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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Am nächsten Morgen war Janet um so viel ruhiger und sprach beim Frühstück so entschieden davon, zu ihrer Mutter zu gehen, daß Mrs. Pettifer und Mrs. Raynor darin übereinstimmten, daß es klug wäre, sie nach und nach wissen zu lassen, was ihren Mann betroffen hatte, da, sobald sie ausging, Gefahr vorhanden war, daß sie Jemanden begegne, der die Thatsache ihr verriethe. Aber Mrs. Raynor dachte, es wäre gut, erst in Dempsters Hause nachzufragen, wie er sich befinde, und so sagte sie dann zu Janet:

»Meine Liebe, ich will zuerst heimgehen und nach dem Rechten sehen und Dein Zimmer in Ordnung bringen. Du darfst noch nicht kommen, weißt Du. Ich werde etwa in einer Stunde wieder zurück sein, dann können wir mit einander gehen.«

»O nein,« sagte Mrs. Pettifer. »Bleiben Sie bis zum Abend bei mir. Ich werde ganz verlassen sein ohne Sie. Sie dürfen vor Abend nicht gehen.«

Janet hatte sich in das »Leben Henry Martyns« John Sargent: Memoir of the Rev. Henry Martyn B. D. Hatchard (1816). Henry Martyn (1781-1812) war ein anglikanischer Priester und Missionar in Britisch-Indien und Persien. Auf seiner Missionsreise wurde er von Fieber erfasst und musste sich in Tokat (Türkei) aufhalten, obwohl dort die Pest grassierte. 1812 starb er. Dieser Mut, diese Selbstlosigkeit und seine religiöse Leidenschaft machten ihn berühmt. – Anm.d.Hrsg. vertieft, das Mrs. Pettifer aus der Paddiforder Leihbibliothek entliehen hatte, und ihr Interesse wurde so sehr gefesselt durch jene pathetische Missionsgeschichte, daß sie sich gerne bei beiden Vorschlägen beruhigte; Mrs. Raynor entfernte sich.

Sie war mehr als eine Stunde fort, und es war nahezu zwölf Uhr, als Janet ihr Buch weglegte; und nachdem sie einige Minuten, die Augen unbewußt auf die gegenüberstehende Wand gefesselt, nachdenklich dagesessen, stand sie auf, ging in ihr Schlafzimmer, nahm hastig Hut und Mantel und kam herab zu Mrs. Pettifer, die in der Küche beschäftigt war.

»Mrs. Pettifer,« sprach sie, »sagen Sie der Mutter, wenn sie zurückkommt, ich sei gegangen, um zu sehen, was aus jenen armen Lakins in der Metzgergasse geworden ist. Ich weiß, sie verhungern halb, und ich habe sie in letzter Zeit so vernachlässigt. Und dann, meine ich, will ich auch gleich zu Mrs. Crewe gehen. Ich muß die liebe kleine Frau sehen und ihr selbst erklären, weshalb ich Mr. Tryan gehört habe. Es wird sie bei weitem nicht so schmerzen, wenn ich ihr's selbst sage.«

»Wollen Sie nicht warten, bis Ihre Mutter kommt, oder es bis morgen aufschieben?« sagte Mrs. Pettifer bestürzt. »Sie werden kaum zeitig genug zum Diner zurück sein, wenn Sie mit Mrs. Crewe in's Plaudern kommen. Und dann müssen Sie an Ihrem Hause vorbei, wissen Sie; und Sie fürchteten sich gestern so, ihn zu sehen.«

»O, Robert wird jetzt auf seinem Bureau sein, wenn er nicht auswärts ist. Ich muß gehen – ich fühle, ich muß etwas für Jemanden thun – darf nicht länger ein bloßer, nutzloser Klotz sein. Ich habe eben von jenem wunderbaren Henry Martyn gelesen; er war gerade wie Mr. Tryan – opferte sich auf für andere Leute, und ich sitze da und denke nur an mich. Ich muß gehen. Adieu; ich werde bald wieder da sein.«

Sie lief fort, ehe Mrs. Pettifer ein weiteres Wort des Abrathens äußern konnte, die gute Frau in großer Angst darüber zurücklassend, daß dieser neue Impuls Janets alle Vorsichtsmaßregeln, die man getroffen, um sie vor einer plötzlichen Erschütterung zu bewahren, vereiteln möchte.

Nachdem Janet ihren Besuch in der Metzgergasse gemacht, bog sie wieder in die Gartenstraße ein, den Weg zu Mr. Crewe, und dachte ziemlich traurig, daß ihrer Mutter ökonomische Haushaltung keinen großen Ueberschuß lassen werde, den sie den hungrigen Lakins senden könne, als sie Mr. Pilgrim auf der andern Seite der Straße daherkommen sah. Er ging sehr rasch, und als er Dempsters Thür erreicht hatte, betrat er, ohne anzuklopfen, das Haus.

