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Es war ganz eben so warm am folgenden Donnerstag, als Mr. Dempster und seine Collegen von ihrer Mission in der Rektorei zu Elmstoke zurückkehren sollten: aber es war viel behaglicher in Mrs. Linnet's Besuchszimmer als im Schenkstübchen des »Rothen Löwen.« Durch das offene Fenster strömte der Geruch von Reseden und Geißblatt herein; der Grasfleck vor der Hausfront war überschattet von einer kleinen Anpflanzung von Schneebällen, Flieder und Goldregen; das Geräusch der Webstühle und Karren und unmelodischen Stimmen erreichte das Ohr blos als ein angenehmes Murmeln, denn Mrs. Linnets Haus war ganz nahe an Paddiford Common; und der einzige Ton, der etwa die heitere Ruhe der dort versammelten Damen stören konnte, war das gelegentliche Summen zudringlicher Wespen, die anscheinend die Köpfe der Damen irrthümlicherweise für Zuckerdosen ansahen. Und doch war keine Zuckerdose in Mrs. Linnets Besuchszimmer sichtbar, denn die Theezeit war noch nicht da, und der runde Tisch war bedeckt mit Büchern, die, zur Verstärkung der Paddiforder Leihbibliothek bestimmt, von den Damen mit schwarzen Canevashüllen bedeckt wurden. Miß Linnet, deren Handschrift den nettesten Zickzacktypus an sich trug, saß an einem kleinen Nebentischchen und beschrieb grüne Papieretiketten, die auf die Umschläge geklebt werden sollten. Miß Linnet hatte noch andere Vorzüge außer dem einer hübschen Handschrift, und ein Verzeichniß einiger von ihnen konnte man aus den Verzierungen des Zimmers ersehen. Sie hatte stets eine Vorliebe für ernste und poetische Lektüre mit ihrer Geschicklichkeit in feinen Nadelarbeiten verbunden, und die hübsch gebundenen Drucke von Drydens »Virgil«, Hannah Mores »Religiösen Dramen«, Falconers »Schiffbruch«, Masons »Ueber Selbsterkenntniß« und »Rasselas« und Burks »Ueber das Erhabene und Schöne«, welche die Hauptzierden des Bücherschranks bildeten, waren alle mit ihrem Namen bezeichnet und mit ihrem Taschengeld erkauft worden, als sie noch nicht zwanzig Jahre alt war. Es mußten mindestens fünfzehn Jahre seit dem letzten dieser Käufe verflossen sein, aber Miß Linnets Geschicklichkeit in weiblichen Arbeiten schien durch zahlreichere Phasen gegangen zu sein, als ihr literarischer Geschmack; denn die lackirten Büchsen, die Siegellackkörbchen, die Puppenfächer, die auf die Ofenschirme »übertragenen« Landschaften, und die neuen Bouquets von Wachsblumen zeigten eine Ungleichheit in der Frische, die sie auf weit auseinander liegende Perioden beziehen ließ. Wächserne Blumen setzen zarte Finger und große Geduld voraus, aber es giebt noch viele Eigenschaften des Geistes und der Person, die sie unbestimmt und problematisch ließen; und so muß ich denn sagen, daß Miß Linnet dunkle Locken, eine fahle Gesichtsfarbe und ein liebenswürdiges Temperament hatte. Was ihre Züge betrifft, so war daran nicht viel zu kritisiren, denn sie hatte wenig Nase, weniger Lippen und keine Augenbrauen; und was ihren Verstand betraf, so sagte Mrs. Pettifer oft: »Sie wüßte keine Person, mit der man so verständig reden könne, wie Mary Linnet. Es gäbe Niemand, bei dem sie lieber wäre und ein wenig in Klopstocks ›Messias‹ lese. Mary Linnet hätte ihr oft viel von ihren Ansichten gesagt, wenn sie beisammen saßen: sie sagte, es gäbe Vieles zu ertragen in jeder Lebensstellung, und nichts solle sie verleiten ohne Aussicht auf Glück zu heirathen. Einmal, als Mrs. Pettifer ihre Wachsblumen bewunderte, sagte sie: ›Ach, Mrs. Pettifer, denken Sie an die Schönheiten der Natur!‹ Sie sprach immer sehr hübsch, ja, das that sie; wirklich, ganz anders wie Rebecca.«
Miß Rebecca Linnet war durchaus nicht allgemein beliebt. Während die meisten Leute meinten, es wäre schade, daß ein vernünftiges Frauenzimmer wie Mary nicht einen guten Mann gefunden habe – und selbst ihre Freundinnen sagten nichts Böswilligeres von ihr, als daß ihr Gesicht aussehe wie ein Stück Glaserkitt mit zwei hineingesteckten schottischen Kieselsteinen – sprach man von Rebecca immer sarkastisch, und es war eine gewöhnliche Neckerei junger Damen, sie einem, mit dem sie gerade liebelten, als Gattin zu empfehlen – wobei ihre Beleibtheit, ihr Putz und ihre dicken Waden den Scherz, trotz der fehlenden Neuheit, genügend pikant machten. Miß Rebecca besaß indeß bedeutende Fertigkeit in der Musik, und ihr Vortrag von »O nein, wir sprechen nie von ihr« »Oh, No! We Never Mention Her«, Lied von Thomas Haynes Bayly (1797-1839). und »Des Kriegers Thräne« »The Soldier's Tear«, Lied von Thomas Haynes Bayly, vertont von Alexander Lee. waren eine so angenehme Zugabe zu den Vergnügungen einer Theegesellschaft, daß Niemand sie kränken wollte, besonders da Rebecca ziemlich hitziger Natur war und, trotz ihrer übervollen runden