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Um das Wesen, den Grundcharakter der germanischen Mythologie richtig zu erfassen, müssen wir das Wesen der heidnischen Religionen überhaupt untersuchenVgl. Dahn, Das Tragische in der germanischen Mythologie. Bausteine I, Berlin 1879..
Auch die heidnischen Religionen, welche Himmel und Hölle, Luft und Feuer, Wasser und Erde, mit Göttern, Göttinnen und übermenschlichen Wesen jeder Art bevölkern, sind zurückzuführen auf den Religionstrieb (entsprechend dem Sprach-, Kunst-, Sittlichkeits-, Rechts-, Wissens-Trieb) d. h. Drang der sich in ihrer Vereinzelung hilflos und haltlos fühlenden Menschenseele, durch den innigsten Zusammenschluss mit der über allen Einzelnen waltenden göttlichen Macht Hilfe, Hort und Halt zu gewinnen. Dabei müssen auch diese Religionen vermöge ihres innigen Zusammenhanges mit der Sittlichkeit, das Göttliche, im Gegensatz zu den Menschen, als sündlos, d. h. heilig, fassen. Das Menschenherz will sich mit seinem Wünschen und Fürchten, mit seinem Hoffen und seinem Leiden unmittelbar an das mitempfindende Herz seines Gottes wenden. Deshalb muss alle Religion das Göttliche als Persönlichkeit fassen. Da nun aber der Mensch keine andre Erfahrung von Persönlichkeit hat als eben von der menschlichen, so muss er sich die göttliche Persönlichkeit notwendig nach dem Muster der menschlichen vorstellen. Aber freilich, nicht wie die Menschen wirklich sind, mit Not und Tod, mit Siechtum und Alter, mühselig und beladen, den Naturgesetzen, den Schranken von Raum und Zeit unterworfen; – nicht also schildern diese Religionen die "seligen Götter, "die den weiten Himmel bewohnen", sondern gelöst von all dem Schmerz und Jammer, dem Bittern und Hässlichen unsrer menschlichen Endlichkeit; sie malen uns den Himmel und die Götter als die idealisierte Erde, bewohnt von idealisierten Menschen.
Womit nun "malen", mit welchem Werkzeug idealisieren sie? Mit dem allgemeinen und einzigen Werkzeug menschlichen Idealisierens; mittels des Werkzeugs des Kunsttriebes, der Einbildungskraft. Diese nun ist eine glänzende und liebliche, aber gefährliche Gehilfin. Gefährlich deshalb, weil diese Kraft es verschmäht, bei ihren Bildungen auf die Dauer fremden Gesetzen zu gehorsamen; sie folgt willig nur ihrem eignen Gesetz: dem der Schönheit.
Früher noch als in der bildenden Kunst befreit sich die Einbildungskraft in der Dichtkunst von den althergebrachten, heiligen Formen und von den Bedürfnissen des strengen religiösen Gefühls; so werden die Götter von Anfang mit einem Leibe ausgerüstet, wie er der Eigenart einer jeden solchen Göttergestalt entspricht; Greis, Mann, Jüngling, Knabe, Frau, Mädchen stehen nebeneinander –; ja, schon die Übertragung des Gegensatzes der Geschlechter, – die Göttinnen neben den Göttern – ist doch eine sehr starke Vermenschlichung des Göttlichen.
Lehrreich und reizvoll ist es, hier dem Verfahren der sagenbildenden Einbildungskraft in ihrer Werkstätte zu lauschen; dass die Leiber der Götter frei sind von den dem Menschen anklebenden Gebrechen und den seinem Leib gezogenen Schranken, versteht sich; aber die Dichtung verträgt es nicht, diesen Gedanken nackt und nüchtern hinzustellen; fast ohne Aufenthalt zwar durchmessen Hermes oder Donar den unendlichen Luftraum; aber in schön sinnlicher Fügung wird dies Vermögen nicht bildlos ihnen beigelegt, sondern an ein gefälliges, der Einbildungskraft sich einschmeichelndes Mittel gebunden; Hermes bedarf der Flügelschuhe und Donar seines von Böcken gezogenen, rollenden Donnerwagens. Die Götter sind auch unalternde Wesen; aber auf dass Zeus und Wotan in höherer Mannesreife, Hera, Venus und Frigg in vollentfalteter Frauenschöne, Apollo und Baldur in Jünglingsblüte bleiben, bedürfen sie bestimmter Speise: der Ambrosia oder der Äpfel Iduns; – und selbstverständlich lässt sich die Einbildungskraft den reizenden Einfall nicht entgehen, durch Entwendung der köstlichen Speise die Unalternden plötzlich mit dem Lose der Menschen zu bedrohen; von selbst ergibt sich dann die Aufgabe, durch kühne Tat die geraubten Früchte den Göttern wieder zu schaffen.
