Felix Dahn und Therese Dahn
Walhall
Felix Dahn und Therese Dahn

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IX. Die Nornen.

Wir sahen: nicht die Götter, auch nicht der weitaus mächtigste und weiseste der Asen, auch Odin nicht, "machen" das Schicksal der Welt, der Götter und ihrer Feinde, der Riesen, der andern Mittelwesen und endlich der Menschen, sowie der unbewussten Naturwelt; sondern dies Schicksal steht über den Göttern und allen Riesen, unabänderlich verhängt, fest.

Es ist auch ungewiss, selbst Odin nicht in allen Dingen bekannt; durch Grübeln und durch Runen, durch Erforschung bald bei Riesen, bald bei Zwergen, bald bei Zauberweibern, die er auch wohl erst vom Tod erwecken muss und die alle auch nur einiges wissen, nicht alles, hat er seine Kenntnis zusammenzutragen, die von Allwissenheit weit entfernt bleibt. Auch die drei Schicksalsschwestern oder Nornen, in welchen das unpersönliche Schicksal alsbald personifiziert wird, machen das Schicksal keineswegs mit Absicht oder Bewusstsein; vielmehr sprechen sie es nur aus; sie spinnen und weben es, aber nicht so, wie sie wollen, sondern so, wie sie müssen.

Sie nähern sich also insofern den menschlichen weisen Frauen (oder Zauberinnen), als sie das Künftige kennen, erkunden und aussprechen, nicht aber es bewirken.

Dies ist wenigstens die vorherrschende Anschauung. Aber die Göttersage, wie sie im Volke lebt, ist nicht ein System – es ist ein Irrtum der Gelehrten, dies anzunehmen – und sie ist, schon vermöge der mannigfaltigen Geistes- und Seelenkräfte, welche sie herstellen, vermöge der verschiedenen Aufgaben, welche sie erfüllen soll, vermöge der frei schaltenden Einbildungskraft, welche sie weiter bildet, ohne dass die eine Sage auf eine andre Rücksicht nehmen müsste, wenn sie nicht will, von Widersprüchen durchaus nicht frei. Daher kommt es, dass Odin oder andre Götter, auch wohl die Walküren, gelegentlich doch so dargestellt werden, als ob ihr Wille, ihre Gunst oder Abgunst das Geschick der Menschen entscheide; daher betet man zu Odin und den andern Göttern, was sinnlos wäre, wenn sie gar nichts zu entscheiden hätten.

Die Vorstellung ist wohl die, dass das Gesamtgeschick der Welt, also auch der Götter, zwar feststeht (- insbesondere die unabwendbare Götterdämmerung –), dass aber innerhalb eines grossen, weiten Rahmens, welchen das Schicksal abgesteckt hat, Odin und die andern Götter Entscheidungen, zumal über den Gang der menschlichen Geschicke auf Erden, treffen mögen; – ganz ebenso wie bei Griechen und Italikern.

