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WilkinusNach Müllenhoff ist Wilkinus aus Wilkinaland entstanden, Wilkinaland aber aus Wikingoland. hiess ein König; durch Tapferkeit und Siegesglück gewann er Macht und Herrschaft über Wilkinenland (d. i. Skandinavien). Niemals ruhte sein Schwert lange. So rüstete er wieder einmal ein Heer und fuhr ins Ostreich, wo König Hertnit über Russenland und viele andre Reiche und bis ostwärts ans Meer hin herrschte; schier das ganze Ostreich war ihm und seinem Bruder Hirdir unterworfen.
Hertnit zog Wilkinus entgegen; sie bekämpften einander in vielen Schlachten, und Wilkinus blieb stets Sieger. Er nahm eine Burg nach der andern und zog auf Holmgard, Hertnits Königsburg. Gewaltiger Kampf wurde da gestritten, ehe Hirdir tot lag mit seinen Scharen, und Hertnit in die Flucht stob. Wilkinus nahm Holmgard und erbeutete so viel des Goldes und der Schätze wie nie zuvor.
Bald darauf verglich er sich mit Hertnit; der empfing sein Reich zurück, musste aber Wilkinus Schatzung zahlen von allen Landen, über die er herrschte, solange sie beide lebten.
Wilkinus gedachte nun heimzukehren; und als er über die Ostsee segelte, geschah’s, dass seine Drachen wegen ungünstigen Fahrwindes vor Anker gehen mussten. Der König stieg ans Land und schritt allein in einen nahen Wald. Dort fand er eine wunderschöne Frau. Er schlang seine Hände um ihren Hals, küsste sie und vermählte sich ihr. Das war aber Wachhild, eine Haffrau. Des Königs Mannen vermissten ihren Herrn und suchten ihn; da kam er ihnen aus dem Wald entgegen. Der Wind war günstig; sie lichteten die Anker und segelten hinaus.
Als sie weit ins Meer gekommen, tauchte neben des Königs Schiff ein Weib empor, griff ins Steuerruder und hielt es fest; das Schiff stand. Der König sah das Meerweib und erkannte es als die Frau, die er im Wald gefunden hatte. "Lass mich meines Weges fahren," sprach er, "und willst du etwas von mir, so komm in meine Königsburg; dort werd’ ich dich willkommen heissen." Und nun liess das Weib das Steuer fahren und versank. Der König aber fuhr heim.
Nach einem Halbjahr kam eine Frau in des Königs Hof und sagte, dass die Mutter seines Kindes sei. Wilkinus erkannte die Seefrau und liess die in eines seiner Häuser führen. Bald darauf gebar sie einen Knaben, den nannte der König WadiWadi, ursprünglich ein mythisches, dem Meer angehöriges Wesen; – in Sagen verflochten, als Wadi hier, als Wate in Kudrun.. Nun wollte die Meerminne nicht länger in der Halle bleiben und verschwand, und niemand weiss, wohin sie gekommen ist. Wadi wuchs auf und wurde gross wie ein Riese; er war verhaltenen, unheimlichen Wesens und allen verhasst. Auch sein Vater liebte ihn nicht viel, gab ihm aber zwölf Höfe in Seeland zu eigen.
Wilkinus hatte noch einen Sohn, der hiess Nordian; er war gross, schön und stark, aber hart, grimm und geizig und seines Vaters stolzer Ruhm folgte ihm nicht. Als Wilkinus siech von Alter geworden, gab er Reich und Krone Nordian und mahnte ihn, des Rates seiner treuen Freunde wohl zu achten. Dann starb er, und Nordian nahm die Gewalt über Wilkinenland.