Aber auch nach andrer Richtung lässt sich die Einbildungskraft, die sich nun einmal der Sagenbildung, immer weitergreifend, bemächtigt, in ihrem Walten nicht hemmen. Während nämlich wissenschaftliche Denkweise ebenso wie die einen Gott glaubenden Religionen die Vielheit der Erscheinungen auf ein Gesetz, auf eine einheitliche Ursache zurückzuführen bestrebt ist, waltet in der künstlerischen Anschauung der Einbildungskraft notwendig das entgegengesetzte Trachten. Die Wissenschaft der Pflanzenkunde z. B. muss danach verlangen und sich daran erfreuen, Keim, Blüte, Frucht als blosse Umgestaltungen des nämlichen Wesens und diese Gestaltungen als Erscheinungen des nämlichen Gesetzes zu ergründen –; aber die Göttersage wird eine andre Göttin der Saaten, eine andre der Ernte mit Ungestüm verlangen; sie würde unmöglich für die Nacht dieselbe Göttin wie für den Tag, für den silbernen Mond wie für die goldene Sonne ertragen; sie wird für Krieg, Jagd und Ackerbau, für Tod und Liebe, für Winter und Sommer, für Meer und Feuer, und für das Feuer als wohltätige und für das nämliche Feuer als verderbliche Gewalt verschiedene Göttergestalten aufstellen müssen; d. h. diese Religionen sind viele Götter lehrend.
Aber nicht nur Vermenschlichung und Vervielfältigung der Götter verbreitet die Einbildungskraft in den Götterglauben; – sie geht bald weiter. Während sie anfangs, bis die wichtigsten Göttergestalten gezeichnet, die vom religiösen Bedürfnis ihnen notwendig beigelegten Eigenschaften und Schicksale geschildert und erzählt sind, sich doch immer wesentlich noch dienend verhalten hat, bemächtigt sie sich später, nachdem die Göttergestalten, ihre Eigenart, ihre Begleitgeräte und ihre wesentlichen Beziehungen zueinander feststehen, dieser Gestalten wie jedes andern gegebenen Stoffes und behandelt sie weiterbildend lediglich nach den eignen künstlerischen Zwecken und Absichten; ganz wie sie z. B. geschichtliche Männer und Ereignisse: den Untergang der Burgunden, Attila, Theoderich von Verona, Karl den Grossen in dichterischem Schaffen und Umschaffen schmückt, verhüllt, umgestaltet und verwandelt. Die Einbildungskraft schaltet nun frei mit diesen einladenden Gestalten; sie erfindet, in anmutvollem Spiel das Gegebene weiter bildend, eine Menge von neuen Geschichten und Geschichtlein, zuweilen verfänglicher Art, zum Teil noch im Anschluss an die alten Naturgrundlagen jener Götter, oft aber auch gelöst von denselben, indem sie einzelne menschliche Züge weiter ausführt oder verwertet.
So erspriesst um die alten ehrwürdigen Göttergestalten ein üppig wucherndes Wachstum, welches mit schlingenden Ranken und duftigen Blüten die ursprünglichen Umrisse zwar schmückt, aber auch verhüllt und unkenntlich macht. Bei diesen Religionen weiss man dann gar nicht mehr zu scheiden, wo die Grenze endet und wendet, d. h. wo das Gebiet der eigentlichen Glaubenslehren abschliesst und wo das der dichterischen Erfindungen beginnt, an welche das Volk kaum ernsthaft glaubt.
Welches Verhältnis nimmt aber die in solcher Weise durch die Einbildungskraft umgewandelte Götterwelt nunmehr zu dem religiösen Bedürfnis ein? Antwort: Die so umgestaltete Religion befriedigt nicht mehr, sondern sie verletzt, sie beleidigt die Religion in ihren edelsten Gefühlen.