Bei solcher Auffassung wird es nun möglich, dass auch die Nornen das Geschick nicht lediglich aussprechen oder, ohne eignen Willen, spinnen und weben, sondern dass sie – innerhalb eines bestimmten, unüberschreitbaren Rahmens – selbsttätig Glück und Unglück bestimmen, ja auch Eigenschaften wie Schönheit, Hässlichkeit, Kraft, Schwäche, Mut, Feigheit, Weisheit, Torheit, Begabung, wie z. B. für Harfenspiel, für Skaldenkunst, für Rätselraten, für Rechtsprechung, dem MenschenDenn zunächst sind es die Menschen, deren Geschicke die Nornen spinnen oder legen, freilich auch die allgemeinen Weltgeschicke. bei der Geburt mitgeben; – ihm in die Wiege legenSo heisst es einmal; "Nacht nahte der Burg; da nahten auch Nornen, / Dem Edeling das Alter zu ordnen (d. h. dem Neugebornen die Geschicke seiner wechselnden Lebensalter festzustellen). / Sie gaben dem Knaben, der Kühnste zu werden, / An Achtung aller Edelinge Edelster. / Schicksalsschlingen schlangen sie. / –- / Festigten Fäden fernehin / Machtvoll mitten unter dem Monde. / Sie banden der Bänder beide Enden im West und im Ost. / In der Mitte lag das Land des Lieblings; / Aber ein Ende nach Nacht und Nord (dies ist Unheil bedeutend), / Schwang schweigend Nörwis Schwester; / Ewig, unalternd, gebot sie dem Band, / Zu haften und halten." (Frei nach Helgakwida, II, 1-4).", als "Angebinde", was ursprünglich ganz wörtlich zu nehmen war; die Freunde, Gäste, zumal aber die Paten, welche dem Kinde Namen gaben, waren mit dem Namengeben zugleich Geschenke in die Wiege zu stecken, oder an die Pfosten des Bettes der Mutter zu binden durch Recht und Sitte verpflichtet; auch etwa wann das Kind "den ersten Zahn bricht", haben ihm die Paten ein ",Zahngebinde", "Zahngeschenk" zu reichen. Bei der Dreizahl der NornenWenn manchmal mehr als drei Nornen angenommen werden, so ist dies im uneigentlichen Sinne zu verstehen; Zauberweiber, Weissagende, weise Frauen werden dann beigezählt. Da die Nornen Zeitgöttinnen sind, können mehr als drei im eigentlichen Sinne nicht vorkommen.: Urd (nordisch Urdhr), die Vergangenheit, Werdandi, die Gegenwart, Skuld, die Zukunft, – tiefsinniger kann man das ewige Schicksal, das unvergängliche, unabänderliche nicht zusammenschliessen – ergiebt sich nun der reizende Einfall als sehr nahe liegend, dass zwei der Gaben Verleihenden dem Kinde wohlgesinnt, günstige Spenden, Eigenschaften, Vorbestimmungen in die Wiege legen, die dritte aber aus irgend einem Grunde, z. B. wegen fahrlässiger Zurücksetzung, gereizt, feindlich gesinnt, nachteilige Gaben beifügt, etwa so, dass sie der vorhergehenden günstigen Fügung, welche sie nicht aufheben kann, einen ungünstigen Zusatz anhängt. Da ist es denn ein Glück, wenn die dritte, wohlwollende Schwester noch nicht gesprochen hat; denn nun kann sie das schädliche Geschenk der zweiten zwar nicht unmittelbar aufheben, aber durch weiteren Zusatz abschwächen oder – wenigstens unter einer Bedingung: z. B. der Erlösung, der Errettung aus dem von der zürnenden Patin verhängten Zauberschlaf – nachträglich wieder auflösen.

Als Nornagest geboren war, traten drei weissagende Frauen an seine Wiege; die ersten beiden sagten ihm Heil voraus; aber die jüngste – sie glaubte sich geringer geachtet – sprach drohend: "Haltet ein mit eurer Glück-Verheissung; denn ich lege ihm: er soll nicht länger leben, als hier dieser Span (oder diese Kerze) lodert, der neben der Wiege brennt." Rasch löschte die älteste Schwester den Span, überreichte ihn Nornagests Mutter und mahnte, des Spanes wohl zu achten. Erst am letzten Tage seines Lebens möge ihn Nornagest anzünden (d. h. also entweder, wann er lebensmüde geworden, oder an dem von den Nornen vorbestimmten Tage). Nornagest führte in seiner Harfe verborgen den Span mit sich; dreihundert Jahre lebte er und sah des Nordlands goldenste Tage; da endlich, lebenssatt, holt er den Span hervor, zündete ihn an und blickte ruhig in die verglimmende Flamme; mit ihr zugleich erlosch sein LebenÄhnlich die griechische Sage von Meleager..

In dem holden Märchen vom Dornröschen sind es dreizehn Feen, welche das Königspaar als Patinnen ladet. Aber nur zwölf goldene Teller hat die Königin, die dreizehnte erhält einen Silberteller (oder die dreizehnte wird deshalb gar nicht geladen). Nachdem nun elf der Feen dem Kinde je einen Wunsch gesprochen und je eine Gabe gewährt, – Schönheit, Tugend, Gesundheit – spricht plötzlich die dreizehnte, ergrimmt über die Zurücksetzung (und plötzlich in den Saal tretend): "Das wird ihr aber alles nicht viel helfen, oder doch nicht lange. Denn ich lege ihr, dass sie sich im fünfzehnten Jahre mit einer Spindel in den Finger sticht und tot hinfällt." "Aber ich," rief die zwölfte, die ihren Wunsch noch nicht vergabt hatte, "ich lege ihr, dass es nur ein dem Tode gleichender Schlaf sein soll, aus dem ein Königssohn durch seinen Kuss sie erlösen mag, der mutig durch das Dorngestrüppe dringt, mit welchem ich, nachdem sie und zugleich mit ihr alle lebenden Wesen in der Burg in Todesschlaf hingesunken, das ganze Schloss umgürten werde."