Contouren, eine besonders spitze Zunge hatte. Ihre Lektüre war ausgedehnter gewesen als die ihrer Schwester, indem sie die meisten Dichtungen in Mr. Procters Leihbibliothek umfaßte, und nur eine Bekanntschaft mit ihrem Studiengang konnte eine Erklärung der rapiden Veränderungen in ihrem Anzug geben, die durch die Art der Schönheit hervorgebracht wurden – ob sentimental, munter oder düster – welche die Heldin der drei Bände, die sie gerade durchzulesen im Begriffe war, besaß. Ein Stück Spitze, das sich in der einen Woche um den Saum ihres weißen Baretts gelegt hatte, war in der nächsten Woche wieder abgelegt und ihre Wangen, die zu Pfingsten sich durch einen Turner'schen nspielung auf die Maltechnik des bedeutenden britischen romantischen Maler William Turner (1775-1851), der in seiner Darstellungsweise bis zur Entmaterialisierung des Gegenständlichen ging und das Licht und die Farbe von Sonnenlicht, Feuer und Wasser in ganz neuartiger Weise zum eigentlichen Thema seiner Bilder machte. – Anm.d.Hrsg. Nebel von Netzschleier zeigten, sah man am Dreifaltigkeitssonntag in bestimmtem rothem Umriß, wie die Sonne in einer Nebelmasse, über ihrem schwellenden Busen ruhen. Der schwarze Sammet mit krystallner Spange, der an einem Abend ihr Haupt umschlang, war an einem zweiten zu ihrem Nacken herabgesunken und an einem dritten an ihrem Handgelenk, und gab so einer thätigen Phantasie den Gedanken an ein magisches Einschrumpfen des Schmuckes oder eine fürchterliche Ausdehnung von Rebeccas Gestalt ein. Bei dieser beständigen Anwendung der Kunst auf den Putz konnte sie natürlich nur wenig Zeit zu Nadelarbeiten gefunden haben, selbst wenn sie nicht ihrer Schwester Geschmack für jene ergötzliche und echt weibliche Beschäftigung entbehrt hätte. Und hier zum mindesten bemerkt man die Gerechtigkeit der Milbyer öffentlichen Meinung betreffs der relativen Eignung der beiden Miß Linnets für den Ehestand. Wenn ein Mann glücklich genug ist, die Zuneigung eines holden Mädchens zu gewinnen, das seine Sorgen mit Häkeleien besänftigen und seinen zärtlichsten Gedanken mit perlenbesetzten Theekesseluntersätzen und Stuhlkappen aus Stickwolle entsprechen wird, hat er zum mindesten eine Bürgschaft für häusliche Behaglichkeit, welche Prüfungen ihn auch außer dem Hause erwarten mögen. Welch' ein Trost ist es doch unter Anstrengungen und Aufregungen, ein mit kleinen Untersätzen wohl versehenes Besuchszimmer zu haben, die stets bereit wären, wenn ihr nur je dazu kommen würdet, etwas darauf zu setzen! Und welch ein blutstillendes Mittel für ein blutendes Herz kann umfangreichen gehäkelten Decken gleichkommen, die in dem Augenblick, da man sie berührt, herunterzugleiten pflegen? Wie unsere Väter ohne Häkelarbeiten auskamen, ist ein reines Wunder; aber ich glaube, daß zu ihrer Zeit unter dem Namen »Cantillen« ein geringer und schwacher Ersatz dafür vorhanden war. Rebecca Linnet indessen hatte sowohl das Fertigen von Cantillen als auch andere Arten der Frauenarbeit vernachlässigt. In der Schule hatte sie wohl sehr viel Zeit zum Erlernen der Blumenmalerei (nach der damals modernen genialen Methode, die Formen der Blätter und Blumen, die aus Kartenpapier ausgeschnitten waren aufzulegen und mit einem Bürstchen über die so bequem bezeichnete Fläche zu streichen) gehabt; aber selbst die Kielhalter, die Arbeiten des letzten halben Jahres in diesem Genre, wurden nicht als besonders gelungen betrachtet und waren lange in die Zurückgezogenheit eines Schlafzimmers verwiesen worden. So war denn eine ziemliche Familien-Unähnlichkeit zwischen Rebecca und ihrer Schwester vorhanden und, ich fürchte das, auch ein wenig Familienabneigung; aber Marys Tadel war gewöhnlich hinter ihren dünnen Lippen verschlossen geblieben, denn Rebecca war nicht blos zur Halsstarrigkeit geneigt, sondern auch ihrer Mutter Liebling; die alte Dame war nämlich selbst ziemlich stolz und zog eine etwas prunkendere Art von Kopfbedeckung vor, als ihre Tochter Mary aufzusetzen zu bewegen war.
Aber ich habe Miß Rebecca nur beschrieben, wie sie in früheren Tagen war, denn ihre Erscheinung an diesem Abend, wie sie dasitzt und die grünen Etiketten aufklebt, steht in schlagendem Contrast zu dem, was sie vor drei oder vier Monaten war. Ihr einfacher grauer Ginghamanzug und einfacher weißer Kragen konnten vor jenem Datum nie zu ihrer Garderobe gehört haben; und wenn sie auch nicht an Umfang abgenommen hat und ihr braunes Haar durchaus nicht anders als in krausen Ringeln um ihre vollen Wangen hängen will, so bemerkt man doch eine Veränderung in Miene und Ausdruck, die ein sanfteres Licht über ihre Gestalt auszugießen scheint und sie erscheinen läßt wie eine Pfingstrose im Schatten, statt derselben Blume auf einem Blumenbeet im heißen Sonnenlicht.