"Wohl mir," sprach König Hertnit zu seinen Mannen, "dass ich auf meinem Hochsitz den Tag erlebe, der mir die Kunde von Wilkinus’ Tod bringt. Nun zahl’ ich keine Schatzung mehr und lebte ich noch drei Menschenalter. Das Joch ist von unserm Nacken genommen, das der starke König uns aufgelegt hatte. Höret, all meine Getreuen; Jedermann in meinem Reiche, der Ross reiten, Schild tragen, Schwert schwingen kann und zu streiten wagt, der rüste sich und komme zu mir; wir wollen unsre Schmach rächen an den Wilkinen. Unsre Eide haben wir gehalten; aber der Friede zwischen Wilkinen und Russen ist zerrissen mit Wilkinus’ Tod."
Bald hatte Hertnit seine Schar gerüstet und ritt von Holmgard aus nordwärts nach Wilkinenland; unterwegs stiess ein unbezwingbares Heer zu ihm; mit diesem zog er verwüstend durch Nordians Marken; – Männer wurden erschlagen, Frauen davongeführt, die Siedelungen verbrannt, Habe und Gold geraubt – und er fuhr, bis er König Nordian mit seinem Heere traf. Eine blutige Schlacht wurde geschlagen. Nordian hatte nur geringe Scharen; viele seiner Edelinge und mächtigsten Grafen waren ihm nicht gefolgt, weil er übermässig karg war. Er wurde geschlagen und musste fliehen. Drei Tage verfolgte ihn Hertnit. Da erkannte Nordian, dass ihm sein gespartes Gold daheim wenig nützte; er musste aus seinem Reich flüchten oder sieglos fallen. Er entschloss sich aber, Frieden zu suchen und ging zu Hertnit, fiel ihm zu Füssen und ergab sich mit allen seinen Mannen, die noch übrig geblieben waren, des Königs Gnade.
Hertnit antwortete: "Dein mächtiger Vater gewährte mir Frieden, als ich in seine Gewalt kam; das will ich nun an dir vergelten; Frieden sollst du haben. Dein Reich beuge sich mir zu Gehorsam und Schatzung, du aber sollst eiden, Treu’ und Frieden zu halten."
Nordian leistete den Schwur; König Hertnit unterwarf sich ganz Wilkinenland und setzte Nordian über Seeland. Und hatte Nordian nun nichts mehr von seinem ganzen grossen Reiche und all seinem gesparten Geld.
Als König Hertnit alt und lebensmüde ward, rief er seine Söhne zu sich; Oserich, dem ältesten, gab er das Königreich der Wilkinen, und Nordian blieb dort Unterkönig. Waldemar, den zweiten, machte er zum König über Russenland und die ganze Osthälfte seines Reiches. Ilias, seinen dritten Sohn, von einer andern Frau, ernannte er zum Grafen über GrekalandGraecus bei Adam von Bremen Gesamtname für Slaven; also ein Slavenland; an Griechenland ist dabei ursprünglich nicht gedacht, s. Müllenhoff, Haupts Zeitschrift 10, 166.. Das war ein gewaltiger Kämpe und grosser Kriegsmann. Kurz darauf starb Hertnit.
Nordian auf Seeland hatte vier Söhne: Edgeir, Abentrod, Widolf mit der Stange und Aspilian. Sie waren Riesen an Kraft, Wuchs und Wesensart. Oserich setzte Aspilian nach Nordians Tode zum König in dessen Reich ein. Widolf war allein so stark wie zwei seiner Brüder, deren Haupt nur bis an seine Achsel reichte. Dazu war er so böse, sobald er in Zorn geriet, dass er nichts verschonte. Darum ging er auf Oserichs Befehl in Eisenketten; Edgeir und Abentrod mussten die Ketten tragen; nur wenn er zum Streit ging, sollten sie ihn frei lassen. Dann führte er eine lange Eisenstange; daher hiess er Widolf mit der Stange. Edgeir trug eine eiserne Barte als Waffe, die konnten zwölf Männer nicht aufheben. Und diese drei Riesen waren König Oserich untertan und gingen in seinem Gefolge.