Aus dem weiteren Verlauf des altbekannten Märchens heben wir nur hervor, dass es die böse Fee, d. h. die grollende Norne selbst ist, welche im höchsten Turmzimmer, als alte Spinnerin verkleidet, dem Mädchen die tödliche Spindel in die Hand spielt, nachdem der König alle Spindeln aus dem Schlosse verbannt hatte. Tiefsinnig und zartsinnig hatte ursprünglich die Sage mit diesem Nornen-Spruch die Geschichte von Gerda und Freyr verknüpft. Dornröslein ist die Sommerwärme und die Sommerlust, welche durch Nornenspruch (d. h. Notwendigkeit) in Erstarrung versinken muss, in todesgleichen Schlaf und mit ihr alles Leben im Schloss, d. h. auf der Erde. Das Dorngestrüpp ist das Gedörnicht, welches den Scheiterhaufen der Toten umgibt, entsprechend der "wabernden Lohe" des Scheiterhaufens. Die Maid gilt als zu Hel hinabgesunken; aber wie Skirnir (oder Freyr) dringt der lichte Königssohn (des Himmelskönigs oder Sigurd), dringt der Sonnenjüngling, der Frühlingssonnenstrahl, sieghaft durch die Umhegung bis in den Schoss der Erde und eckt mit seinem warmen Liebeskuss die nur schlummernde Schöne zu neuem, seligem Leben.

Dieser Gedankenzusammenhang liegt nun sehr vielen Sagen zu Grunde; nachdem mit der Walhallreligion auch die Nornen vergessen waren, sind in gar zahlreichen Sagen, Märchen, Legenden, Schwänken an Stelle der altgermanischen Schicksalschwestern Feen (nach keltisch-romanischer Färbung) getreten und Geister jeder Art: Nixen, Elben, Zwerge und andre übermenschliche Wesen.

Nachdem wir dies vorausgeschickt, wird das Verständnis der ehrwürdigen, obzwar furchtbaren Schicksalspinnerinnen nicht schwierig, wird zumal der in ihrem Wesen und Wirken manchmal waltende Widerspruch voll begreiflich sein.

Mit zweifelhaftemAllerdings wird einmal eine Norne Nörwis Schwester genannt; Nörwi, der Vater der Nacht, ist der Sohn Lokis, also Bruder der Hel; und so wären die Nornen Schwestern der Hel, ja an jener Stelle wird die älteste Norne vielleicht als Hel selbst gedacht. Schwerer wiegt, dass man die Nornen in der Unterwelt hausend dachte. Recht hat man die Nornen ähnlich als Vervielfältigungen Hels aufgefasst, wie die Walküren (s. unten) ohne Zweifel Vervielfältigungen Freyas sind. Die drei Nornen sind göttlichen Abstammes, aber älter als die Asen; – wodurch wir abermals in eine Vorzeit versetzt werden, da noch die Riesen als Götter galten und die lichten Geistesgötter noch gar nicht vorhanden, d. h. in dem Bewusstsein des Volks noch gar nicht möglich und nötig waren. Älter als die Götter müssen sie sein, weil sie das Schicksal weben, das ewig ist, während die Götter in der Zeit entstanden. Die Nornen sind bei den Riesen aufgewachsen. Als die Götter mit den Nornen bekannt wurden, war die selige Unschuldszeit der Götter dahin; anders gewendet: erst als die Götter schuldig geworden, als um des Goldes (?) willen Untreue und Mord bei den Göttern vorkam, stellten sich die Nornen bei ihnen (warnend?) ein; im Unschuldsalter der Kindheit fehlt die Empfindung für den Lauf der Zeit, für Schicksal und Notwendigkeit.

Die älteste Norne, Urd, hat hervorragende Bedeutung; ihr Brunnen liegt an jener Wurzel der Weltesche, welche zu den Menschen hinab sich erstreckt (also oberhalb Midgards, was freilich zu Hel, dem Wohnort der Schwestern, übel passt!). An diesem Brunnen versammeln sich (wenigstens nach einer Überlieferung) die Götter, Gericht zu halten; nach andern Angaben muss man aber die Gerichtsstatt, das "Ding" der Asen, wohl nach Asgard verlegen.