Janet fuhr zusammen. Mr. Pilgrim würde nie in dieser Weise eingetreten sein, wenn nicht Jemand im Hause sehr krank wäre. Es war ihr Gemahl; davon war sie augenblicklich überzeugt. Es war ihm etwas zugestoßen. Ohne einen Augenblick zu zögern, lief sie über die Straße, öffnete die Thüre und trat ein. Es war Niemand im Gang. Die Thüre des Speisesaals war weit offen – Niemand war darin. Mr. Pilgrim war also schon die Stiege hinaufgegangen. Sie eilte sogleich nach Dempsters Zimmer – nach ihrem eigenen Zimmer. Die Thüre war offen, und sie hielt an, in bleichem Schreck über den Anblick, der sich ihr bot und der mit um so erschreckenderer Deutlichkeit hervorzutreten schien, weil das Mittagssonnenlicht im Zimmer zum Zwielicht gedämpft war.

Zwei starke Wärter brauchten ihre äußerste Kraft, um Dempster im Bett zu halten, während der Heilgehilfe einen feuchten Schwamm auf dessen Kopf drückte und Mr. Pilgrim im Hintergrund mit dem Anordnen eines Apparats beschäftigt war. Dempsters Gesicht war feuerroth und aufgedunsen, seine Augen weit aufgerissen und mit Blicken grausigen Schrecks auf etwas geheftet, das er von dem eisernen Schrank auf sich zukommen zu sehen schien. Er zitterte heftig und strengte sich an, als wolle er aus dem Bett springen.

»Laßt mich los, laßt mich los,« sagte er in lautem, heiserem Flüsterton; »sie kommt heran … sie ist kalt … sie ist todt … sie wird mich mit ihrem schwarzen Haar erdrosseln. Ah!« schrie er laut, »ihre Haare sind lauter Schlangen … es sind schwarze Schlangen … sie zischen … sie zischen … laßt mich los … sie will mich fortschleppen mit ihren kalten Armen … ihre Arme sind Schlangen … es sind große weiße Schlangen … sie wollen mich umschlingen … sie wollen mich in das kalte Wasser zerren … ihr Busen ist kalt … schwarz … lauter Schlangen.«

»Nein, Robert,« rief Janet im Tone herzlichsten Mitleids, an die Seite des Bettes eilend und ihm die Arme entgegenstreckend, »nein, hier ist Janet. Sie ist nicht todt – sie vergibt Dir.«

Dempsters wahnwitzige Sinne schienen von ihrer Erscheinung einen neuen Eindruck zu empfangen. Der Schreck machte der Wuth Platz.

»Ha! Du kriechende Heuchlerin!« brach er in knarrender Stimme aus, »Du drohst mir … Du glaubst Dich wohl an mir rächen zu können, he? Thue Dein Schlimmstes! Ich habe das Gesetz auf meiner Seite … ich kenne das Gesetz … ich werde Dich abhetzen wie einen Hasen … beweise es … beweise, daß ich bestochen wurde … beweise, daß ich das Geld nahm … beweise es … beweise es … Du kannst nichts beweisen, Du verdammte psalmensingende Made! Ich werde ein Feuer unter Euch aufmachen, und das ganze Pack ausräuchern … ich werde Euch wegfegen … ich werde Euch zu Pulver zerreiben … zu feinem Pulver … (hier sank seine Stimme zu einem leisen Tone schaudernden Ekels) … Pulver auf den Bettdecken … läuft umher … schwarze Läuse … sie kommen in Schwärmen … Janet! komm und thu sie weg … verflucht! warum kommst Du nicht? Janet!«

Die arme Janet kniete neben dem Bett nieder, das Gesicht in den Händen vergrabend. Sie wünschte lieber ihre schlimmsten Stunden wieder zurück als dies. Es schien, als ob ihr Gatte bereits im Unglück gefesselt sei und sie könnte ihn nicht erreichen – sein Ohr für immer taub für die Töne der Liebe und Vergebung. Seine Sünden hatten eine harte Kruste um seine Seele gebildet, ihre erbarmende Stimme konnte dieselbe nicht durchdringen.