Niemand konnte leugnen, daß der Evangelikalismus eine Änderung zum Bessern in Rebecca Linnets Person hervorgebracht hatte – nicht einmal Miß Pratt, die dünne, steife, bebrillte Dame, die ihr gegenüber saß und die stets eine besondere Repulsionskraft fühlte vor »Frauen mit dicker Leibesbeschaffenheit«. Miß Pratt war eine alte Jungfer; aber das ist keine genauere Beschreibung, als wenn ich sagte, sie befände sich im Herbste des Lebens. War es ein Herbst, wo die Obstbäume voll saftiger Äpfel hingen, oder ein Herbst, wo das Eichenlaub gelb war, oder ein Herbst, wo der kühle Wind die letzten Blätter von den Bäumen schüttelte? Die jungen Damen zu Milby hätten gesagt, auch die Miß Linnets wären alte Jungfern; aber die Miß Linnets waren im Vergleich zu Miß Pratt, was der apfelduftige September ist im Vergleich zu den nackten, schneidendkalten Tagen des Spätnovembers. Die Miß Linnets lebten in jener gemäßigten Zone des Altjungfernthums, wo die Frau erst zu sagen pflegt, daß, wenn ein Mann von entsprechendem Alter und Charakter sich anbieten würde, sie vielleicht sich entschließen könnte, den Rest des Lebensweges in seiner Gesellschaft zurücklegen; Miß Pratt war in jener Polarregion, wo eine Frau überzeugt ist, daß sie zu keiner Zeit ihres Lebens darein gewilligt hätte, ihre Freiheit aufzugeben, und daß sie nie einen Mann gesehen, den zu ehren und dem zu gehorchen sie sich verbindlich machen würde. Wenn die Miß Linnets alte Jungfern waren, so waren sie alte Jungfern mit natürlichen Locken und Embonpoint, um nicht zu sagen Fettleibigkeit, Miß Pratt war eine alte Jungfer mit einer Haube, geflochtenem »Stirnhaar«, vorstehendem Rückgrat und sonstigem Zubehör. Miß Pratt war der einzige Blaustrumpf von Milby; sie besaß, wie sie sagte, nicht weniger als fünfhundert Bände, war im Stande, wie ihr Bruder, der Doktor, oft bemerkte, eine Conversation über jedes Thema zu führen, und dilettirte gelegentlich selbst ein wenig im Schriftstellern, obgleich man annahm, daß sie nie die gereiften Früchte ihres Geistes im Druck hätte erscheinen lassen. Ihre »Briefe an einen Jüngling bei seinem Eintritt in's Leben« und »De Courcy, oder: das übereilte Versprechen, eine Erzählung für die Jugend« wären bloße Kleinigkeiten, zu deren Publikation sie veranlaßt worden sei, weil dieselben als gemeinnützlich geschätzt wurden, aber sie wären nichts im Vergleich zu dem, was sie seit Jahren im Manuscript bei sich gehabt hätte. Ihre letzte Produktion waren »Sechs Stanzen«, die an den Rev. Edgar Tryan gerichtet, auf hübsch umrändertes Glanzpapier gedruckt waren und begannen: »Frisch auf, junger Ringer für Wahrheit, frisch auf!«
Miß Pratt hatte ihrem Bruder während seiner langen Wittwenzeit den Haushalt geführt; seine Tochter, Miß Eliza, hatte den Vortheil gehabt, von ihrer Tante erzogen zu werden und so einen sehr starken Widerwillen gegen die Geschmacksrichtung und Meinungen jener bemerkenswerthen Frau zu fassen. Das schweigsame, hübsche, zweiundzwanzigjährige Mädchen, das eben »Felix Neff's Memoiren« »A memoir of Felix Neff, pastor of the High Alps« (1832) von William Stephen Gilly über den Schweizer evangelischen Wanderprediger. – Anm.d.Hrsg. mit einem Umschlage versieht, ist Miß Eliza Pratt; und die kleine, ältliche Dame in plumper Kleidung, die gleichfalls fleißig arbeitet, ist Mrs. Pettifer, eine Wittwe von himmlischem Gemüth, sehr geschätzt in Milby, da sie eine sehr achtenswerthe Person sei, die man im Falle einer Krankheit im Hause haben könnte und die von viel zu guter Familie wäre, um Bezahlung in Geld anzunehmen – man konnte ihr stets etwas Gemüse schicken, das vergütete ihr ganz wohl ihre Mühe. Miß Pratt hatte genug zu thun mit Bemerkungen über den vor ihr liegenden Bücherhaufen, da sie es als eine ihr durch ihre großen Geisteskräfte auferlegte Verpflichtung ansah, Niemand den Vortheil ihrer Meinungsäußerung entgehen zu lassen. Was gut war, mußte mit dem Salböl ihrer Billigung besprengt, was böse war, durch den Mehlthau ihrer Verdammung vernichtet werden.