Urd ist der Name für "Schicksal" überhaupt; "die Wurd", weiblich gedacht, heisst althochdeutsch "das Schicksal", angelsächsisch hat das Wort die Bedeutung "Zaubergeschick" angenommen; – so heissen die Hexen in "Macbeth" "weird-sisters", Zauber-, d. h. Schicksals-Schwestern. Diese Schicksalsgöttin scheint bei den Südgermanen für sich allein, ohne Beziehung auf ihre beiden Schwestern, eine wichtige Rolle gespielt zu haben.

In Süddeutschland und in den romanischen Ländern sind die drei Nornen zum Teil verschmolzen mit den tria fata (den trois féesVerdeutscht; "die Feinen"; so singt Gottfried von Strassburg; "Ich wähne, dass ihn Feinen / So wunderbar gesponnen / Und ihn in ihrem Bronnen / Geläutert und gereinet; / Er ist fürwahr gefeinet." – Dagegen "feien" (einen Menschen oder eine Waffe), geht auf Fei, Fee zurück.), den "Müttern" der keltisch-römischen Mythologie, welchen zahlreiche Inschriften, Altäre usw. in jenen Gegenden gewidmet waren.

Aber auch ohne solche Beimischung haben sich, insbesondere in den vom bajuvarischen Stamme besiedelten Landen (doch auch bei Alamannen im Elsass, in Schwaben, Baden, Württemberg), Bayern und Deutschösterreich, sehr zahlreiche und heute noch im Volke voll lebendige Sagen und Aberglauben erhalten, welche die "seligen (saligen) Fräulein", die "drei Schwestern", die "drei Fräulein" zum Gegenstande haben.

Sie hausen meist, wie die Nornen, am Brunnen, auch im Innern der Burg-BrunnenIn einem schönen deutschen Märchen ist die in der Burgcisterne hausende Brunnenfee die Freundin der Burgfrau. Da diese während der Geburt eines Töchterleins stirbt, steigt jene auf als Patin des Mädchens und legt diesem einen goldenen Apfel in die Wiege; in Gefahr oder falls sie Rates bedürfe, soll das Kind den Apfel in den tiefen Brunnen werfen, dann taucht sofort die Brunnenfee empor, bringt ihr den Apfel wieder und beschützt sie..

Oft ist die eine Schwester schwarz, die andre weiss, die dritte halb schwarz und halb weiss; und diese ist dann die böse, den Menschen feindliche, welche auch wohl die eine blinde Schwester bei Verteilung eines Hortes betrügt. Der Name "Hel" begegnet oft in den Bezeichnungen der Orte, wo die Schwestern hausen; auch wohl "Rach-hel", die rächende, strafende Hel. Statt der Fäden spinnen sie auch wohl Seile, ziehen diese weit übers Tal hoch durch die Luft, festigen sie an Gipfeln und Felsen hoher Berge, tanzen auf diesen Seilen oder hängen ihre Wäsche daran auf, was gut Wetter bedeutet. Aber sie hängen auch Menschen daran, sie strafend zu töten. Der Zug, dass zwei der Nornen übereinstimmend Gutes wollen und fügen, – sie sind: "Heil-Rätinnen", – die dritte aber eigensinnig und böswillig widerspricht, wiederholt sich sehr oft in den Sagen und Märchen von den drei Schwestern.