»Sie ist nicht da, nicht?« fuhr er in trotzigem Tone fort. »Warum fragt Ihr mich, wo sie ist? Ich werde Euch jeden Tropfen gelben Bluts aus den Adern nehmen, wenn Ihr mich ausfragt. Euer Blut ist gelb … in Eurer Börse … läuft aus Eurer Börse … Was! Ihr wechselt es in Kröten um, he? Sie krabbeln umher … sie fliegen … sie fliegen

mir um den Kopf … Die Kröten fliegen herum. Hausknecht! Hausknecht! bring mein Gig heraus … bring's heraus, Du faule Bestie … he! Du willst mich verfolgen, willst Du? … Du willst mir um den Kopf fliegen? … Du hast feurige Zungen … Hausknecht! Verfluchter Kerl, warum kommst Du nicht? … Janet! komm und schaffe die Kröten weg … Janet!«

Dieses letzte Mal äußerte er ihren Namen mit einem so entsetzten Schrei, daß Janet unwillkürlich von den Knieen aufsprang und wie versteinert von der schrecklichen Vibration dastand. Dempster starrte in finsterem Schweigen einige Minuten wild vor sich hin; dann sprach er wieder in einem heiseren Wispern: –

»Todt … ist sie todt? Dann that sie's. Sie begrub sich in der eisernen Kiste … doch sie ließ ihre Kleider draußen … sie ist nicht todt … warum gebt Ihr vor, sie sei todt? … sie kommt … sie kommt aus der eisernen Kiste … da sind die schwarzen Schlangen … haltet sie … laßt mich los … haltet sie … sie will mich fortschleppen in das kalte schwarze Wasser … ihr Busen ist schwarz … lauter Schlangen … sie werden länger …. die großen weißen Schlangen werden länger …«

Hier kam Mr. Pilgrim mit seinem Apparat vorwärts, um ihn zu verbinden, aber Dempsters Ringen wurde immer heftiger, »Hausknecht! Hausknecht!« rief er, »bring das Gig heraus … gib mir die Peitsche!« und sich aus den starken Armen, die ihn hielten, loswindend, begann er mit dem rechten Arm wüthend auf den Bettdecken herumzupeitschen.

»Vorwärts, Du lahmes Vieh! ss – ss – ss! So ist's recht! jetzt geht's! Sie denken, sie haben mich überlistet, he? Die schleichenden Dummköpfe! Ich werde sie schon kriegen. Ich will ihnen das Vaterunser rückwärts lehren … Ich will sie pfeffern, daß der Teufel sie roh essen soll – ss- ss – ss … wir wollen erst noch sehen, wer gewinnt … vorwärts, Du verdammtes lahmes Vieh … ich will Dir den Rücken bloßlegen … ich will …«

Er erhob sich mit einer riesigen Anstrengung, um seine Bettdecken herumzuschleudern und fiel in Krämpfen zurück. Janet schrie laut auf und sank wieder auf die Kniee. Sie dachte, er wäre todt.

Sobald ihr Mr. Pilgrim einige Aufmerksamkeit zu schenken im stande war, ging er auf sie zu und versuchte, sie am Arm nehmend sanft aus dem Zimmer zu führen.

»Meine liebe Mrs. Dempster, lassen Sie sich überreden, jetzt nicht im Zimmer zu bleiben. Wir werden diesen Symptomen bald abhelfen, hoffe ich; es ist nur das Delirium, das solche Fälle gewöhnlich begleitet.«

»O, was ist es denn? Wodurch wurde das herbeigeführt?«

»Er fiel aus dem Gig; das rechte Bein ist gebrochen. Es ist ein schrecklicher Unfall, und ich verberge Ihnen nicht, daß infolge des Gehirnzustandes beträchtliche Gefahr vorhanden ist. Aber Mr. Dempster hat eine kräftige Constitution, wie Sie wissen: in einigen Tagen können diese Symptome gehoben sein und es kann ihm ganz gut gehen. Bitte, halten Sie sich jetzt von dem Zimmer fern: Sie können hier nichts nützen, bis Mr. Dempster besser ist »… es … besser geht«. – D. Hrsg. und Sie erkennen kann. Aber Sie sollten nicht allein sein, ich würde Ihnen rathen, Mrs Raynor zu sich kommen zu lassen.«

»Ja, ich will nach der Mutter senden. Aber Sie dürfen sich meiner Anwesenheit im Zimmer nicht widersetzen. Ich werde jetzt ganz ruhig sein, nur die erste Erschütterung war so stark; ich wußte nichts davon. Ich kann den Wärtern viel helfen; ich kann ihm kalte Umschläge machen. Er kann vielleicht für einen Augenblick zu sich kommen und mich erkennen. Bitte, sagen Sie mir nichts mehr dagegen; ich habe mein Herz daran gehängt, bei ihm zu bleiben.«

Mr. Pilgrim gab nach und Janet kehrte – nachdem sie zu ihrer Mutter gesandt und Hut und Shawl abgelegt hatte – zurück, um ihren Platz neben ihres Mannes Bett einzunehmen



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