidigen Blick begegnete und ihre Zweifel schwinden fühlte.
Sie setzten sich einander gegenüber, und sie sagte mit leiser Stimme, während sich langsam schwere Thränen in ihren schmerzenden Augen ansammelten: –
»Mich verlangt danach, Ihnen zu erzählen, wie unglücklich ich bin – wie schwach und gottlos. Ich fühle keine Kraft zum Leben, noch zum Sterben. Ich dachte, Sie könnten mir etwas sagen, was mir helfen könnte.« Sie hielt an.
»Vielleicht kann ich's,« sagte Mr. Tryan; »denn indem Sie zu mir sprechen, sprechen Sie zu einem Mitsünder, der eben den Trost und die Hilfe brauchte, deren Sie jetzt bedürfen.«
»Und Sie fanden sie?«
»Ja; und ich hoffe, auch Sie werden sie finden.«
»O, ich möchte gern gut sein und das Rechte thun,« brach Janet aus, »aber wirklich, wirklich, mein Loos ist ein sehr hartes gewesen. Ich liebte meinen Gatten von Herzen, als wir uns heiratheten, und ich wollte ihn glücklich machen – ich verlangte sonst nichts. Aber er begann auf mich böse zu werden wegen geringfügiger Dinge und ich will ihn nicht anklagen … aber er trank und wurde immer unfreundlicher gegen mich, und dann sehr roh, und er schlug mich. Und das schnitt mir in's Herz. Es machte mich manchmal fast wahnsinnig zu denken, daß es mit all unserer Liebe dahin gekommen … ich konnte es nicht ertragen. Ich hatte sonst nie etwas Anderes als Wasser getrunken. Ich haßte den Wein und die Spirituosen, weil Robert soviel davon trank; aber eines Tags, als ich sehr elend war und der Wein auf dem Tische stand, da … ich kann mich kaum erinnern, wie ich dazu kam … goß ich plötzlich etwas Wein in ein großes Glas und trank ihn. Das stumpfte meine Gefühle ab und machte mich gleichgiltiger. Nachher kam die Versuchung immer an mich heran und wurde stärker und immer stärker. Ich schämte mich und haßte mein Thun; aber fast während mir der Gedanke durch den Sinn ging, daß ich es nie wieder thun wollte, that ich's. Es schien, als wäre ein Dämon in mir, der mich stets zu dem trieb, was ich zu lassen mich sehnte. Und ich dachte immer mehr, daß Gott grausam wäre; denn wenn er mir nicht jene schreckliche Prüfung gesandt hätte – so viel schwerer, als andre Frauen zu tragen haben – würde ich nicht in dieser Weise Unrecht gethan haben. Ich vermuthe, es ist gottlos, so zu denken … Es ist mir, als müsse es Güte und Gerechtigkeit über uns geben, aber ich kann nichts davon sehen, ich kann nicht darauf vertrauen. Und ich habe in dieser Weise Jahre, viele Jahre lang fortgelebt. In früherer Zeit war es doch hie und da besser, aber in der letzten Zeit hat sich alles verschlimmert: ich war überzeugt, es müßte bald irgendwie enden. Und letzte Nacht stieß er mich zur Thüre hinaus … ich weiß nicht, was zu thun. Ich werde nie wieder zu jenem Leben zurückkehren, wenn ich's vermeiden kann; und doch kommt mir alles Andere so elend vor. Ich bin gewiß, jener Dämon wird mich immer bedrängen, das Gelüst, das mich überkommt, zu befriedigen, und die Tage werden verfließen, wie sie es gethan alle jene unglückseligen Jahre hindurch. Ich werde immer Unrecht thun, und mich darnach selbst hassen – tiefer und tiefer sinken und wissen, daß ich sinke. O, können Sie mir sagen, wie ich auf irgend eine Weise Kraft schöpfen könnte? Haben Sie schon jemals Eine gekannt wie mich, die Seelenfrieden erlangte und die Kraft, das Rechte zu thun? Können Sie mir irgend einen Trost, irgend eine Hoffnung geben?«
Während Janet sprach, hatte sie Alles außer ihrem Elend und ihrem Schmachten nach Trost vergessen. Ihre Stimme hatte sich von dem leisen Tone schüchterner Ängstlichkeit zu der mächtigen Tonhöhe flehender Pein erhoben. Sie umspannte seine Hände fest und blickte auf Mr. Tryan mit begierigen, fragenden Augen, halbgeöffneten, zitternden Lippen, mit den tiefen Horizontallinien überwältigenden Schmerzes auf der Stirne. In diesem unserem erkünstelten Leben sehen wir nicht oft ein menschliches Gesicht, in dem alle Todesqual des Herzens, unbeherrscht von Selbstbewußtsein, geschrieben steht; wenn wir es aber sehen, so überrascht es uns, als wären wir plötzlich in der realen Welt erwacht, von der diese Alltagswelt nur ein marionettenhaftes Abbild ist. Für einige Augenblicke war Mr. Tryan zu tief gerührt, als daß er hätte sprechen können.