»Auf mein Wort«, sagte sie mit bedächtiger, lauter Stimme, als diktirte sie einem Amanuensis Sekretär oder Schreibgehilfen eines Gelehrten. – Anm.d.Hrsg, »es ist eine höchst bewundernswerthe Auswahl von Werken für populäre Lektüre, die unser ausgezeichneter Mr. Tryan getroffen hat. Ich weiß nicht, ob ich, wenn mir die Auswahl anvertraut worden wäre, eine Wahl hätte treffen können, die in höherem Grade religiöse Belehrung und Erbauung mit einer gehörigen Beimischung der reineren Art von Unterhaltung verbunden hätte. Diese Geschichte vom ›Vater Clemens‹ »Father Clement: A Roman Catholic Story« (1823) von Grace Kennedy (1782-1825), berüchtigt für ihre antikatholischen Propaganda-Schriften. – Anm.d.Hrsg ist für sich allein eine Bibliothek über die Verirrungen des Katholicismus. Ich habe immer die Dichtung als eine entsprechende Form zur Vermittlung moralischer und religiöser Belehrung betrachtet, wie ich in meinem kleinen Werk ›De Courcy‹ zeigte, das, wie ein sehr geschickter Kritiker im Cromptoner ›Argus‹ bei dessen Erscheinen sagte, der leichte Träger einer gewichtigen Moral ist.«
»Man sollte meinen«, sagte Mrs. Linnet, die auch ihre Brille trug, aber hauptsächlich um zu sehen, was die Andern thaten, »es brauchte nicht viel, um die Leute einer Religion abwendig zu machen, die von ihnen verlangt, daß sie barfuß über Steinfliesen gehen, wie das Mädchen im ›Vater Clemens‹ – was einem das Blut schrecklich in den Kopf treibt. Jeder könnte sehen, daß das ein unnatürlicher Glaube ist.«
»Ja«, sagte Miß Pratt, »aber das Aszetenthum ist nicht die Wurzel des Irrglaubens – das ist die Ableugnung der großen Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben. So viel ich auch im Laufe meines Lebens über alle Gegenstände nachgedacht hatte, ich bin Mr. Tryan zu Dank verpflichtet, daß er mir die Augen geöffnet hat für die volle Bedeutung jener Grundlehre der Reformation. Von Kind auf hatte ich einen tiefreligiösen Sinn, aber in meinen früheren Tagen war das Licht des Evangeliums in der englischen Hochkirche verdunkelt, ungeachtet des Besitzes unserer unvergleichlichen Liturgie, des fehlerlosesten und erhabensten Menschenwerks, das ich kenne. Wie ich Eliza sage, ich erfreute mich nicht wie sie im Alter von zweiundzwanzig Jahren der Bekanntschaft eines Geistlichen, der alles, was groß und bewundernswerth am Verstand, mit den höchsten geistlichen Gaben vereinigt. Ich bin keine zu verachtende Richterin über eines Mannes Fähigkeiten, und ich versichere Ihnen, ich habe die Mr. Tryans durch Fragen erprobt, die ein ziemlich scharfer Probirstein sind. Es ist wahr, ich führe ihn manchmal ein wenig über den Horizont der andern Zuhörer hinaus. Es sind nicht Viele,« fuhr Mrs. Pratt fort, ihre Brille zusammenlegend und damit auf das vor ihr liegende Buch klopfend, »hier in Milby, die gründliches Wissen zu schätzen verstehen.«
»Miß Pratt«, sagte Rebecca, »wollen Sie mir gefälligst Scotts ›Kraft der Wahrheit‹ »The Force of Truth« (1779) des englischen Predigers Thomas Scott. – Anm.d.Hrsg. geben? Dort jenes kleine Buch, das neben ›Legh Richmonds Leben‹ »Life of Legh Richmond« (1829) von Gregor Townsend Bedell. – Anm.d.Hrsg. liegt.«
»Das ist ein Buch, welches mir sehr gefällt – das Leben Legh Richmond's«, sagte Mrs. Linnet. »Er brachte alles heraus in betreffs jener Frau in Tutbury, die vorgab, sie lebe ohne zu essen. Nichts als Unsinn!«
Mrs. Linnet hatte seit Mr. Tryans Ankunft begonnen, religiöse Bücher zu lesen, und da sie die Gewohnheit hatte, ihre Lektüre auf die rein weltlichen Abschnitte zu beschränken, die einen sehr geringen Theil des Ganzen ausmachten, konnte sie in ziemlich kurzer Zeit sich durch eine große Anzahl von Bänden hindurchlesen. Wenn sie die Lebensgeschichte eines berühmten Predigers aufschlug, sah sie sogleich am Schluß des Werkes nach, an welcher Krankheit er gestorben; und wenn seine Beine anschwollen, wie es die ihren gelegentlich thaten. fühlte sie ein regeres Interesse daran, frühere Thatsachen aus der Geschichte des wassersüchtigen Geistlichen zu ermitteln – ob er jemals aus einer Postkutsche gefallen war, ob er mehr als eine Frau gehabt habe, überhaupt, irgendwelche Abenteuer oder kurze treffende Antworten, die von ihm – als der Epoche seiner Bekehrung vorhergehend – berichtet wurden. Dann überflog sie die Briefe und Tagebücher und wo sie ein Vorherrschen von Zion, dem Strom des Lebens und Ausrufungszeichen gewahrte, wendete sie um; aber irgend eine Stelle, in der sie so vielversprechende Hauptwörter wie »Blattern«, »Pony« oder »Stiefel und Schuhe« erblickte, fesselte sie sogleich.
»Es ist jetzt halb sieben Uhr«, sagte Miß Linnet. auf ihre Uhr sehend, als die Magd mit dem Theeservice erschien. »Ich glaube, die Delegaten werden jetzt wohl zurück sein. Wenn Mr. Tryan nicht so freundlich versprochen hätte, zu kommen und uns alles mitzutheilen, würde ich wohl selbst nach Milby gehen, um zu erfahren, welche Antwort sie mitgebracht haben. Es ist ein großes Privileg für uns, daß Mr. Tryan bei Mrs. Wagstaff wohnt, denn er kann so öfter auf seinem Wege von der Stadt und in die Stadt bei uns vorsprechen.«