Die Religion hatte Einheit der weltbeherrschenden Macht verlangt, der unerträglichen Buntheit der Erscheinungen zu entrinnen. Statt dieser Einheit drängt die vielgötterische Lehre dem religiösen Bewusstsein neben einer Drei- oder Zwölfzahl oberster Götter ein unübersehbares Gewimmel von Unter-Göttern, von Halb- und Viertels-Göttern, von Geistern und übermenschlichen Wesen aller Art auf, welche Luft und Wasser, Erde und Meer erfüllen. Fast jedes Naturerzeugnis ist durch einen besondern Gott oder ein Göttlein vertreten oder belebt und dieses unheimliche Gewoge buntester Willkür ist dem menschlichen Drang nach Einheit des Göttlichen unerträglich.
Vermöge ihrer sittlichen Bedürfnisse hatte die Religion von den Göttern Heiligkeit verlangt, d. h. Sündlosigkeit, Freiheit von den Schwächen und Leidenschaften des menschlichen Herzens; einerseits die Hoffnung auf gerecht gewährten, durch Tugend verdienten Schutz, anderseits das Schuldbewusstsein hatte ja ganz wesentlich zu der Annahme schuldloser Wesen beigetragen, welche, allweise und allgerecht, die menschlichen Dinge auf Erden leiten oder doch im Jenseits Lohn und Strafe nach Verdienst verteilen sollten. Nur zu einem heiligen, sündlosen Gott kann das Menschenherz hoffend oder reumütig flüchten. Statt dieser Heiligkeit findet das religiöse Bewusstsein in den vermenschlichten, von der Einbildungskraft weitergebildeten Göttergestalten nur das Spiegelbild alles dessen wieder, was der Menschenseele den Frieden stört; Schwächen, Leidenschaften, Schuld, ja Laster und Verbrechen aller Art; Eifersucht, Rachsucht, Neid, Hass, Zorn, Verrat, Untreue jeder Art, Gewalttat, Mord. Diesen Göttern, die man in so manchem Liebes- oder Streithandel nicht nach Vernunft, Moral und Gerechtigkeit, sondern nach ihrer eigenartigen Neigung und Sinnesart hat handeln sehen, kann man nicht vertrauen, dass sie in den Geschicken der Menschen gerecht und heilig entscheiden werden.
Man sollte glauben, schon auf dieser Stufe der Entwicklung müsste verzweifelnde Abkehr von der gesamten Anschauungsweise der Götterwelt erfolgen; aber noch werden auf dem Boden dieser Welt selbst – nach zwei Richtungen – Versuche der Abhilfe gemacht. Diese Versuche sind sehr anziehend; aber sie müssen scheitern.
Das Verlangen nach Einheit der Weltbeherrschung soll auf der gegebenen Grundlage des Viel-Götter-Glaubens dadurch befriedigt werden, dass einer der höheren Götter, welcher ohnehin auch bisher schon die andern überragt hatte, nachdrucksam als der oberste Leiter und Herrscher gedacht wird, so dass die übrigen hinter ihm völlig verschwinden. Es ist diese starke Überordnung ein Ersatzmittel für den verlangten, aber nicht erlangten alleinigen, einzigen Gott. Zeus, Jupiter, Odin wird als "Vater der Götter und Menschen", als "Allvater" gedacht; er allein entscheidet mit überlegener Macht die menschlichen Dinge, und zwar, wie man nunmehr nachdrücklich versichert, allweise, allgerecht, allheilig; – die andern Götter erscheinen nur mehr als seine Diener, Helfer, Boten und Werkzeuge.