»Ja, werthe Mrs. Dempster,« sagte er endlich, »es gibt Trost, es gibt Hoffnung für Sie. Glauben Sie mir das, denn ich spreche aus eigener umfassender und harter Erfahrung.« Er hielt an, als hätte er sich noch nicht entschlossen, die Worte zu äußern, die sich ihm auf die Lippen drängten. Gleich darauf fuhr er fort. »Vor zehn Jahren fühlte ich mich eben so unglücklich, wie Sie jetzt. Ich glaube, mein Unglück war sogar noch größer als das Ihre, denn ich hatte eine schwerere Sünde auf dem Gewissen. Ich hatte nicht wie Sie von Anderen Unrecht erlitten, und ich hatte einem Anderen nicht wieder gutzumachenden Schaden an Leib und Seele zugefügt. Die Vorstellung von dem Unrecht, das ich gethan, verfolgte mich überall hin, und ich schien am Rande des Wahnsinns. Mein Leben war mir verhaßt, denn ich dachte wie Sie, daß ich fernerhin in Versuchung fallen und noch mehr Schaden in dieser Welt anrichten würde; und ich fürchtete den Tod, denn mit jenem Schuldbewußtsein auf der Seele fühlte ich, daß jeder Zustand, in den ich überträte, ein Zustand des Elends sein müsse. Aber ein lieber Freund, dem ich mein Herz ausschüttete, zeigte mir, daß gerade Solche wie ich – die Hilflosen, die sich selbst hilflos fühlen – es sind, die Gott besonders einladet, zu Ihm zu kommen und denen Er alle Schätze Seiner Erlösung anbietet: nicht Vergebung allein, diese würde nur wenig werth sein, wenn sie uns unter der Gewalt unserer schlimmen Leidenschaften ließe – sondern auch Kraft, jene Kraft, die uns befähigt, die Sünde zu besiegen.«
»Aber«, sagte Janet, »ich kann kein Vertrauen zu Gott haben. Er scheint mich stets mir selbst überlassen zu haben. Ich habe manchmal zu Ihm gebetet, daß Er mir helfe, und doch ist alles gerade so geblieben wie es vorher war. Wenn Sie wie ich fühlten, wie kamen Sie dazu, Hoffnung und Vertrauen zu erlangen?«
»Glauben Sie nicht, daß Gott Sie sich selbst überlassen habe. Wie können Sie anders sagen, als daß die härtesten Prüfungen, die Sie kennen lernten, nur der Weg waren, auf welchem er Sie zu jenem vollen Gefühl Ihrer Sünde und Hilflosigkeit leitete, ohne welches Sie nie allen anderen Hoffnungen entsagt und auf Seine Liebe allein vertraut haben würden? Ich weiß, Mrs. Dempster, ich weiß, es ist schwer zu ertragen. Ich möchte nicht leichthin von Ihrem Kummer sprechen. Ich fühle, daß das Geheimniß Ihres Lebens verwickelt ist, und zu einer Zeit schien es mir ebenso dunkel, als es Ihnen jetzt erscheint.«
Mr. Tryan zögerte wieder. Er sah, daß das Erste, was Janet bedurfte, eine Versicherung des Mitgefühls sei. Er mußte sie fühlen lassen, daß ihre Qual ihm nicht fremd sei, daß er in ihre nur halb geäußerten Geheimnisse eindringe, bevor eine andere Trostesbotschaft den Weg zu ihrem Herzen finden konnte. Die Mähr von der göttlichen Gnade wurde noch nie geglaubt, wenn sie von Lippen kam, von denen man nicht wußte, daß sie von menschlichem Mitleid gerührt seien. Und Janets Seelenpein war Mr. Tryan nichts Fremdes. Er war nie in Gegenwart eines Kummers und einer Selbstverzweiflung gewesen, die einen so starken Schauer durch alle die Falten seiner traurigsten Erfahrung gesandt hatte; und weil Sympathie nur ein Wiederdurchleben unserer eigenen Vergangenheit in neuer Form ist, treibt ein Bekenntniß oft zu einem Gegenbekenntniß an. Mr. Tryan verspürte diesen Antrieb; dazu sagte ihm sein Urtheil, daß diesem Antrieb zu gehorchen das beste Mittel sein würde, Janet Trost zu bringen. Und doch zögerte er, wie wir zittern, das Tageslicht in ein Zimmer voll Reliquien strömen zu lassen, das wir nie außer in stiller Verborgenheit besucht haben. Aber der erste Impuls siegte, und er fuhr fort:
»Ich hatte mein ganzes Leben fern von Gott verbracht. Meine Jugend hatte ich in gedankenloser Nachsicht gegen mich selbst vergeudet, und alle meine Hoffnungen waren eitler, weltlicher Art. Ich dachte nicht entfernt daran, Geistlicher zu werden; ich sah einer politischen Carriere entgegen, denn mein Vater war Privatsekretär bei einem hohen Beamten des Whig-Ministeriums, der seine eifrigste Verwendung zu meinen Gunsten zugesagt hatte. Auf der Hochschule verkehrte ich intim mit den Lustigsten und fröhnte selbst Thorheiten und Lastern, an denen ich keinen Geschmack fand, aus bloßer Gefälligkeit und um bei meinen Gefährten gut angeschrieben zu sein. Sie sehen, ich war selbst damals schon schuldiger, als Sie gewesen sind, denn ich warf alle die reichen Segnungen ungestörter Jugend und Gesundheit weg; ich hatte keine Entschuldigung in meinem äußeren Loos. Aber während ich auf der Hochschule war, ereignete sich jener Vorfall in meinem Leben, der schließlich jenen Gemüthszustand herbeiführte, welchen ich soeben gegen Sie erwähnt habe – einen Zustand der Selbstanklage und Verzweiflung, der mich befähigt, Ihre Leiden voll zu verstehen; und ich erzähle Ihnen die Thatsachen, weil ich Ihnen die Gewißheit verschaffen will, daß ich nicht bloß leere Worte äußere, wenn ich sage, daß ich aus einem ebenso tiefen Abgrund der Sünde und des Kummers emporgehoben wurde, als der ist, in dem Sie sich zu befinden glauben. Auf der Hochschule hatte ich eine Neigung zu einem lieblichen Mädchen von siebzehn Jahren: sie stand sehr tief unter meiner eigenen Stellung im Leben, und ich dachte nie daran, sie zu heirathen; aber ich beredete sie, ihres Vaters Haus zu verlassen. Ich beabsichtigte durchaus nicht, sie im Stiche zu lassen, wenn ich die Hochschule verließe, und beschwichtigte alle Gewissensskrupel damit, daß ich mir selbst das Versprechen gab, stets für die arme Lucy zu sorgen. Aber bei meiner Rückkehr aus einer Vakanz, die ich mit Reisen verbracht hatte, fand ich, daß Lucy fort war – mit einem Herrn, wie ihre Nachbarn sagten. Ich war ziemlich bekümmert darüber, aber ich suchte mich zu überreden, daß ihr nichts Schlimmes zustoßen würde. Bald nachher verfiel ich in eine Krankheit, die meine Gesundheit für immer schwächte und mir alle Zerstreuungen widerwärtig machte. Das Leben schien mir sehr lästig und leer, und ich sah mit Neid auf Alle, die irgend ein großes, sie ganz in Anspruch nehmendes Ziel vor sich hatten – selbst auf meinen Vetter, der sich vorbereitete, als Missionär hinauszuziehen, und den ich bis jetzt stets für eine schrecklich langweilige Persönlichkeit gehalten hatte, weil er mich fortwährend mit religiösen Dingen bestürmte. Wir wohnten damals in London – es war drei Jahre her, seit ich Lucy aus dem Gesicht verloren, als ich eines Abends, während ich die Gowerstraße entlang schritt, einen Haufen Leute vor mir auf dem Fahrdamm stehen sah. Als ich zu ihnen kam, hörte ich eine Frau sagen: ›Sie ist todt, sage ich Ihnen.‹ Das erweckte mein Interesse und ich drängte mich durch den Knäuel hindurch. Die Leiche einer feingekleideten Frauensperson lag auf einer Thürstaffel. Ihr Kopf war auf die Seite geneigt, und die langen Locken waren ihr über die Wangen gefallen. Zittern ergriff mich, als ich das Haar sah: es war von lichtem Kastanienbraun – der Farbe von Lucys Haar. Ich kniete nieder und strich das Haar beiseite; es war Lucy – todt – mit Schminke auf den Wangen. Ich erfuhr später, daß sie Gift genommen hatte – daß sie in der Gewalt eines schlechten Weibes war – daß selbst die Kleider, die sie auf dem Leibe trug, nicht ihr gehörten. Damals war es, wo mein vergangenes Leben in seiner ganzen Scheußlichkeit plötzlich meinen Augen sich zeigte. Ich wünschte, daß ich nie geboren worden wäre. Ich konnte der Zukunft nicht