In reichem Lande herrschte damals der hochmütige Milias, seine Tochter Oda war die schönste aller Frauen. Könige, Heerführer und Grafen hatten um sie geworben; Milias aber liebte Oda so sehr, dass er sie keinem Manne geben wollte. Da hörte Oserich von dem Königskind und sandte sechs seiner Gefolgen wohl ausgerüstet zu König Milias mit einem Brief: "Oserich, König der Wilkinen, sendet Gruss Milias, König der Hunen, dem mächtigen, langbärtigen. Ich hörte deiner Tochter Schönheit rühmen und werbe um sie, mir zur Ehefrau. Sende mir Oda und reiches Gut und Gefolge, wie deiner Tochter und meiner Ehefrau geziemend ist. Dagegen gelobe ich dir meine Freundschaft. Weisest du aber meine Werbung ab, oder tust du Unehre meiner Botschaft an, so werden unsre Heere die Sache ausfechten." Als Milias den Brief aus der Sendboten Hand empfing und vorlesen hörte, antwortete er: "Mächtigere Könige als der eure haben um die Hand meiner Tochter geworben mit Höflichkeit und Anstand; und dennoch hab’ ich ihnen die Schwägerschaft versagt. Der Wilkinenkönig ist übermütig! Durch Kriegsdrohung will er meine Schwägerschaft erzwingen; das mag er erproben."
Die sechs Edelinge liess er in den Kerker werfen, dort sollten sie ihren Herrn erwarten. Bald erfuhr davon Oserich; er berief seine Treuen und befragte sie um ihren Rat. Ein weiser Mann riet, noch einmal zu werben mit höflichen Worten und reichen Gaben und die edelsten Männer mit dieser Botschaft zu betrauen: "Will König Milias auf deine Bitten nicht hören, weist er deine Geschenke zurück, dann erst drohe – und trotziger als zuvor – mit Krieg und Feindschaft."
Nun waren in jener Zeit Ilias’ Söhne Hertnit und Hirdir an Oserichs Hof gekommen. Hirdir zählte zehn, Hertnit zwölf Winter, und er war der Kühnste und Schönste unter allen Edelingen. Der König machte ihn zum Grafen, setzte ihn zum Führer seines Gefolges und gab ihm Lehen in Wilkinenland. Ihn erlas Oserich zum Boten ins Hunenreich und befahl ihm, zuerst mit Schmeichelworten und reichen Geschenken um Oda zu werben. Helfe das nicht, dann solle er des Königs Fehdebrief überreichen. Hertnit war dazu gern bereit. Seine Fahrt ward aufs prächtigste ausgerüstet; elf der vornehmsten Degen begleiteten ihn, beladen mit Gold und Kleinodien. Bald stand er vor König Milias und brachte in langer, höflicher Rede die Werbung vor; der König nahm sie verdriesslich auf. Und als Hertnit seines Herrn Geschenke darbieten liess – Purpur, feine Leinwand, zwei goldene Tischbecher, ein Zelt aus goldumsäumter Seide –, antwortete er: "Um Geld und Gaben erkauft ihr meine Tochter nicht; eine Dienstmagd will ich euch dafür geben." – Nun überreichte Hertnit Oserichs Brief. Als aber der König den gelesen hatte, sprach er zornig: "Hochmütig ist Oserich, da er wähnt, meine Tochter und meine Freundschaft durch übermütige Reden oder Drohungen zu erlangen. Sechs seiner Boten schmachten deshalb schon im Kerker; werft nun auch sein Bruderskind samt dessen Gefährten hinein."
Und so geschah’s.
Weit durchs Land flog bald die Kunde, dass Hertnit im Kerker liege, flog bis zu König Oserich. Da schickte er den in Blut getauchten Pfeil durch sein ganzes Reich und entbot jeden Mann, der Schwert schwingen, Schild tragen oder Bogen spannen konnte. Zehntausend Reiter und dreitausend Fussmannen scharten sich zusammen, unter ihnen auch Aspilian und seine Brüder.