Allein dieser Versuch kann nicht gelingen; die übrigen Götter sind einmal da, sie leben im Volksbewusstsein, das ihrer nie vergisst, vielmehr mit zäher Innigkeit an ihnen hängt; sind sie doch dem Menschen näher, vertraulicher, zugänglicher als der erhabene oberste Gott, welchen seine ernste Erhabenheit und die Unfassbarkeit seiner Grösse ferner rückt. Man wendet sich lieber, leichter, zutraulicher an die den Sterblichen näherstehenden unteren Götter und je an den besondersten Sachverständigen; man ruft um Erntesegen den Erntegott, um Liebesglück die Liebesgöttin an, man wendet sich später an die Heiligen, welche an die Stelle der alten Götter getreten sind, z. B. bei Feuersgefahr an St. Florian, bei Viehsterben an St. Leonhart. Dazu kommt, dass auch jener oberste Gott, trotz der Verkündung seiner Weisheit und Heiligkeit, keinen rechten Glauben für diese Tugenden finden kann. Einmal bleibt er, neben seiner jetzt so stark betonten Eigenschaft als allgemeiner Weltenlenker, doch daneben noch der Sondergott seines Faches, was er ursprünglich allein gewesen, und daher von den Forderungen dieses Gebietes beherrscht; Odin z. B. bleibt, auch nachdem er "Urvater" geworden, gleichwohl Gott des Sieges und der Schlachten und er hat, um die Zahl seiner Einheriar zu vermehren, den einseitigen Wunsch, dass die Könige sich blutige Schlachten liefern; – er ist also nicht mit sonderlichem Vertrauen auf geneigtes, gerechtes Gehör um Frieden anzurufen. Auch weiss man aus vielen Geschichten, die von diesem Weltenlenker erzählt werden, dass er, der unbeschränkte Alleinherr, der allein herrschen soll, selbst beherrscht wird; d. h. den Einflüssen seiner Umgebung – der weiblichen wie der männlichen – unterworfen ist; was hilft es, dass Zeus gerecht und weise regieren will, wenn es Hera gelingen kann, ihn durch weibliche Künste einzuschläfern und mittlerweile seine Pläne zu durchkreuzen? Ähnlich wie Frigga durch Schlauheit und Überraschung ihrem Gemahl die Siegverleihung an die Langobarden ablistet (s. unten).
Dies führt zu dem zweiten Versuch einer Besserung des Götterglaubens durch die Mittel des Götterglaubens selbst; da die Herrschaft auch des obersten Gottes keine Gewähr bietet für weise, gerechte, heilige Weltleitung, da man jetzt eben den Schwächen und Launen des obersten Gottes preisgegeben ist und der Eigenart seines Wesens, so sucht man, wie vorher die Vielgötterei durch ein Ersatzmittel für den einzigen Gott, so nunmehr die Vermenschlichung der persönlichen Götter zu verbessern durch ein unpersönliches Weltgesetz; man schafft ein unpersönliches Schicksal, ein Fatum, welches unabänderlich auch über dem obersten Gotte steht; so dass er dieses notwendige Schicksal nur erforschen und ausführen, nicht aber bestimmen, schaffen, ändern oder aufheben kann. So erkundet Zeus durch Abwägen auf seiner Waage das den Achäern und Troern vorbestimmte Geschick; so sucht Odin die Göttern und Riesen verhängte Zukunft zu erfahren. Dies Schicksal wird nun, in wechselnder Auffassung, bald lediglich als unabänderliche Notwendigkeit, als blindes Fatum gedacht, ohne Annahme einer der Vernunft und Gerechtigkeit entsprechenden Entscheidung. Auch solch blindes und starres Schicksal ist immerhin noch erträglicher als das Gefühl, der Spielball der unberechenbaren Launen der vermenschlichten und von Leidenschaften beherrschten Götter und ihrer Spaltungen zu sein. Indessen, die entsagende Fügung unter ein notwendiges Gesetz, welches auf das Glück des Menschen keine Rücksicht nimmt, ist dem warmen Verlangen der ungeschulten Menschenseele widerstreitend. Deshalb wird von andern Religionen oder von andern Lehren der nämlichen Religion das Schicksal als eine gerechte Vergeltung, die schon auf Erden immerdar die Tugend belohne und die schuldvolle Überhebung strafend niederbeuge, verehrt; eine Vorstellung, welche freilich gar oft durch das unverdiente Glück der Schlechten und Unglück der Guten widerlegt wird, im Leben der einzelnen wie in den Geschicken der Völker.
Merkwürdig aber ist die Wahrnehmung, wie das religiöse Bewusstsein die Zumutung, das Göttliche als Unpersönliches, als Gesetz zu fassen, schlechterdings auf die Dauer nicht erträgt; kaum hat die Götterlehre, um der Willkür der vermenschlichten persönlichen Götter zu entrinnen, das unpersönliche Schicksal aufgestellt, als sie schon wieder geschäftig Hand angelegt, dies unpersönliche – abermals zu personifizieren. Das Gesetz des Schicksals wird verwandelt in eine Schicksalsgöttin, Nemesis (welche dann freilich ausserhalb der bunten Göttergeschichten und Liebeshändel usw. gelassen wird); ja, auch der Zug der Vielgötterei bemächtigt sich dieser doch gebieterisch die Einheit verlangenden Vorstellung und stellt sie in drei Personen: drei Göttinnen der Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, auseinander gefaltet (Parzen, Nornen s. unten), dar.
