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Einundzwanzigstes Kapitel.

Die Dienstboten bei Dempsters waren einigermaßen überrascht, als der Morgen, Nachmittag und Abend des Samstags verflossen war und ihre Herrin noch immer nicht erschien.

»Es ist recht wunderlich«, sagte Kitty, die Hausmagd, indem sie eine ihrer Hauben aufputzte, während Betty, die schon in mittleren Jahren stehende Köchin, mit gekreuzten Armen zusah. »Glaubst Du, daß Mrs. Raynor krank wurde und nach der Frau sandte, ehe wir auf waren?«

»O«, sagte Betty, »wenn es das gewesen wäre, so würde sie bis jetzt drei- oder viermal hin- und hergelaufen sein; wenigstens hätte sie die kleine Anna gesandt, um es uns wissen zu lassen.«

»Es ist etwas Ungewöhnliches los zwischen ihr und dem Herrn, darauf kannst Du Dich verlassen«, sagte Kitty. »Ich weiß, die Kleider, die gestern im Besuchszimmer lagen, als die Gesellschaft da war, hatten etwas zu bedeuten. Sollte mich nicht wundern, wenn sie deswegen einen frischen Spektakel gehabt hätten. Sie ist vielleicht fortgegangen und hat sich entschlossen, nimmer zu kommen.«

»Und da hätte sie auch Recht«, sagte Betty. »Ich wäre ihm schon lange davon gelaufen, wenn ich sie gewesen wäre. Ich würde mich von keinem Manne prügeln lassen wie sie, und wenn er der größte Herr im Lande wäre. Es ist ein schlechtes Geschäft, um den Preis verheirathet zu sein: Da wollt' ich eher Köchin sein ohne Marktgroschen und braten und kochen und rösten und backen alles auf einmal zu besorgen haben. Es ist kein Wunder, daß sie es so macht, wie sie gethan hat. Ich weiß, ich bin selbst froh um ein Tröpfchen, wenn ich geplagt bin. Es ist mir heut' Nacht gar nicht recht gut zu Muthe; ich meine, ich werde mein Bier ins Pfännchen thun und warm machen.«

»Wie Du doch gleich mit dem Bierwärmen bei der Hand bist, Betty! Ich könnte es nicht ausstehen – garstiges bitteres Zeug!«

»Ein schönes Gerede; wenn Du eine Köchin wärest, würdest Du wissen, was sich für eine Köchin gehört. Nichts rutscht einem so hübsch in den Magen, das kann ich Dir sagen. Du würdest dann nicht so viel an schöne Bänder für Deine Haube denken«

»Nun, nun, Betty, sei nur nicht böse. Liza Thomson, die bei Phipps ist, sagte am letzten Sonntag zu mir, ich wundere mich nur, sagt sie, daß Du bei Dempsters bleibst, wie es dort zugeht. Aber ich sage, man muß sich in jedem Platz was gefallen lassen; und man kann wechseln und wechseln, und wenn's um und aus ist, hat man sich nicht verbessert! Du lieber Gott, Liza sagte mir selbst, daß Mrs. Phipps so gar geizig in der Küche wäre, wenn sie gleich soviel Gesellschaften halten; und was die Liebhaber betrifft, so ist sie so zornig wie ein Truthahn, wenn sie einen herauskriegt. So 'was gibts bei unserer Frau nicht. Wie hübsch sie letzten Sonntag mit Job sprach! Es gibt keine gutmüthigere Frau in der Welt, das ist mein Glaube – und hübsch dazu. Ich denke alleweil, es ist keine halb so schön wie die Frau, wenn ihr Haar gemacht ist. Ich wollt', ich hätt' auch so langes Haar wie sie – mein Haar geht schrecklich aus.«

»Das wird morgen eine schöne Geschichte geben«, sagte Betty, »wenn der Herr heimkommt, und Dawes schwört, daß er keinen Streich mehr bei ihm arbeiten will. Es wird ein netter Spaß werden, wenn er ihn verklagt, weil er ihn mit der Peitsche gehauen hat; da werden ihm vielleicht einmal in seinem Leben die Ohren gestutzt!«