in's Auge schauen. Lucys blasses Todtenantlitz verfolgte mich dahin, wie es mich verfolgte, wenn ich in die Vergangenheit zurückblickte – wenn ich mich mit meinen Freunden zu Tische setzte, wenn ich mich zu Bette legte und wenn ich aufstand. Es gab nur Eines, was mir das Leben erträglich machen konnte: das war, Alles, was noch davon übrig war, dazu zu verwenden, Andere vor dem Verderben zu retten, das ich über Eine gebracht. Aber wie war mir das möglich? Ich hatte keinen Trost, keine Kraft, keine Weisheit in mir selbst; wie konnte ich sie Anderen geben? Mein Gemüth war finster, aufrührerisch, im Kriege mit sich selbst und mit Gott.«
Mr. Tryan hatte von Janet weggeblickt. Sein Gesicht war dem Feuer zugekehrt gewesen, und er war vertieft in die Bilder, die sein Gedächtniß ihm zurückrief. Aber jetzt richtete er die Augen auf sie, und sie begegneten den ihren, die auf ihn gerichtet waren mit jenem Blick entzückter Erwartung, mit welchem ein Mann, der an einem schlüpfrigen Felsengipfel sich anklammert, während die Wogen höher steigen, das Boot verfolgt, das zu seiner Errettung vom Ufer abgestoßen, »Sie sehen, Mrs. Dempster, wie tief meine Noth war. In dieser Weise trieb ich es monatelang. Ich war überzeugt, daß, wenn ich je Hilfe und Trost erlangte, es durch die Religion sein müsse. Ich hörte berühmte Prediger und las religiöse Schriften. Aber ich fand nichts, was meiner Noth abgeholfen hätte. Der Glaube, der den Sünder in den Besitz der Erlösung setzt, schien, wie ich ihn verstand, ganz außer meinem Bereich zu sein. Ich hatte keinen Glauben: ich fühlte mich nur äußerst elend unter der Gewalt von Gewohnheiten und Neigungen, die gräßliches Unheil angerichtet hatten. Endlich fand ich, wie ich Ihnen sagte, einen Freund, dem ich alle meine Gefühle erschloß – dem ich alles beichtete. Er war ein Mann, der umfassende Erfahrungen gemacht hatte und die verschiedenen Bedürfnisse verschiedener Gemüther verstehen konnte. Er machte mir klar, daß die einzige Vorbereitung, um zu Christo zu kommen und an seiner Erlösung theilzunehmen, gerade jenes Gefühl der Schuld und Hilflosigkeit wäre, das mich niederdrückte. Er sagte: – Du bist mühselig und beladen; gut, Dich ladet Christus ein, zu Ihm zu kommen und Ruhe bei ihm zu finden. Er heißt Dich an Ihn anklammern, an Ihn anlehnen; Er befiehlt Dir nicht, allein zu gehen, ohne zu straucheln. Er sagt Dir nicht, wie es Deine Mitmenschen thun, daß Du zuerst seine Liebe verdienen mußt; Er verdammt Dich weder, noch tadelt Er Dich wegen des Vergangenen, Er heißt Dich nur zu ihm kommen, damit Du Leben haben mögest: Er bittet Dich, Deine Hand auszustrecken und aus der Fülle Seiner Liebe zu nehmen. Du brauchst nur auf Ihm zu ruhen, wie ein Kind ruht auf seiner Mutter Arm, und Du wirst aufwärts getragen werden durch Seine göttliche Kraft.« Das ist's, was der Glaube zu bedeuten hat. Sie fühlen, Ihre Übeln Gewohnheiten sind zu stark für Sie; Sie sind unfähig, mit ihnen zu ringen; Sie wissen im voraus, daß Sie fallen werden. Aber wenn wir einmal unsere Hilflosigkeit in dieser Weise fühlen und zu Christo gehen, in dem Verlangen, sowohl von der Gewalt als von der Strafe der Sünde befreit zu werden, dann sind wir nicht länger unserer eigenen Kraft überlassen. So lange wir im offenen Widerstand gegen Gott verharren, nur unseren eigenen Willen haben wollen und Glück suchen in den Dingen dieser Welt, ist es, als schlössen wir uns selbst ein in einen engen, erstickenden Raum, wo wir nur vergiftete Luft athmen; aber wir brauchen nur hinauszuwandern unter den unendlichen Himmel, und wir athmen die reine freie Luft, die uns Gesundheit, Kraft und Frohsinn gibt. Gerade so ist es mit dem Geiste Gottes: sobald wir uns Seinem Willen unterwerfen, sobald wir mit Ihm vereint zu sein wünschen, ist es, als ob die Mauern niedergefallen wären, die uns von Gott abschlossen, und wir werden gespeist mit Seinem Geiste, der uns neue Kraft gibt.«