Dieselben werden auch häufig aufgefasst als Hüterinnen eines Hortes, der in dem Schosse der Erde in einem tiefen Berge liegt; und dadurch ergeben sich nun freilich Beziehungen zur Unterwelt, zu Hel. Ein Hahn kräht in ihren Burgbergen; – wie der Hahn im Saale Hels – ein Hund bewacht den Hort, wie den Eingang zu Hel und zu den Nornen – eine Schlange, ein Drache, ein WurmAuch wohl "knöcherne Pferdehäupter" finden sich, Grauen erregend, auf hohen Stangen dräuend aufgesteckt, neben dem Schatze. Hel reitet auf einer grauen, dreibeinigen, elenden Mähre, zur Zeit von Seuchen, um, und holt damit die schnellsten Reiter ein. – Man steckte die Häupter der den Göttern geopferten und bei dem Opferschmause verzehrten Pferde auf hohe Stangen, böse Geister zu verscheuchen, fern zu halten von den Wohnungen. Daher heute noch die aus Holz geschnitzten Pferdehäupter auf den Dächern der niederdeutschen, zumal westfälischen Bauernhäuser; dabei fühlte man sich unter dem Schutze der Götter, denen man eifrig geopfert hatte, und die durch die Pferdehäupter an die ihnen dargebrachten Opfer und an die dafür geschuldete Schutzpflicht gemahnt wurden. – Übrigens auch zu bösem Zauber errichtete man solche Neidstangen oder gab den "Drachen", d. h. Schiffen, vorn am Bugspriet, solche Schreckbilder, um die guten Geister und Schützer des Landes, die "Land-wättir", zu verscheuchen, was freilich bei schwerer Strafe verboten war (s. unten; Elben). hütet den Hort, wacht auf dem roten Golde des unterirdischen Schatzes. Dieser Schatz liegt nicht unbeweglich wie totes Geld; er hebt sich und senkt sich, "er blüht", spricht die Sage; an einem Tag in viel hundert Jahren wird er sich so gehoben haben, dass er offen zu Tage liegt und ein Sonntagskind oder ein andrer Auserwählter des Schicksals, der gewisse fast unmögliche oder doch nur in vielen Jahrtausenden einmal zutreffende Zufalls-Übereinstimmungen in seiner Person vereinigtZ. B. der zur Erlösung Berufene muss geboren sein Schlag Mitternacht oder Mittag zwölf Uhr eines bestimmten Sonntags, bei bestimmtem Nebeneinanderstehen gewisser Sterne; seine Wiege muss aus dem Holz eines wilden Kirschbaumes gewesen sein; der muss gewachsen sein auf dem höchsten Turm einer Burg, wohin ein Häher oder der Rabe Odins den Kern getragen hatte aus einem bestimmten Walde zu bestimmter Zeit. und der dann noch obenein als furchtloser Held (Siegfried) die Schrecknisse nicht scheut, welche den Hort umgeben (Wolf, Hund, Drache, grauenhafte Weiber), der mag den Hort heben. Damit ist dann zugleich erlöst die verzauberte Jungfrau, auf welcher der Fluch lastete, als Drache oder als dreibeiniges Pferd, oder als Kröte, oder als hässliche Alte so lange neben dem Schatz in der Unterwelt zu harren, bis der Auserkorene durch alle Schrecken zu ihr dringt, mutig sie küsst und so die Erlöste selbst und ihren Hort gewinnt.

Der Sinn ist wieder der gleiche wie bei Dornröslein und Gerda: der Schatz ist nicht tot, er lebt; d. h. es sind die Lebenskräfte der Erde, welche Getreide und alle Vegetation erzeugen, von höchstem Segensreichtum für den Menschen; aber vom Tode der Sommerwärme an gefesselt und gebunden in dem Schosse der Erde, in der Unterwelt, aus der nicht jeder nach Reichtum Gierige, sondern nur der sie heben kann, welcher treuesten Fleiss, furchtloses Eindringen in die Erde und die Gunst des Himmels in seiner Person vereint. Freilich sind nicht alle Züge der mannigfaltig ineinander verschlungenen Sagen hieraus gleichwie aus einem Mittelpunkt zu erklären; die Einbildungskraft hat auch hier frei geschaltet. Und im Mittelalter sind dann christliche Vorstellungen, bis zu voller Verhüllung der ursprünglichen Bedeutung, um die "drei Schwestern" gefaltet worden; sie sollen Stifterinnen eines Klosters, einer Kirche, Wohltäterinnen der ganzen Gegend gewesen sein; wobei dann freilich unbegreiflich bleibt, weshalb ihre Burg, samt ihnen selbst, versunken ist, und sie, der Erlösung bedürftig, im Schosse der Erde harren, so dass man Messen für sie stiftet, Gebete für sie spricht.

Hat man den drei Nornen doch sogar die Namen der drei christlichen Tugenden: Fides, Spes, Caritas (Glaube, Hoffnung, Liebe) gegeben! An manchen Orten heissen sie aber noch: Ain-pett, Wil-pett, War-pett; "pett" ist althochdeutsch "piot", der Opfer-Altar; Ain ist Agin, Schreck; War ist Werre, Streit (daher französisch guerre, Krieg). Der dritte Name geht vielleicht auf "Wille", ist aber wahrscheinlich verderbt; anderwärts heisst er Widi-kunna, Winter-bring; letzteres wohl Volksbedeutung, nachdem der Sinn des alten Namens nicht mehr verstanden ward. Wenn nur zwei Schwestern genannt werden, heissen sie "Muss" und "Kann"; – sehr bezeichnend für Menschengeschick.


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