»Ei, er war diesen Morgen in einer Laune wie der Böse«, sagte Kitty. »Jedenfalls deswegen, was mit der Frau passirt ist. Wir werden ein hübsches Hausen mit ihm haben, wenn sie nicht zurückkommt. Es sollte mich nicht wundern, wenn er uns durchbläute – er muß jemand zum Mißhandeln haben, wenn er in der Wuth ist.«

»Ich würde dafür sorgen, daß er mich nicht durchbläute – nein, und wenn er zehnmal mein Mann wäre; ich würde ihn eher mit heißem Wasser überschütten. Aber die Frau hat keinen Muth wie ich. Sie wird wieder zu ihm kommen, Du wirst sehen; er wird sie irgendwie 'rumkriegen. Aber es ist doch nicht wahrscheinlich, daß sie heute Nacht zurückkommt; und so denk' ich, wir können die Thüren verriegeln und zu Bett gehen, wenn's uns beliebt.«

Am Sonntag Morgen aber wurde Kittys Gemüth durch bestimmtere und beunruhigendere Vermuthungen betreffs ihrer Herrin gestört. Während Betty, ermuthigt durch die Aussicht auf ungewohnte Muße, sich niedersetzte, um einen Brief fortzusetzen, der schon lange unbeendigt zwischen den Blättern ihrer Bibel lag, kam Kitty in die Küche gerannt und sagte:

»Du lieber Gott! Betty, ich zittere über und über; Du könntest mich mit einer Feder niederschlagen. Ich habe gerade in der Frau ihre Garderobe geschaut, und da sind ihre zwei Hüte. Sie muß ohne Hut gegangen sein. Und dann erinnere ich mich, daß gestern früh ihre Nachtkleider nicht auf dem Bett lagen. Ich dachte, sie hätte sie weggelegt zum Waschen: aber das hat sie nicht gethan, ich habe nachgesehen. Ich glaube bestimmt, er hat sie umgebracht und in den Schrank gesperrt, den er immer verschließt. Er ist dazu im Stande.«

»Jesus Christus; lauf nur geschwind zu Mrs. Raynor und schau nach, ob sie dort ist. Es war vielleicht alles erlogen.«

Mrs. Raynor war nach Hause zurückgekehrt, um ihrer kleinen Magd Anweisungen zu ertheilen, als Kitty mit jener künstlichen Manifestation von Alarm, in der sich Mägde gefallen, ohne anzuklopfen hereinstürzte und, die Hände aufs Herz pressend – als ob die Folgen für jenes Organ jedenfalls sehr ernst wären – sagte:

»Entschuldigen Sie, Madame, ist die Frau hier?«

»Nein, Kitty; warum fragen Sie danach?«

»Weil sie nicht mehr zu Hause gewesen ist seit gestern früh, ehe wir aufstanden; und wir dachten, es müsse ihr etwas passirt sein.«

»Nein, Kitty, ängstigen Sie sich nicht. Ihre Frau ist ganz wohl; ich weiß, wo sie ist. Ist Ihr Herr zu Hause?«

»Nein, Madame; er ging gestern früh fort und sagte, er werde vor heute Nacht nicht zurückkommen,«

»Nun, Kitty, Ihrer Frau ist nichts zugestoßen. Sie brauchen Niemandem zu sagen, daß sie von zu Hause fort ist. Ich werde sogleich kommen und ihren Mantel und ihren Hut holen. Sie braucht sie zum Ankleiden.«

Kitty, die bemerkte, daß hier ein Geheimniß obwalte, nach dem sie nicht forschen sollte, kehrte nach der Gartenstraße zurück – wirklich froh, daß ihre Frau wohl sei, aber nichtsdestoweniger enttäuscht, weil man ihr sagte, daß sie sich nicht ängstigen solle. Bald darauf folgte ihr Mrs. Raynor, um Mantel und Hut zu holen. Die gute Mutter hatte, als sie erfuhr, daß Dempster nicht zu Hause sei, sogleich daran gedacht, daß sie jetzt Janets Wunsch, die Paddiforder Kirche zu besuchen, befriedigen könne.