Es ist klar: diese Versuche, die Götterlehre durch die Mittel der Götterlehre selbst zu reinigen, können nicht gelingen, da die Gestaltungsweise, das Werkzeug und der gesamte Boden, welche jene bedenklichen Gebilde erzeugt, dabei natürlich beibehalten bleiben und gleichmässig fortwirken. Die Folge ist, dass sich bei vorgeschrittener Bildung, nachdem die Stufe unmittelbaren, urteillos gläubigen Hinnehmens des in der Überlieferung Gegebenen überschritten ist, von solchen "Götterlehren" gerade die sittlich Edelsten und die geistig höchstbegabten und tiefstgebildeten Männer der Nation mit Gleichgültigkeit, ja mit Verachtung abkehren, da ihre sittlichen Anschauungen und ihre philosophischen Bedürfnisse und Errungenschaften durch jene Göttersagen nicht befriedigt, sondern auf das empfindlichste und empörendste verletzt werden. Dass dies bei Hellenen und Römern eingetreten, ziemlich früh bei jenen, verhältnismässig spät bei dem strenger gebundenen Wesen der letzteren, ist bekannt; sogar so altväterische Geister wie Aristophanes nahmen doch an dem Vatermord des obersten der Götter Anstoss. Minder bekannt ist aber, dass auch in dem germanischen Heidentum, nachweisbar wenigstens im Norden, schon vor dem Eindringen des Christentums sich merkwürdige Spuren ähnlicher Erscheinungen findenSiehe hierüber Dahn; "Über Skeptizismus und Leugnung der Götter bei den Nordgermanen". Bausteine I, S. 133, Berlin 1880..
Solche Abkehr von dem Volksglauben kann nun aber immer nur unter einer geringen Zahl vorkommen; durchdringt sie die Gesamtheit, so ist dies ein höchst gefährliches Anzeichen des Niedergangs des ganzen Volksrums. Denn ein Volk kann eines volkstümlichen und befriedigenden Glaubens so wenig entraten, wie eines solchen Rechts oder einer solchen Sittlichkeit. Ist daher wirklich im grossen und ganzen ein Glaube unhaltbar geworden, so muss, sollt nicht dieses Volk und seine Bildungswelt untergehen, entweder ein neuer, die Bedürfnisse dieser Zeit befriedigender Glaube von aussen eingeführt – so das Christentum in den ersten Jahrhunderten der römischen Kaiserzeit in die römische Welt, – oder es muss der bestehende Glaube gereinigt, umgestaltet werden; – so das Christentum im 16. Jahrhundert durch die protestantische Reformation und auch durch die katholischen Verbesserungsarbeiten der tridentinischen Kirchenversammlung. –
Aber neben diesen beiden Mitteln ist noch eine dritte Lösung des verschlungenen Knotens möglich; diese dritte hat das germanische Bewusstsein ergriffen; sie ist die tragische.
Auch die germanischen Götter haben sich infolge des oben geschilderten freien Waltens der Einbildungskraft untragbar und unsühnbar in Gegensatz zu der Sittlichkeit gestellt, und das germanische Gewissen hat sie deshalb samt und sonders – zum Untergang, zum Tode verurteilt. Das ist die Bedeutung der "Götterdämmerung" –; sie ist eine unerreicht grossartige sittliche Tat des Germanentums und sie verleiht der germanischen Mythologie ihre tragische Eigenart.
Tragisch ist Untergang wegen eines unheilbaren Bruchs mit der gegebenen Friedensordnung in Religion, Sittlichkeit oder Recht.
Die Götterdämmerung eine Opfertat? eine Tat grossartigster Sittlichkeit? Ja wahrlich, das ist sie!