Als der König mit diesem Heere in Milias’ Land kam, nannte er sich Dietrich. Friedlich fuhr er, tat niemand ein Leides an; überall bot man den Heerleuten zum Kaufe, was sie bedurften. So kamen sie vor die Hauptburg und trafen König Milias von grosser Volksmenge umgeben. Oserich bat um Einlass in die Königsstadt, der wurde ihm gewährt. "Heil dir und deinen Mannen!" grüsste er gütig Milias auf dem Hochsitz; Oda sass ihm zur Seite. "Heil dir, wer bist du und was willst du von mir?"
"Dietrich heiss’ ich und war Herzog in Wilkinenland; aber Oserich hat mich vertrieben; nun will ich dir meine Dienste anbieten."
"Guter Held, du scheinst mir ein tüchtiger Mann; fahre heim, versöhne dich mit deinem Herrn; ihm hast du zu dienen."
Bittend umfasste Oserich des Königs Knie, der aber fuhr fort: "Ein grosses Heer hast du in mein Land geführt; würdest du nun mein Mann und wir gerieten einmal in Streit, fielen eher alle meine Mannen, bevor ich euch bezwänge." Darauf sprach Oda: "Warum willst du mich nicht dem König Oserich zum Weibe geben, der so mächtig ist, dass er solchen Häuptling vertreiben konnte? Und mich dünkt; schon dieser hier gewänn’ all dein Land mit dem Schwert, wollte er Kampf anheben." Doch Milias mochte weder den immer noch vor ihm Knienden aufheben, noch ihn zum Mann annehmen. Das hörten draussen vor der Halle die Riesen; Widolf ward zornig und wollte Milias erschlagen; mit Gewalt hielten ihn seine Brüder zurück; da stampfte er mit den Füssen bis an die Knöchel in die Erde und rief: "Herr, weshalb liegst du zu Füssen dem König Milias? Viel edler bist du als er; brechen wir seine Burg nieder, fahren wir mit Feuer und Schwert über sein Reich, nimm du seine Tochter und habe sie als Magd." Oserich merkte, dass Widolf in Zorn geriet und sandte einen Diener zu seinen Brüdern; sie sollten ihn mit Ketten an die Burgmauer binden. Und noch einmal umfasste er des Königs Knie und bat: "Gewähre Frieden mir und meinen Mannen hier im Land um deiner Ehre und Königswürde willen; heim kann ich nicht ziehen; denn Oserich bedroht mich mit dem Galgen."
"Steh’ auf, Mann! Geh’ hinweg und fahre friedlich aus meinem Reich. Diese Stadt ist voll von deinen Kriegern; ich will kein ausländisch Heer in meinem Land haben. Tust du aber das nicht, dann lass’ ich meine Hörner gellen; meine Helden werden sich wappnen und mit Gewalt treib’ ich euch aus der Burg."
Dies Wort hatte der Riese Aspilian vernommen; nun ward auch er zornig; er ging hinein in die Halle, hub die Faust und schlug König Milias wider das Haupt, ohnmächtig stürzte der nieder. Auf sprang da Oserich und schwang sein Schwert und mit ihm alle Wilkinen, die in der Halle waren. Die draussen standen, hörten den Waffenlärm und hieben sich zu ihnen hinein. Widolf aber brach alle Bande, die ihn gebunden hielten, ergriff seine Eisenstange und lief in der Burg umher und erschlug Männer, Frauen, Kinder, Vieh und alles, was ihm Lebendiges vorkam; laut rief er dazu: "Wo bist du, jung Hertnit? Sei heiter und fröhlich, ich komme und befreie dich." Jung Hertnit hörte auch bald im Kerker des Riesen Rufen; da wurden die Gefangenen frohgemut und fingen an, sich zu befreien. Dem Stärksten unter ihnen gelang es, das Gefängnis aufzubrechen; sie liefen heraus, dem Rufe Widolfs nach und kamen zu ihren Landsmännern. Die Wilkinen erschlugen oder überwältigten alle Burgmänner, König Milias rettete sich durch die Flucht. Oda ward ergriffen und vor König Oserich geführt.
