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Sie legten sie in das Grab – die theure Mutter mit dem Kind in ihren Armen – während der Weihnachtsschnee dick auf den Gräbern lag. Mr. Cleves beerdigte sie. Bei der ersten Nachricht von Mr. Bartons Unglück war er von Tripplegate herübergeritten und hatte um die Erlaubniß gebeten, sich nützlich zu machen; sein stillschweigender Händedruck war in das erstarrte Herz des geschlagenen Wittwers gedrungen wie das schmerzliche Durchschauern lebenzurückrufender Wärme.
Der Schnee lag dick auf den Gräbern, und der Tag war kalt und düster; aber manches trauervolle Auge verfolgte den Trauerzug, wie er vom Pfarrhaus zur Kirche und von der Kirche zum offenen Grabe sich bewegte. Da standen sie im Kirchhof, Männer und Frauen, die schlechte Witze über ihren Pastor gerissen und ihn leichtfertig der Sünde beschuldigt hatten: aber jetzt, als sie ihn dem Sarge folgen sahen, bleich und abgezehrt, da wurde er von neuem geweiht durch sein schweres Leid, und sie betrachteten ihn mit achtungsvollem Mitleid.
Alle Kinder waren da; Amos hatte es so gewollt, da er dachte, daß irgend eine trübe Erinnerung an jenen weihevollen Augenblick selbst dem kleinen Walter bleiben und sich mit dem verketten möchte, was er in späteren Jahren von seiner theuren Mutter hören würde. Er selbst führte Patty und Dickey, dann kamen Sophie und Fritz: Mr. Brand hatte gebeten, Chubby tragen zu dürfen, und Hannchen folgte mit Walter. Sie bildeten einen Kreis um das Grab, während der Sarg niedergelassen wurde. Patty allein von allen Kindern fühlte, daß Mama in jenem Sarge war, und daß ein neues und traurigeres Leben für Papa und sie selbst begonnen hatte. Sie war bleich und zitterte, aber sie fasste seine Hand fester, als der Sarg hinabgelassen wurde, und ließ kein Schluchzen hören. Fritz und Sophie, obgleich sie nur zwei und drei Jahre jünger waren, und obgleich sie Mama in ihrem Sarge gesehen hatten, glaubten irgend einer seltsamen Schaustellung zuzusehen. Sie hatten noch nicht gelernt, jene schreckliche Handschrift des menschlichen Geschicks, Krankheit und Tod, zu entziffern. Dickey hatte gegen seine schwarzen Kleider rebellirt, bis man ihm sagte, es wäre unartig gegen Mama, sie nicht anzuziehen, worauf er sogleich sich fügte; und jetzt hegte er, obgleich Hannchen ihm gesagt hatte, Mama wäre im Himmel, eine vage Vorstellung, sie würde morgen wieder heimkommen und sagen, er wäre ein braver Junge gewesen, und ihn ihren Arbeitskorb ausleeren lassen. Er stand dicht bei seinem Vater, mit vollen Rosenwangen und weitgeöffneten blauen Augen, und sah zuerst hinauf zu Mr. Cleves und dann hinab auf den Sarg und dachte, er und Chubby wollten so miteinander spielen, wenn sie nach Hause kämen.
Das Leichenbegräbniß war vorüber, und Amos wendete sich um, mit seinen Kindern wieder in sein Haus zurückzukehren – in das Haus, wo noch vor einer Stunde Millys theurer Leichnam gelegen, wo die Fenster halbverhüllt waren und wo der Kummer für sich einen geheiligten Wohnplatz, abgeschlossen von der Welt, zu haben schien. Aber jetzt war sie dahin: das helle, vom Schnee reflektirte Tageslicht war in allen Zimmern; das Pfarrhaus schien wieder ein Theil der gewöhnlichen Alltagswelt, und Amos fühlte zum ersten Male, daß er allein stand – daß er Tag auf Tag, Monat auf Monat, Jahr auf Jahr würde durchleben müssen ohne Millys Liebe. Der Frühling würde kommen, und sie würde nicht da sein; der Sommer, und sie würde nicht da sein, und er würde sie nie wieder an den langen Abenden neben sich am Kaminfeuer haben. Die Jahreszeiten alle schienen ihm lästig in seinen Gedanken: und wie düster die sonnigen Tage, die gewiß kommen würden! Sie war von ihm gegangen; und er konnte ihr nie mehr seine Liebe bezeugen, nie Unterlassungen in der Vergangenheit gutmachen, indem er zukünftige Tage mit Zärtlichkeit erfüllte.