»Sieh, meine Liebe,« sagte sie, als sie Mrs. Pettifers Besuchszimmer betrat; »da habe ich Dir Deine schwarzen Kleider geholt. Robert ist nicht zu Hause und wird vor Abend nicht kommen. Ich konnte Dein bestes schwarzes Kleid nicht finden, aber dies hier wird's auch thun. Ich würde nichts Anderes holen, weißt Du; aber es wird wohl nichts dagegen einzuwenden sein, daß ich Kleider hole, um Dich zu bekleiden. Du kannst jetzt die Paddiforder Kirche besuchen wenn Du Lust hast; und ich gehe mit Dir.«

»Du gute, liebe Mutter! Dann werden wir alle Drei mit einander gehen. Komm und hilf mir, mich fertig zu machen. Die gute kleine Mrs. Crewe! Es wird sie schwer kränken, daß ich Mr. Tryan höre. Aber ich werde sie küssen und sie wieder versöhnen.«

Viele Augen waren mit staunendem Blick auf Janet gerichtet, als sie das Schiff der Paddiforder Kirche entlang schritt. Sie zitterte ein wenig wegen des Aufsehens, das sie, wie sie wußte, erregte, aber es war ihr eine hohe Genugthuung, daß sie im Stande gewesen war, sogleich einen Schritt zu thun, der ihre Nachbarn ihren Gesinnungswechsel gegen Mr. Tryan erkennen lassen würde: sie hatte sich jetzt keinen Platz mehr gelassen für stolzes Widerstreben oder schwaches Zaudern. Der Gang durch die milde Frühlingsluft hatte alle ihre Hoffnungen, alle ihre sehnsüchtigen Wünsche nach Reinheit, Kraft und Frieden angeregt. Sie dachte, sie würde diesen Morgen eine neue Bedeutung in den Gebeten finden. Ihr volles Herz bedurfte, wie ein überfließender Bach, dieser fertigen Kanäle, um sich darein zu ergießen; und dann würde sie Mr. Tryan wieder hören, und seine Worte würden, wie in der vorigen Nacht, auf sie fallen wie köstlicher Balsam. Es lag ein feuchter Glanz in ihren Augen, wie sie auf den blanken Mauern, den Kirchenstühlen, den Webern und Kohlengräbern in ihren Sonntagskleidern ruhten. Die gewöhnlichsten Dinge schienen die Quelle der Liebe in ihr zu berühren, gerade wie unsere Herzen und Sinne, wenn wir plötzlich von einem brennenden, verzehrenden körperlichen Schmerz befreit werden, in neuer Freiheit emporhüpfen; wir halten sogar den Straßenlärm für harmonisch und sind bereit, den Geschäftsmann zu umarmen, der unsere kleine Münze einwickelt. Eine Thür war geöffnet worden in Janets kaltem, dunklem Gefängniß der Verzweiflung, und das goldene Morgenlicht ließ seine schrägen Strahlen durch die segensreiche Oeffnung strömen. Es gab Sonnenlicht in der Welt; es gab eine göttliche Liebe, die sich um sie kümmerte; sie hatte ihr einen Ernst zum Guten gegeben; sie hatte in demselben Augenblick Trost für sie bereit, in dem sie sich am meisten verlassen gefühlt hatte.

Mr. Tryan konnte sich wohl freuen, als sein Auge auf ihr ruhte, während er die Kanzel betrat; aber er freute sich mit Zittern. Er konnte nicht auf das milde, hoffnungsvolle Gesicht blicken, ohne sich an jenen gestrigen Blick voll Seelenqual zu erinnern; und es war die Möglichkeit vorhanden, daß jener Blick wiederkehrte.

Janets Erscheinen in der Kirche wurde nicht nur von staunenden Augen begrüßt, sondern auch von freundlichen Herzen; und nach dem Gottesdienst entschlossen sich verschiedene von Mr. Tryans Zuhörern, mit denen sie in letzter Zeit auf gespanntem Fuß gestanden, sich ihr zu nähern und ihr die Hand zu reichen.