»Ich möchte nur wissen, ob es noch einen Mann auf der Welt gibt, erzogen wie Mr. Tryan, der in jenen kleinen, engen Zimmern wohnen möchte, unter Haufen schmutziger Hütten, nur um den armen Leuten nahe zu sein,« sagte Ms. Pettifer. »Ich fürchte, er schadet seiner Gesundheit dadurch; er sieht mir durchaus nicht kräftig aus.«
»Ja«, sagte Miß Pratt, »ich höre, er ist von einer hoch angesehenen Familie in Huntingdonshire. Ich hörte ihn selbst von seines Vaters Equipage sprechen – ganz zufällig, wissen Sie – und Eliza sagt, was für hochfeine Battisttücher er gebraucht. Meine Augen sind nicht gut genug, um Derartiges zu sehen, aber ich weiß ebensogut wie die meisten Leute, was Erziehung ist, und es ist leicht zu sehen, daß Mr. Tryan ganz comme il faut ist, um einen französischen Ausdruck zu gebrauchen.«
»Ich möchte ihm gern rathen, hier keine feinen Battisttücher zu gebrauchen, wo sie gewaschen werden, daß es eine wahre Schande ist«, sagte Mrs. Linnet. »Man wird sie ihm in Stücke reißen. Gute Leinwand wäre besser. Ich sah neulich beim Abendmahl, was für ein Aussehen seine Wäsche hatte. Mary macht ihm ein schwarzseidenes Futteral für seine Bäffchen; aber ich sagte ihr, seine Wäsche zu besorgen, wäre nöthiger.«
»O Mutter!« sagte Rebecca mit feierlichem Ernst, »bitte, denken Sie nicht an Taschentücher und Leinen, wenn wir von einem solchen Manne sprechen. Und in diesem Augenblick dazu, wo er vielleicht einen schweren Schlag zu erdulden hat. Es ist viel nöthiger, daß wir für ihn beten, gleichwie Aaron und Hur die Hände für Moses erhoben. Wir wissen es nicht, aber die Schlechtigkeit hat vielleicht triumphirt und Mr. Prendergast darein gewilligt, die Betstunde zu verbieten. Man hat schon ebenso geheimnißvolle Fügungen erlebt, und der Satan wendet augenscheinlich all seine Kraft an, um dem Einzug des Evangeliums in die Kirche zu Milby zu widerstehen.«
»Du hast nie ein wahreres Wort gesprochen als das, mein Kind«, sagte Mrs. Linnet, die alle religiösen Phrasen aufgriff, aber sehr rationalistisch war in ihrer Erklärung; »denn wenn jemals der Teufel in Menschengestalt erschien, so ist's dieser Dempster. Blos er ist schuld daran, daß wir um Pye's Croft betrogen wurden, da er behauptete, der Rechtstitel sei nicht gut. Solche Advokatenspitzbüberei! Als ob es nicht Titel genug wäre, sein schönes Geld zu bezahlen. O, wenn euer seliger Vater das hätte erleben dürfen! Aber man wird eines Tages seinen Fall erleben. Denkt an meine Worte!«
»Seinen Fall aus dem Wagen meinen Sie?« sagte Miß Pratt, die in der durch das Abräumen des Tisches verursachten Bewegung den ersten Theil von Mrs. Linnets Speech überhört hatte. »Es ist wirklich beängstigend, ihn von Rotherby nach Hause fahren zu sehen, wie er sein galoppirendes Pferd gleich einem Wahnsinnigen peitscht. Mein Bruder hat oft gesagt, er erwarte jeden Donnerstag Abend, gerufen zu werden, um einige von Dempsters Knochen einzurichten: aber ich denke, er darf diese Erwartung fallen lassen, denn wir haben aus guter Quelle erfahren, daß er seiner Frau verboten hat, meinen Bruder jemals wieder zu ihr oder ihrer Mutter zu rufen. Er schwört, kein tryanitischer Doktor solle seine Familie behandeln. Ich habe Grund zu glauben, daß Mr. Pilgrim neulich zu Mrs. Dempsters Mutter gerufen wurde.
»Arme Mrs. Raynor! sie thut alles gern um der Ruhe und des Friedens willen«, sagte Mrs. Pettifer; »aber es ist keine Kleinigkeit, bei ihrem Alter, einen Doktor aufzugeben, der ihre Constitution kennt.«
»Welchen Kummer die arme Frau doch in ihren alten Tagen zu ertragen hat!« sagte Mary Linnet, »mit ansehen zu müssen, welches Leben ihre Tochter führt! – die einzige Tochter dazu, in die sie ganz vernarrt ist.«
»Ja, das ist wahr«, sagte Miß Pratt. »Wir natürlich wissen mehr darüber, als die meisten Leute, da mein Bruder die Familie so lange behandelt hat. Ich für meinen Theil hielt nie viel von der Heirath; und ich versuchte, meinem Bruder abzurathen, als Mrs. Raynor ihn bat, bei der Trauung die Stelle des Brautvaters zu vertreten. ›Wenn Du meinem Rath folgen willst, Richard‹, sagte ich, ›wirst Du mit dieser Heirath Dir nichts zu schaffen machen!‹ Und er hat seitdem die Nichtigkeit meiner Ansicht erkannt. Mrs. Raynor war zuerst selbst gegen die Verbindung: aber sie hat Janet immer verzogen, und ich fürchte auch, sie wurde dazu verleitet durch einen thörichten Stolz, einen studirten Herrn als Schwiegersohn zu bekommen. Ich fürchte, es war so. Niemand, glaub' ich, außer mir, sah das Unheil in seinem ganzen Umfang voraus.«
»Nun«, sagte Mrs. Pettifer, »Janet hatte keine Aussicht als Gouvernante zu werden; und es war hart für Mrs. Raynor, als Putzmacherin arbeiten zu müssen – eine wohlerzogene Frau und ihr Gatte ein Mann, der den Kopf so hoch trug wie einer in Thurston. Und nicht Jedermann sieht alles fünfzehn Jahre vorher voraus. Robert Dempster war der gescheidteste Mann in Milby, und es gab nicht viele junge Männer, die mit Janet zu reden verstanden.«
»Es ist ewig schade«, sagte Miß Pratt, den leichten Sarkasmus Mrs. Pettifer's absichtlich übersehend, »denn ich betrachtete Janet Raynor immer als das hoffnungvollste junge Mädchen unter meinen Bekannten; – ein wenig zu hochnäsig, vielleicht wegen ihrer überlegenen Bildung, und der Satire zu sehr ergeben, aber im Stande, sich über ein Buch, das ich ihr zur Lektüre empfahl, recht verständig zu äußern. Es ist jetzt kein junges Mädchen hier, die verglichen werden könnte mit dem, was Janet war, als sie sich verheirathete, weder an Geist noch Wuchs. Ich bin der Meinung, daß ihr Miß Landor weit, weit nachsteht, ich kann wirklich nicht viel sagen zu Gunsten der geistigen Ueberlegenheit der jungen Damen in unseren ersten Familien, Sie sind oberflächlich – sehr oberflächlich.«