O über die Qual jenes Gedankens, daß wir unseren Todten nichts zum Ersatz bieten können für die kärgliche Zuneigung, die wir ihnen schenkten, für die leichtfertigen Antworten, die wir auf ihre Klagen oder Einwände gaben, für die geringe Verehrung, die wir jener geheiligten Menschenseele erwiesen, die uns so nahe wohnte und das Göttlichste war, was Gott uns zur Erkenntniß gegeben.
Amos Barton war ein zärtlicher Gatte gewesen, und solange Milly bei ihm war, hatte ihn nie der Gedanke heimgesucht, daß vielleicht sein Gefühl nicht lebendig und aufmerksam genug wäre; aber jetzt lebte er ihr ganzes Zusammenleben noch einmal durch, mit jener fürchterlichen Schärfe des Gedächtnisses und der Phantasie, die der Verlust uns verleiht; und es war ihm, als ob selbst seine Liebe der Verzeihung bedürfe um ihrer Armuth und Selbstsucht willen.
Kein äußerer Trost konnte der Bitterkeit dieses inneren Wehes entgegenwirken. Aber äußerer Trost kam. Kalte Gesichter blickten wieder freundlich, und seine Pfarrkinder überlegten in ihrem Sinn, wie sie am besten ihrem Seelsorger zu Hilfe kommen könnten. Mr. Oldinport schrieb, um sein Mitgefühl auszudrücken, und schloß eine weitere Zwanzigpfundnote bei, indem er bat, man möge ihm erlauben, auf diese Weise beitragen zu dürfen, Mr. Bartons Gemüth von pekuniären Sorgen zu entlasten, unter dem Druck eines Kummers, den alle seine Pfarrkinder theilen müßten; zugleich erbat er sich dahin zu wirken, daß die zwei ältesten Mädchen in einer eigens für Töchter von Geistlichen gegründeten Schule untergebracht würden. Mr. Cleves folgte diesem Beispiel, indem er 30 Pfund unter seinen reicheren geistlichen Amtsbrüdern sammelte und, 10 Pfund aus der eigenen Tasche beifügend, diese Summe mit dem freundlichsten und zartsinnigsten Ausdruck christlicher Nächstenliebe und männlicher Freundschaft Amos übersandte. Miß Jackson vergaß alte Kränkungen und kam, um einige Monate bei Millys Kindern zuzubringen und brachte solche materielle Hilfe, als sie von ihrem kleinen Einkommen erübrigen konnte. Das waren materielle Beihilfen, die Amos vom Druck seiner Geldverlegenheiten befreiten: und die freundlichen Aufmerksamkeiten, der zarte Druck der Hand, die herzlichen Blicke, denen er überall in seinem Kirchsprengel begegnete, ließen ihn fühlen, daß der fatale Frost, der während der Gräfin Aufenthalt im Pfarrhause auf sein seelsorgerliches Wirken gefallen, vollkommen aufgethaut war, und daß die Herzen seiner Pfarrkinder ihm wieder offen standen.
Keiner sprach jetzt den Namen der Gräfin aus; denn Millys Andenken hatte ihren Gatten geheiligt, wie vor Alters die Stelle geheiligt war, an welcher sich ein Engel des Herrn niedergelassen hatte.