Denn erinnern wir uns, was wir über Entstehung und Wesen dieser Götter festgestellt; diese germanischen Göttergestalten, welche Walhall bewohnen, was sind sie anders, der kluge, ratspinnende, völkerbeherrschende und zum Kampfe treibende Siegeskönig Odin, der Abenteuer suchende, Riesen zerschmetternde Hammerschleuderer Thor, ja Freya und Frigg im goldenen Gelock, was sind sie anders als die Männer, Frauen und Mädchen des Nordlandes selbst, nur veredelt, ausgerüstet mit den Gewaffen und Gerät, den gesteigerten und dauernden Eigenschaften und Vorzügen der Macht und Kraft, des Reichtums, der Jugend, Schönheit, welche diesen Männern und Frauen als ihre eignen verkörperten Wünsche, als ihr eignes verklärtes Spiegelbild erschienen, aber zugleich als ihre höchsten Ideale? Und diese Lieblingsgestalten der eignen Einbildungskraft und Sehnsucht, das ganze selige Leben in Walhall, mit Kampf und Jagd und ewigem Gelag, im glänzenden Waffensaal unter den weissarmigen Wunschmädchen – des Herzens schönster Sehnsuchtstraum – haben die Germanen ihrem höchsten sittlichen Ideal geopfert; das ist das teuerste aller Opfer und unerreicht von allen andern Völkern.
Zwar erzählen auch andre Götterlehren von untergehenden, durch neue Sippen gestürzten Göttergeschlechtern; allein das sind teils geschichtliche Erinnerungen (Gegensätze von Völkern), teils Wirkungen der fortschreitenden Bildung, welche die älteren, einfacheren Naturgötter verwandelt und vergeistigt (Titanen, Riesen). Dass aber die gesamte Götterwelt, weil sie dem sittlichen Bewusstsein, unerachtet ihrer Herrlichkeit und Lieblichkeit, nicht genügt, zum Untergang verurteilt wird, begegnet sonst bei keinem Volk. In der Prometheus-Mythe der Hellenen klingt zwar einmal von fernher ein ähnlicher Ton an; Zeus wird zur Strafe für seinen an Kronos verübten Frevel Untergang ebenfalls durch einen Sohn geweissagt; – aber es wird mit diesem Gedanken nicht ernst gemacht. Kaum ein flüchtiger Wolkenschatte fällt von dieser dunkeln Warnung her in den goldenen Saal der Olympier; unvernommen verhallt der Ton unter dem seligen Lachen der heitern Götter. Die hellenische Mythologie ist episch; ein Idyll in leuchtenden Farben; mit weissem Marmor und Purpur, mit Gold und Elfenbein aufgebaut, hebt sie sich aus Myrten- und Lorbeer-Gebüschen unter dem Glanz des jonischen Himmels an dem leuchtenden Blau der jonischen See; nur epische Bewegung unterbrach früher etwa diesen nunmehr kampflosen heitern Frieden; in Ewigkeit, nachdem die alten Kämpfe ausgefochten, Titanen und Giganten gebändigt sind, tafeln die Götter und Göttinnen auf den Höhen des Olympos. Geraten sie auch wohl einmal untereinander in Streit, etwa um der Sterblichen in und vor Troja willen; – bald versöhnen sie sich wieder, gerade auf Kosten dieser, und bald tönt wieder ihr seliges Lachen durch die goldenen Säle.
Ganz entgegengesetzt die germanische Mythologie; mag auch die Sage von der Götterdämmerung erst verhältnismässig spät und anfangs vielleicht nur als Geheimlehre Auserwählter (aber doch gewiss nicht erst durch christlichen Einfluss oder gar als Ahnung des Erliegens der Walhallgötter vor dem Christengott!) dem ganzen Bild den grossartigen Hintergrund verliehen, mag also der tragische Abschluss erst spät die Bewegung vollendet haben; – dramatisch ist der Bau der germanischen Mythologie von Anbeginn; obwohl es selbstverständlich an (zum Teil sehr reizenden und heiteren) epischen und idyllischen Zügen und Episoden nicht gebricht.