"Ich will dich," sprach er, "zu meinem Herrn führen und mir Frieden und Freundschaft durch dich erkaufen." "Herr," antwortete Oda, "nun ist es dahin gekommen, dass du über mich schalten kannst, wie dir’s beliebt."
Oserich nahm einen zierlichen Schuh, aus Silber geschlagen, kniete nieder vor dem Königskind, setzte ihren Fuss auf sein Knie und zog ihr den Schuh an; er passte, als wär’ er für sie gemacht. Nun zog er ihn wieder ab und passte einen goldnen Schuh an denselben Fuss, und der sass noch besser. "Ihr guten Götter," seufzte Oda, "könnt’ ich den Tag erleben, dass ich so meinen Fuss auf König Oserich Hochsitz ruhen dürfte!" Da lachte der König: "Der Tag ist heut! Dein Fuss steht in König Oserichs Schoss." Nun erkannte Oda, das der König selber vor ihr kniete; froh und freundlich begrüsste sie ihn. Er nahm das Königskind und zog heim mit seinem Heer. Dann sandte er Boten aus, König Milias zu versöhnen; ihm blieb sein Reich und Oda ward des Oserich Ehefrau; und ihre Ehe ward überglücklich.
Als König Milias alt wurde, brach der kriegerische Fürst der Heunen, Etzel, unablässig in sein Land; darüber starb König Milias; nach blutigen Kämpfen unterwarf nun Etzel sich auch dieses Reich. Seinen Sitz schlug er in Susa auf. Von dort entsandte er den Markgrafen Rüdiger von Bechelaren ins Wilkinenland, für ihn um Helche zu werben. Sie war die Tochter von Oserich und Oda, wegen ihrer Schönheit und edlen Sitten hochgepriesen; nicht Geringeres rühmte man von Bertha, ihrer jüngern Schwester. König Oserich nahm den Markgrafen wohl auf, nicht so seine Botschaft. "Allzu kühn, dünkt mich, ist Etzel," antwortete er: "um meine Tochter wagt er zu werben, nachdem er mit Heerfahrt das Land in Besitz nahm, das mir zukommt. Und das allein noch brachte ihm Ruhm; denn geringem Geschlecht entstammt er. Zieh’ heim, Etzel hat keine Hoffnung, dass ich ihm Helche gebe."
"Herr," warnte der Markgraf, "Etzel ist ein gewaltiger Kriegsmann; gibst du ihm deine Tochter nicht, so wird er dein Land verheeren."
Laut lachte Oserich: "Du bist ein guter Mann, Rüdiger! Dein König Etzel komme so schnell als möglich mit seinem Heer! Wir Wilkinen haben scharfe Schwerter, harte Brünnen und gute Rosse, auch sind wir nicht träge, uns zu schlagen." – Mit dieser Antwort musste der Markgraf zurückreiten nach Susa. König Etzel sammelte seine Kriegsmannen und griff die Wilkinen an. Oserich war ihm entgegengezogen mit grosser Übermacht, und nach kleinen Scharmützeln, in welchen die Wilkinen durch des Markgrafen kühne Tapferkeit fünfhundert Ritter verloren, kehrten beide Könige wieder in ihre Burgen zurück. Da trat einmal Rüdiger vor König Etzel und sprach: "Herr, gib mir dreihundert Ritter zu einer Fahrt und des Geldes, soviel ich dazu bedarf. Frage nicht, wohin und warum ich reiten will; kehr’ ich aber nach drei Wintern nicht zurück, dann bin ich tot." Rüdiger war ein so getreuer Mann, dass der König seine Bitte gewährte, ohne weiter zu forschen. Und der Markgraf ritt mit seinem Geleit aus Susa und wandte sich auf die Strasse nach Wilkinenland. Bald kamen sie an einen unbebauten Wald. "Keines Menschen Fährte ist hier in der Nähe" – sprach Rüdiger zu seinen Gefährten – "hier bleibt, bis ich zurückkomme. Nehmt dieses Gold und sendet Leute in die nächsten Siedelungen, euch alles zu kaufen, dessen ihr zum Leben bedürft. Kehr’ ich nach drei Wintern nicht wieder, dann reitet heim zu König Etzel und sagt ihm, dass ich tot bin." –