»Mutter«, sagte Miß Linnet, »wir wollen hingehen und Mrs. Dempster anreden. Es ist gewiß eine große Veränderung in ihren Ansichten über Mr. Tryan vorgegangen. Ich bemerkte, wie andächtig sie der Predigt zuhörte, und sie ist mit Mrs. Pettifer gekommen, wie Du siehst. Wir sollten hingehen und sie unter uns willkommen heißen.«

»Ei, meine Liebe, wir haben seit fünf Jahren nicht mehr freundlich verkehrt. Du weißt, sie ist so hochmüthig wie etwas gewesen, seit ich mit ihrem Mann stritt. Indessen, das Vergangene sei vergangen: ich hege keinen Groll gegen das arme Ding, um so weniger, als Sie ihrem Manne getrotzt haben muß, indem sie kam, um Mr. Tryan zu hören. Ja, wir wollen hingehen und sie ansprechen.«

Die freundlichen Worte und Blicke bewegten Janet allzusehr, und Mrs. Pettifer drängte sie weislich auf dem nächsten, wenig benützten Wege nach Hause. Als sie Mrs. Pettifers Haus erreichten, zeigte ein heftiger Thränenanfall, gefolgt von fortdauernder Mattigkeit, daß die Aufregungen des Morgens ihre Nerven zu sehr angespannt hatten. Dazu litt sie auch unter dem Mangel des langgewohnten Reizmittels, das zu meiden sie Mr. Tryan versprochen hatte. Das arme Wesen war sich dessen bewußt und fürchtete sich vor der eigenen Schwachheit, wie das Opfer intermittirenden Wahnsinns das Herannahen des alten Wahns fürchtet.

»Mutter«, flüsterte sie, als Mrs. Raynor in sie drang, sich niederzulegen und den ganzen Nachmittag zu ruhen, damit sie desto besser vorbereitet sei, um mit Mr. Tryan zu sprechen – »Mutter, geben Sie mir nichts, wenn ich etwas verlange.«

Im Gemüthe der Mutter herrschte dieselbe Angst, und bei ihr war sie vermengt mit einer andern Furcht – der Furcht, daß Janet in ihrem gegenwärtigen erregten Seelenzustand irgend einen voreiligen Schritt (in Bezug auf ihren Gatten) thun möchte, der zurückführen könnte zu all den früheren Kümmernissen. Die Andeutung, die sie am Morgen hatte fallen lassen, von ihrem Wunsche, nach einiger Zeit zu ihm zurückzukehren, zeigte ein neues, heißes Verlangen nach schweren Pflichten, das der schon lange tiefernsten, besonnenen Mutter nur Zittern verursachte.

Als der Abend herannahte, verließ Janets Heldenmuth sie ganz: ihre Einbildungskraft, sowohl durch körperliche Schwäche, als durch seelische Zustände beeinflußt, wurde durch das Traumbild von ihres Gatten Rückkehr heimgesucht. Sie hörte, wie er sie rief; sie sah, wie er zu ihrer Mutter ging, um sie zu suchen; es schien ihr ganz sicher, daß er sie ausfindig machen und plötzlich vor ihr erscheinen würde.

»Bitte, bitte, verlassen Sie mich nicht, gehen Sie nicht zur Kirche«, sagte sie zu Mrs. Pettifer. »Bleiben Sie mit der Mutter bei mir, bis Mr. Tryan kommt.«

Zwanzig Minuten nach sechs Uhr läuteten die Glocken zum Abendgottesdienst, und bald strömte die Gemeinde die Gartenstraße entlang, während die Sonne prächtig unterging. Die Straße öffnete sich gegen Westen. Die rothe, halbgesunkene Sonne goß einen feiertägigen Glanz über die alltägigen Häuser und färbte die Fenster in Dempsters vorspringendem oberen Stockwerk goldigroth.

Plötzlich entstand ein lautes Gemurmel, das sich in dem Strom der Kirchgänger verbreitete, und eine Gruppe nach der andern blieb stehen und blickte rückwärts. An dem fernen Ende der Straße sieht man einige Männer, begleitet von einer gemischten Gruppe von Zuschauern, langsam etwas dahertragen – einen auf einer Thüre ausgestreckten Körper. Langsam schreiten sie mitten auf der Straße dahin, auf dem ganzen Wege von schauerergriffenen Gesichtern umgeben, bis sie sich seitwärts wenden und vor Dempsters Hause im rothen Sonnenlichte halten.

Es ist Dempsters Körper. Niemand weiß, ob er lebt oder todt ist.



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