Als der Frühling kam, bat Mrs. Hackit, daß man ihr Dickey zu einem längeren Aufenthalt bei ihr überlasse; und groß war die Erweiterung von Dickeys Erfahrungen bei jenem Besuch. Jeden Morgen durfte er – gut eingehüllt um die Brust von Mrs. Hackits eigenen Händen, aber mit ganz bloßen und rothen Füßen – im Kuhstall und Hühnerhof frei umherlaufen, den Truthahn durch satirische Nachahmungen seines Gekollers ärgern und dem Pferdejungen schwierige Fragen stellen über die Gründe, warum Pferde vier Beine hätten und ähnliche transcendente Materien. Dann pflegte Mr. Hackit Dickey zu sich auf's Pferd zu nehmen, wenn er seine Farm umritt, und Mrs. Hackit hatte stets ein Stück Rosinenkuchen bereit, um etwaigen Hungeranfällen zu begegnen, so daß Dickey seine Ansichten über die Annehmlichkeit von Mrs. Hackits Küssen beträchtlich modificirt hatte.
Die Miß's Farquhar machten Fritz und Sophie zu ihren besonderen Lieblingen, denen sie wöchentlich zweimal Lektionen im Schreiben und in der Geographie ertheilten; und Mrs. Farquhar ersann viele Hochgenüsse für die Kleinen. Pattys höchste Freude war es zu Hause zu bleiben oder mit ihrem Papa herumzuwandern; und wenn er am Abend beim Feuer saß, nachdem die anderen Kinder im Bette waren, so brachte sie einen Schemel herbei, setzte sich zu seinen Füßen nieder und lehnte den Kopf gegen seine Kniee. Dann ruhte seine Hand auf ihrem schönen Haupt, und er fühlte, daß Millys Liebe nicht ganz aus seinem Leben verschwunden war.
So verstrich die Zeit, bis es wieder Mai geworden und die Kirche ganz vollendet und in all ihrem neuen Glanz wiedergeöffnet war, und Mr. Barton sich seinen seelsorgerlichen Pflichten mit mehr Energie als jemals widmete. Aber eines Morgens – es war ein sehr schöner Morgen, und schlimme Nachrichten lieben es zuweilen beim schönsten Wetter zu fliegen – kam ein Brief für Mr. Barton, in des Vicars Handschrift adressirt. Amos öffnete ihn in einiger Unruhe – er hatte eine unbestimmte, schlimme Vorahnung. Der Brief enthielt die Ankündigung, daß Carpe beschlossen, selbst in Shepperton seinen Aufenthalt zu nehmen und daß folglich in 6 Monaten von dieser Zeit an, Mr. Bartons Funktionen als Curat in jenem Sprengel zu Ende sein würden.
O, es war hart! Gerade, als Shepperton der Platz geworden, wo er am liebsten geblieben wäre – wo er Freunde hatte, die seinen Kummer verstanden – wo er Millys Grabe zunächst lebte. Von jenem Grabe sich zu trennen, erschien ihm wie eine zweite Trennung von Milly; denn Amos war ein Mann, der sich fest hing an alle wesentlichen Bindeglieder zwischen seinem Geist und der Vergangenheit. Seine Phantasie war nicht lebhaft und erforderte das Reizmittel aktueller Wahrnehmungen.
Es erregte auch ein bitteres Gefühl in ihm, zu denken, daß Mr. Carpes Wunsch, in Shepperton seinen Aufenthalt zu nehmen, blos ein Vorwand war, Mr. Barton zu entfernen, damit er schließlich die Curatie von Shepperton seinem Schwager übertragen könne, der, wie man wußte, eine neue Stelle brauchte.
Indeß, es mußte ertragen werden; und er mußte sich ohne Zeitverlust an das schmerzliche Geschäft machen, eine andere Curatie zu suchen. Nach Verlauf einiger Monate war Amos gezwungen, der Hoffnung, eine solche in der Nähe Sheppertons zu erlangen, zu entsagen, und er ergab sich schließlich darein, eine solche in einer entfernten Grafschaft anzunehmen. Der Pfarrsprengel lag in einer großen Fabrikstadt, wo seine Gänge ihn durch geräuschvolle Straßen und schmutzige Gassen führten und wo die Kinder keinen Garten zum Spielen, keine angenehmen Farmhäuser zum Besuchen haben würden.
Es war ein zweiter Schlag, der den heimgesuchten Mann traf.