Er ritt allein weiter ins Wilkinenland, bis er an die Königsburg kam. Durch Verkleidung hatte er sein Aussehen völlig verändert; als ein alter, blöder Mann, mit langem Bart und breitem Hut trat er vor Oserich, umfasste seine Füsse und bat um Schutz. "Siegfried heiss’ ich und war ein Mann des Königs Milias; als aber Etzel sein Reich brach, wollten weder ich noch meine vier Brüder ihm dienen. Drei meiner Brüder erschlug er und mich machte er friedlos. Kleine Rache war’s, dass ich hundert seiner Krieger vor seinen Augen erschlug; – nun gib du mir Frieden und nimm meinen Dienst." So gelang es ihm, Oserich zu täuschen, der hiess ihn willkommen und behielt ihn an seinem Hof. Da geschah es, dass ein König Nordung kam und um Helche warb. Oserich wollte den Antrag annehmen, wenn es seiner Tochter Wille wäre. Er rief den Markgrafen und sagte: "Nun bist du zwei Winter hier; ich habe dich als einen weisen, treuen Mann erprobt; gehe zu meiner Tochter, trage ihr Nordungs Werbung vor und erforsche, ob sie gern einwilligt." Helche wohnte in einem besonderen Teil der Burg mit Bertha, ihrer Schwester, und dreissig Jungfrauen, und nie durfte dorthin zu ihnen ein Mann kommen. Rüdiger ging nun an das Tor und bat, dass man ihm aufschliesse. König Oserich und Nordung standen aber auf der Burgmauer und sahen alles. Als Helche hörte, dass ein Sendbote ihres Vaters gekommen war, liess sie ihn hereinführen und hiess ihn willkommen.
"Du musst ein weiser Mann sein," sagte sie dann: – "zweimal zwölf Monate bist du hier und forschtest nur nach Nützlichem; auch kamst du niemals hierher zu müssigem Gespräch."
"Frau, das geschieht nicht oft in unserm Land, dass ein Mann zu seiner Königin geht zum Gespräch, ausser der König erlaubt es; weil aber dein Vater mich zu dir sendet, so dürfen wir jetzt heimlich miteinander reden."
"Geh’ hinaus," sagte Helche zu ihrer Schwester, "und ihr Mädchen alle; wir wollen allein bleiben."
"Gehen wir lieber in den Garten," riet der Markgraf. "Dein Vater steht auf der Burgmauer und kann uns von dort sehen und dennoch wird niemand unser Gespräch hören."
"Fürwahr, du bist ein Mann von feinen Sitten und geschickten Gedanken," antwortete sie und bat ihre Schwester, zwei Polster unter den Lindenbaum in den Garten tragen zu lassen. Dort setzten sich die zwei unter den Baum, und die Könige Oserich und Nordung sahen sie von der Mauer her. Als die Mädchen sich entfernt hatten, hub der Markgraf an: "Jungfrau, nun sieh’ auf mich, wenn ich meinen Hut abnehme. Ich betrog Männer und Frauen, betrog Nordung und Oserich und habe dich betrogen, Königskind; ich bin nicht Siegfried, ich bin Rüdiger, König Etzels Markgraf. Für ihn werb’ ich um dich, nimm ihn zum Mann! Burgen und Kleinodien wird er dir geben, die edelsten Frauen werden dir dienen, mächtige Herzoge deine Schleppe tragen, du selbst aber sollst Königin sein zuhöchst über die Welt." Voll mutigen Zorns rief Helche Bertha herbei: "Höre, süsse Schwester, dieser ist nicht Siegfried, sondern Rüdiger, und er betrog uns alle! Markgraf, nun soll mein Vater an dir Rache nehmen, weil du ihm fünfhundert Ritter auf der Walstatt erschlugst."