»Das ist's, was ich brauche,« sagte Janet, »ich habe es aufgegeben, mich um Vergnügen zu bekümmern. Ich glaube, ich könnte zufrieden sein inmitten der Beschwerden, wenn ich fühlte, daß Gott für mich sorgte und mir Kraft geben würde, ein reines Leben zu führen. Aber sagen Sie mir, fanden Sie bald Frieden und Kraft?«
»Längere Zeit nicht vollkommenen Frieden, aber Hoffnung und Vertrauen, welches Kraft ist. Kein Gefühl der Verzeihung für mich selbst konnte den Schmerz stillen, der in dem Gedanken lag, was ich über ein Anderes zu bringen mitgeholfen hatte. Mein Freund pflegte mir nachdrücklich vorzuhalten, daß meine Sünde gegen Gott größer sei, als meine Sünde gegen sie; aber diese letztere – es mag das von einem Mangel an tieferem religiösen Gefühl herrühren – ist bis zu dieser Stunde diejenige Sünde geblieben, die mir den bittersten Schmerz verursacht. Ich konnte Lucy nicht mehr befreien; aber ich konnte mit Gottes Hilfe andere schwache und fallende Seelen erretten, und deshalb wurde ich Geistlicher. Ich verlangte für den Rest meines Lebens nichts mehr, als Gottes Werk gewidmet zu sein, ohne auf der Suche nach Vergnügungen entweder nach rechts oder nach links abzuschweifen. Es war das oft ein harter Kampf – aber Gott ist mit mir gewesen – und vielleicht wird es nicht lange mehr dauern.«
Mr. Tryan pausirte. Für einen Augenblick hatte er Janet, sie ihr eigenes Leid vergessen. Als sie wieder zu sich zurückkam, war es mit einer ihr neuen Empfindung.
»Ach, welch' ein Unterschied zwischen Ihrem Lebenslauf und dem meinen! Sie haben freiwillig Beschwerde, Arbeit und Selbstverleugnung gewählt, und ich habe immer nur an mich selbst gedacht. Ich war nur zornig und unzufrieden, weil ich Beschwerden zu erdulden hatte. Sie hatten nie jene gottlose Empfindung, die ich so oft hatte, nicht wahr? daß Gott grausam sei, weil er mir Versuchungen und Prüfungen sende, die schwerer zu tragen sind als die anderer Menschen.«
»O ja; ich hatte sehr gotteslästerliche Gedanken und weiß, daß jener Geist der Widerspänstigkeit den schlimmsten Theil Ihres Looses ausgemacht haben muß. Sie fühlten nicht, wie unmöglich es für uns ist, richtig über Gottes Wege zu urtheilen, und widersetzten sich Seinem Willen. Aber was wissen wir? Wir können nicht die Wirkung des geringfügigsten Ereignisses in unserem Leben vorhersagen: wie dürfen wir uns anmaßen, über Dinge zu urtheilen, die so viel zu hoch für uns sind? Nichts steht uns an, als gänzliche Unterwerfung, vollkommene Ergebung. Solange wir unseren eigenen Willen und unsere eigene Weisheit gegen Gottes setzen, errichten wir jene Mauer zwischen uns und seiner Liebe, von der ich eben gesprochen habe. Aber sobald wir uns gänzlich ihm zu Füßen legen, empfangen wir Licht genug, um selbst unsere Schritte leiten zu können; wie der Soldat, der nichts hört von den Berathschlagungen, welche den Lauf der großen Schlacht, in der er sich befindet, bestimmen, deutlich genug das Kommandowort hört, dem er gehorchen muß. Ich weiß, liebe Mrs. Dempster, es ist hart – vielleicht das Härteste von Allem – für Fleisch und Blut. Aber tragen Sie diese Schwierigkeit zu Christo mit all' Ihren andern Sünden und Schwächen und bitten Sie ihn, einen Geist der Unterwerfung über Sie auszugießen. Er hat den Kelch unseres Leidens bis zur Hefe geleert: Er kennt das harte Ringen, das es uns kostet, zu sagen: ›Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe.‹«
»Beten Sie mit mir,« sagte Janet – »beten Sie jetzt, daß ich Licht und Kraft gewinnen möge«