»Und sie war auch die hübscheste Braut, die je zu Milby getraut wurde«, sagte Mrs. Pettifer. »Solch eine prächtige Gestalt! und ihr weißes Popelinkleid ließ sie vortheilhaft hervortreten. Und welch' ein hübsches Lächeln Janet immer an sich hatte! Das arme Ding, sie hat es jetzt noch für alle alten Freunde. Wir treffen uns nie, ohne daß sie mir etwas Hübsches zu sagen hat – da wir in derselben Straße wohnen, wie Sie wissen, muß ich ihr öfters begegnen, wenn ich auch nie mehr zu ihr in's Haus kam, seit Dempster in einem seiner trunkenen Anfälle gegen mich losbrach. Sie kommt manchmal zu mir, das arme Ding, und sieht so seltsam aus, daß Jeder, der auf der Straße an ihr vorbeigeht, deutlich genug sehen kann, wo's fehlt; aber sie hat trotzdem stets irgend eine wohlthätige Absicht im Sinn. Erst gestern Abend, als ich ihr begegnete, sah ich schon von weitem, daß sie nicht zum Ausgehen angethan war; aber sie hatte ein volles Schüsselchen in der Hand, das sie zu Sally Martin trug, dem krüppelhaften Mädchen, das an der Auszehrung leidet.«
»Aber sie ist eben so erbittert gegen Mr. Tryan wie ihr Mann, hör' ich«, sagte Rebecca. »Ihr Herz ist sehr gegen die Wahrheit eingenommen, denn man sagte mir, sie habe Mr. Tryans Predigten gekauft, um sie vor Mrs. Crewe lächerlich zu machen.«
»Das arme Ding, wissen Sie«, sagte Mrs. Pettifer, »vertheidigt Alles, was ihr Mann sagt und thut. Sie wird nie Jemandem zugestehen, daß er kein guter Ehemann sei.«
»Das macht ihr Stolz«, sagte Miß Pratt. »Sie heirathete ihn gegen den Rath ihrer besten Freunde, und jetzt will sie durchaus nicht zugestehen, daß sie unrecht hat. Ja, selbst meinem Bruder gegenüber – und ein ärztlicher Berather, wissen Sie, ist immer etwas mit den Familiengeheimnissen vertraut – stellte sie sich immer, als habe sie die höchste Achtung vor ihres Mannes guten Eigenschaften. Die arme Mrs. Raynor weiß aber ganz gut, daß Jedermann den wahren Stand der Dinge kennt. In letzter Zeit hat sie das nicht einmal mir gegenüber verschwiegen. Als ich sie zum letztenmale besuchte, sagte sie: ›Haben Sie meine arme Tochter besucht?‹ und brach in Thränen aus.«
»Stolz oder kein Stolz», sagte Mrs. Pettifer, »ich werde Janet Dempster stets vertheidigen. Sie wachte Nacht auf Nacht bei mir, als ich vor sechs Jahren jenen Anfall von rheumatischem Fieber hatte. Viele Entschuldigungsgründe sprechen für sie. Wenn eine Frau nicht ohne Zittern an ihres Mannes Heimkunft denken kann, so ist das genug, um sie zum Trinken zu veranlassen, um ihr Gefühl abzustumpfen – und dazu keine Kinder, die sie davon abhalten. Sie und ich würden vielleicht dasselbe thun, wenn wir an ihrer Stelle wären.«
»Sprechen Sie von sich allein, Mrs. Pettifer«, sagte Miß Pratt. »Unter keinen Umständen würde ich meine Zuflucht zu einer so erniedrigenden Gewohnheit nehmen. Eine Frau sollte in ihrer eigenen Seelenstärke eine Stütze finden.«
»Ich denke«, sagte Rebecca, die Miß Pratt noch als sehr blind in geistlichen Dingen, trotz deren angeblicher Erleuchtung, betrachtete, »sie wird nur eine schwache Stütze finden, wenn sie blos auf ihre eigene Kraft sich verläßt. Sie muß die Hilfe anderswo als in sich selbst suchen.«
Glücklicherweise brachte gerade jetzt das Abräumen der Theegeräthschaften ein wenig Verwirrung hervor, die Miß Pratt zur Bekämpfung ihres Grolls über Rebeccas Anmaßung, sie zu corrigiren, half – eine Person wie Rebecca Linnet! die vor sechs Monaten noch ein so leichtsinniges und eitles Frauenzimmer gewesen, als Miß Pratt je eines gekannt hatte – so ganz ohne jede Selbsterkenntniß!
Die Damen hatten kaum eine weitere Stunde bei ihrer Arbeit gesessen, als die Sonne nach und nach unterging und die Wolken, die den Himmel bis zum Zenith in kleinen Gruppen überzogen, mit jedem Augenblick eine lichtere Goldfarbe annahmen. Die Thüre des Gärtchens öffnete sich, und Miß Linnet, die an ihrem Tischchen am Fenster saß, sah Mr. Tryan eintreten.
»Da kommt Mr. Tryan«, sagte sie, und ihre blasse Wange überzog eine leichte Röthe, die sie Allen anziehender würde erscheinen haben lassen, ausgenommen Miß Eliza Pratt, deren scharfe graue Augen nur wenige Dinge ihrer stillschweigenden Beobachtung entgehen ließen. »Mary Linnet verliebt sich immer mehr in Mr. Tryan«, dachte Miß Eliza; »es ist wirklich kläglich, solche Gefühle bei einem Frauenzimmer ihres Alters, mit diesen altjüngferlichen Löckchen, gewahren zu müssen. Sie schmeichelt sich jedenfalls, Mr. Tryan könne sich in sie verlieben, weil er sie bei den Armen sich nützlich machen läßt.« Zur selben Zeit, während sie ihren hübschen Kopf und ihre großen Schmachtlocken mit anscheinender Ruhe über ihre Arbeit herabneigte, fühlte Miß Eliza eine merkliche innerliche Verwirrung, als sie das Klopfen an der Thüre hörte. Rebecca hatte weniger Selbstbeherrschung. Sie fühlte sich zu erregt, um ihre Klebearbeit fortzusetzen und umklammerte das Tischbein, um dem Zittern ihrer Hände entgegenzuwirken.