"Tu’ lieber, was ich dir sage," entgegnete ruhig der Markgraf, "und werde Königin von Heunenland, jung Bertha aber werde meine Frau."
Bertha war herangetreten: "Du bist ein Königskind," sprach sie stolz zu ihrer Schwester, "und sollst den Mann nicht verderben, der vertrauend sich in deine Gewalt gab. Denke nun deines Wunsches, ‘dass ich doch Etzels Königin würde!’ Siehe! Die Götter haben deinen Wunsch erhört; folge dem Markgrafen und ich ziehe mit dir."
"Wohlan," sprach Helche, "du kühner Mann, ich will Etzels Königin werden und Bertha werde deine Frau; nimm diesen Goldring zum Pfande."
König Oserich und Nordung sahen, wie der Markgraf den Ring empfing und dachten, dass Helche Nordungs Werbung annehme. Der Markgraf aber ging zu ihnen und sagte: "Herr, deine Tochter will keinen Mann in den nächsten zwölf Monden; zum Pfand dafür gab sie mir diesen Ring." König Nordung war gern bereit, die Frist abzuwarten und ritt zurück in sein Reich. Oserich wollte dem Markgrafen nun Ritter und Burgen verleihen, wenn er sein Dienstmann würde. Doch Rüdiger bat um Urlaub, seinen Bruder zuvor zu holen: "Der soll dir dienen, er ist ein weit tapferer Mann als ich." Und weil Oserich beide Degen zu gewinnen hoffte, liess er Rüdiger ziehen. Der ritt aber zu jenem Wald zurück, wo seine Gefährten verweilten, holte Osid, den jungen Bruderssohn Etzels, und stellte ihn Oserich als seinen Bruder vor. Nach einigen Tagen war es ihnen gelungen, des Königs Töchter mit ihrem Plan vertraut zu machen. Am Abende, als alle in der Burg schliefen, gingen die kühnen Recken zu ihren Rossen und ritten an den Turm der Frauen; Helche und Bertha kamen ihnen unter dem Tor entgegen. Rasch schwangen die Männer die Jungfrauen auf ihre Rosse und ritten fort, so schnell ihre Renner nur liefen, Tag und Nacht. Als Oserich des Verrates gewahrte, liess er eine Schar rüsten und fuhr ihnen nach. Die Fliehenden erreichten bald die im Walde Verborgenen und zogen gemeinsam mit ihnen ins Heunenland. Aber so eilig folgten ihnen die Wilkinen, dass die Verfolgten nicht mehr entrinnen konnten; sie erreichten noch eine Burg im Falstrwald, ritten hinein und sperrten die Tore hinter sich zu. König Oserich lagerte sein Heer rings um die Burg und hielt alle darin eingeschlossen. Nur zwei Männer hatte der Markgraf gleich entsendet zu Etzel um Hilfe. Als diese nach Susa kamen und alles berichteten, liess Etzel sofort seine Hörner blasen, sammelte ein grosses Heer und zog mit ihm Tag und Nacht, bis er die Burg erreichte. Inzwischen hatten die Belagerten tapfer gekämpft und viele Wilkinen erschlagen; bald brachen sie aus, bald stritten sie von den Mauern herab. Oserich konnte die Burg nicht bezwingen und sobald er Etzels gewaltige Heerscharen kommen sah, brach er seine Zelte ab und kehrte, der Übermacht weichend, mit seinen Kriegern zurück nach Wilkinenland. Die Befreiten eilten nun aus der Burg ihrem König entgegen; der Markgraf Rüdiger übergab da seinem König Helche, das Königskind. Fröhlich zogen alle nach Susa; bald darauf liess Etzel ein prachtvolles Gastmahl veranstalten und vermählte sich Helche. Bertha gab er dem getreuen Markgrafen zur FrauIn andern Sagen heisst Rüdigers Frau Gotelind und ist mit Dietrich von Bern verwandt. und schenkte ihm Land und Burgen.