Arme Mädchenherzen! Der Himmel verhüte, daß ich über Euch spotten und billige Witze reißen sollte über eure Empfänglichkeit für das geistliche Geschlecht, als hätte sie nichts Tieferes oder Lieblicheres an sich, als das bloße gemeine Angeln nach einem Gatten. Selbst in diesen aufgeklärten Tagen wird mancher Curat, der weiter nichts ist als ein unbehaarter Zweihänder in einer weißen Halsbinde, mit mehr oder weniger hochkirchlichen Ansichten und insgeheim der Flöte ergeben, angebetet von einem Mädchen, das rohe Brüder hat, oder von einem alleinstehenden Frauenzimmer, die ihm gern eine Helferin sein möchte in guten Werken, blos weil er ihr ein Muster von Verfeinerung und Gemeinnützigkeit erscheint. Was Wunder also, daß in der Milbyer Gesellschaft, so wie sie, wie ich erzählte, vor sehr langer Zeit war, ein eifriger evangelischer Geistlicher von dreiunddreißig Jahren alle die kleinen Aufregungen hervorrief, die zu dem göttlichen Zwang der Liebe gehören und den Miß Linnets mit ihren sieben oder acht Lustren und ihren altmodischen Haarringeln nicht weniger eingepflanzt waren als Miß Eliza Pratt mit ihrer jugendlichen Blüthe und ihren glänzenden Schmachtlocken.
Aber Mr. Tryan hat das Zimmer betreten, und das seltsame Licht, das von dem goldenen Himmel auf sein hellbraunes Haar fällt, das stark rückwärts gekämmt ist, läßt es fast wie eine Aureole erscheinen. Dazu strahlen diesen Abend seine Augen von ungewohntem Glanz. Es waren keine bemerkenswerthen Augen, aber sie stimmten in ihrem wechselnden Licht vollkommen überein mit dem wechselnden Ausdruck seiner Persönlichkeit, der den widerspruchsvollen Charakter verrieth, den man oft bei großgliedrigen, blonden Sanguinikern beobachten kann; zugleich mild und reizbar, sanft und hochfahrend, lässig und entschlossen; selbstbewußt und träumerisch. Wenn wir davon absehen, daß die vollen Lippen etwas von dem künstlich zusammengepreßten Aussehen hatten, das oft das Zeichen eines Kampfes ist, um den Drachen niederzuhalten, und daß die Gesichtsfarbe etwas fahl war und auf nicht ganz feste Gesundheit deutete, war Mr. Tryans Gesicht in Ruhe das eines gewöhnlichen Blondins, und es schien schwierig, ein gewisses distinguirtes Air, das er an sich hatte, etwas Besonderem zuzuschreiben, wenn nicht etwa seinen zarten Händen und wohlgestalteten Füßen.
Es war eine große Regelwidrigkeit für die Gemüther der Milbyer, daß ein scheinheiliger evangelischer Pastor, der Thee trank mit Gewerbsleuten und mit gewöhnlichen Frauen, wie die Linnets, sich befreundete, ein so vornehmes Aeußere haben und so wenig dem krummbeinigen Mr. Stickney von der Salemkapelle gleichen sollte, dem er sich in der Lehre so sehr näherte. Und dieser Mangel an Uebereinstimmung zwischen Körper und Bekenntniß hatte in der größeren Stadt Laxeter, wo Mr. Tryan vorher Curat gewesen, nicht weniger Staunen erregt; denn von den zwei anderen nicht hochkirchlichen Geistlichen war der eine ein Walliser von kugelförmiger Gestalt und fettiger Gesichtsfarbe und der andere ein Mann von gelbsüchtigem Aussehen, mit strähnigem schwarzem Haar und einer übergroßen schlecht geknüpften Cravatte – in kurzem, was man eben von Männern erwarten konnte, welche die Veröffentlichungen der religiösen Traktat-Gesellschaft vertheilten und Dissenterhymnen in der Hochkirche einführten.
Mr. Tryan schüttelte Mrs. Linnet die Hand, verbeugte sich mit einer ziemlich befangenen Miene vor den andern Damen und setzte sich in dem großen Roßhaarlehnstuhl zurecht, der für ihn bereit gestellt war, während die Frauen ihre Arbeit ruhen ließen, die Augen auf ihn hefteten und auf die Nachrichten warteten, die er ihnen mitzutheilen hätte.
»Es scheint«, begann er in langsamem Silberton, »ich bedarf einer Lektion in der Geduld; es war etwas fehlerhaft in meinem Denken und Thun betreffs dieser Abendbetstunde. Ich war zu sehr geneigt, Milby nach meinem eigenen Plan Gutes zu thun – zu vertrauensvoll auf meine eigene Weisheit.«
Mr. Tryan hielt inne. Er kämpfte gegen innere Erregung.
»Die Delegaten sind also zurück?« »Hat Mr. Prendergast nachgegeben?« »Hat Dempster Erfolg gehabt?« waren die wißbegierigen Fragen dreier Damen zugleich.
»Ja; die ganze Stadt ist in Aufruhr. Als wir in Mr. Landors Besuchszimmer saßen, hörten wir ein lautes Hochrufen, und gleich darauf kam Mr. Thrupp, der Bankcommis, der im Rothen Löwen auf das Ergebniß gewartet hatte, um uns davon zu unterrichten. Er sagte, Dempster habe vom Fenster aus eine Anrede an den Pöbel gehalten. Man vertheilte Getränke unter die Leute und sie hoben Plakate in großen Lettern in die Höhe mit den Inschriften: ›Nieder mit den Tryaniten!‹ – ›Nieder mit der Heuchelei!‹ Sie hatten eine scheußliche Carricatur, wie mir ein Bein gestellt und ich Hals über Kopf von der Kanzel herabgeworfen werde. Der gute alte Mr. Landor wollte mich durchaus im Wagen hierherbringen lassen; er dachte, ich wäre nicht sicher vor dem Pöbel; aber ich ging herab durch den Kreuzweg. Der Auflauf war offenbar von Dempster arrangirt worden, ehe er abreiste. Er war vom Erfolg überzeugt.«
Mr. Tryans Sprache war im Verlauf dieser Rede ziemlich laut und rasch geworden, und er fügte jetzt, in der energischen Bruststimme, die fortwährend, sowohl in als außer der Kanzel, mit seinen mehr silbernen Tönen abwechselte, hinzu:
»Aber sein Triumph wird ein kurzer sein. Wenn er glaubt, mich durch Schmähreden und Drohungen einschüchtern zu können, so hat er den Mann, mit dem er zu thun hat, falsch beurtheilt. Mr. Dempster und seine Collegen werden trotzdem schachmatt gesetzt werden. Mr. Prendergast ist in dieser Sache seiner eigenen Ueberzeugung untreu geworden. Er weiß so gut wie ich, daß er die Seelen des Volkes zu Grunde richtet, wenn er die Zustände in diesem Sprengel läßt wie sie sind. Aber ich werde an den Bischof appelliren – ich bin überzeugt, daß er mit mir übereinstimmt.
»Der Bischof, glaub' ich, wird bald kommen«, sagte Miß Pratt, »um die Konfirmation vorzunehmen?«
»Ja; aber ich werde ihm sogleich schreiben und ihm die Sache vorlegen; und ich muß augenblicklich gehen, denn ich habe noch Vieles zu besorgen. Meine Damen, Sie haben mir, wie ich sehe, freundlich geholfen mit Ihren Arbeiten«, fuhr Mr. Tryan höflich fort, indem er einen Blick über die in Canevas eingeschlagenen Bücher warf. Dann aufstehend und sich zu Mary Linnet wendend sagte er: »Unsere Bibliothek schreitet wirklich vorwärts, denk' ich. Sie und Ihre Schwester haben jetzt eine ziemlich schwere Last mit der Vertheilung.«
Die arme Rebecca schmerzte es sehr, daß Mr. Tryan sich nicht auch an sie wendete. Wenn er wüßte, wie sehr sie seine Gefühle betreffs der Abendbetstunde theilte, und welches Interesse sie an der Bibliothek nahm! Nun! vielleicht war es ihr Loos, übersehen zu werden – und es war vielleicht ein Merkmal der Gnade. Selbst ein guter Mann kennt vielleicht nicht immer das Herz, das ihm am nächsten steht. Aber im nächsten Augenblick fühlte Mary einen Stich durch's Herz, als Mr. Tryan sich zu Miß Eliza wendet und der befangene Ausdruck seines Gesichts in jene strahlende Schüchternheit zerschmilzt, mit der ein Mann fast immer eine hübsche Frau anredet.
»Ich habe auch Ihnen zu danken, Miß Eliza, daß Sie mich so gut in den Besuchen bei Joseph Mercer unterstützen. Der alte Mann sagt mir, wie köstlich ihm Ihr Vorlesen sei, jetzt da er die Kirche nicht mehr besuchen kann.«
Miß Eliza antwortete blos durch ein Erröthen, das sie nur noch hübscher erscheinen ließ, aber ihre Tante sagte:
»Ja, Mr. Tryan, ich habe meiner lieben Eliza stets eingeschärft, wie wichtig es sei, daß sie ihre freie Zeit zum Nutzen ihrer Mitmenschen verwende. Ihr Beispiel und Ihre Unterweisung waren ganz in dem Geist und System, das ich stets befolgt habe, obgleich wir Ihnen zu Dank verpflichtet sind für eine klarere Ansicht über die Gründe, die uns bei unserem Trachten nach guten Werken bestimmen sollen. Nicht daß ich mich anklagen könnte, jemals einen selbstgerechten Geist gehabt zu haben, aber meine Demuth war eher instinktiv, als auf einen festen Grund doctrinären Wissens, wie Sie es uns so wunderbar vermitteln, gebaut.«
Mrs. Linnets gewöhnliche Bitte, Mr. Tryan wolle »etwas nehmen – etwas Wein mit Wasser und einen Zwieback«, war gerade jetzt eine willkommene Befreiung von der Nothwendigkeit, Miß Pratts Rede zu beantworten.
»Nichts, meine liebe Mrs. Linnet, ich danke Ihnen. Sie vergessen, welch' ein Rechabit Rechabiten – eine Sekte, die sich der geistigen Getränke enthalten. (Sic! D. Hrsg.) ich bin. Nebenbei, als ich heute Morgen ein armes Mädchen in der Metzgergasse besuchte, das, wie ich hörte, an der Abzehrung leidet, fand ich Mrs. Dempster dort. Ich hatte sie oft auf der Straße gesehen, wußte aber nicht, daß es Mrs. Dempster war. Es scheint, sie besucht die Armen recht fleißig. Sie sieht wirklich sehr interessant aus. Ich war ganz erstaunt, denn ich hatte das Schlimmste von ihrem Leben gehört – daß sie fast so schlecht sei wie ihr Ehemann. Sie ging hastig fort, als ich eintrat. Aber, (entschuldigend), ich lasse Sie alle stehen, und ich muß wirklich eilig fort. Mrs. Pettifer, ich habe längere Zeit nicht das Vergnügen gehabt, Sie zu besuchen; ich werde, sobald ich des Wegs komme, bei Ihnen vorsprechen. Guten Abend, guten Abend.«