Wir sahen, es baut sich die germanische Mythenwelt aus dem Gegensatz der Riesen und Asen empor. Die RiesenUrsprünglich wohl ebenfalls Götter einer einfacheren, einer bloss die Naturmächte umfassenden Religion, vielleicht zum Teil auch als einer andern, von den Nordgermanen vorgefundenen, feindlichen, tiefer stehenden Nationalität, der finnischen, angehörig gedacht, aber mit germanischen Namen benannt. sind in der Zeit, die uns hier beschäftigt, unzweifelhaft die Vertreter der dem Menschen und seinen Fortschritten schädlichen oder gefährlichen Naturkräfte, z. B. des öden, unwirtlichen Felsgebirges, des Weltmeers mit seinen Schrecken, des Winters mit seinem Gesinde von Frost, Eis, Schnee, Reif, des Sturmwindes, des Feuers in seiner verderblichen Wirkung usw. Die Asen dagegen, die lichten Walhallgötter, sind nach ihrer Naturgrundlage ursprünglich die wohltätigen, heiligen, reinen Mächte des Lichtes, dann die dem Menschen wohltätigen, freundlichen Mächte und Erscheinungen der Natur überhaupt, z. B. das Gewitter nach seiner segensreichen Wirkung, der Frühling, der fruchtbringende Sonnenstrahl, der liebliche Regenbogen, der herbstliche Erntesegen; dann aber sind sie auch Vertreter geistiger, sittlicher Mächte und Schützer, Vorsteher menschlicher Lebensgebiete; also Götter und Göttinnen z. B. des Ackerbaues, des Krieges und des Sieges, der Liebe und der Ehe, u. a. Die Götter und die Riesen stehen nun in einem unaufhörlichen Kampf, der, ursprünglich von dem Ringen und Wechsel der Jahreszeiten und der bald freundlichen, fördernden, bald furchtbaren, verderblichen Natur-Erscheinungen ausgegangen, später auf das Gebiet des Geistigen und Sittlichen, also des Guten und Bösen, übertragen worden ist. In diesem Kampf den Göttern beizustehen legt allen Menschen und allen guten Wesen Pflicht und eigner Vorteil auf.
Anfangs nun lebten die Götter harmlos und schuldlos in paradiesischer kindlicher Heitre: "sie spielten," – sagt eine schöne Stelle der Edda – "sie spielten im Hofe heiter das Brett-Spiel". Sie versuchten fröhlich ihre jungen Kräfte an allerlei Werkd. h. vor und zu dem Bau der verschiedenen Burgen und Hallen. Sie schmiedeten damals auf dem Ida-Feld (Arbeitsfeld?) allerlei Gerät, Essen und Zangen.: "Es war ihre goldene Zeit" ("nichts Goldenes gebrach ihnen").
Damals drohte ihnen von den Riesen noch keine Gefahr. Allmählich aber wurden die Götter mit Schuld befleckt; zum Teil erklärt sich dies aus ihren Naturgrundlagen, zum Teil aber aus den vermenschlichenden und aus den rein künstlerisch spielenden Dichtungen der sagenbildenden Einbildungskraft. Sie brechen die während der Kämpfe mit den Riesen hin und wieder geschlossenen Verträge und Waffenruhen trotz eidlicher Bestärkung, und auch im Verkehr untereinander, mit den Menschen und mit andern Wesen machen sie sich gar mancher Laster und Verbrechen schuldig. Bruch der Ehe und der Treue, HabsuchtDiese Goldgier scheint der ersten Verschuldung der Götter zu Grunde zu liegen; die fragliche Stelle der Edda, welche hiervon und von der Zauberin Gull-veig ("Gold-kraft"-Spenderin) handelt, die (von den Wanen her kam?) Götter und Menschen verführte und von jenen zur Strafe getötet wurde, ist aber immer noch nicht voll befriedigend erklärt. Erst wann "die drei mächtigen Mädchen aus Riesenheim", die Nornen, kommen, kommt auch das Schuld- oder Schicksalbewusstsein zu den Göttern. Man nimmt an; nach Tötung der wanischen Zauberin (war diese Tötung gerechte Strafe oder bereits Frevel?) kam es zum Krieg mit den Wanen; "Odin schleuderte zuerst den Speer in das feindliche Kriegsvolk"; das ward der erste Krieg. In diesem erfochten die Wanen solche Erfolge, dass die Asen hart bedrängt, die Ringwände ihrer Burg zerbrochen waren; da schlossen die Asen Frieden; sie zahlten zwar nicht, wie verlangt ward, Schatzung wie Besiegte, aber sie nahmen die Wanen als Genossen in einen Götterstaat auf. Um eine neue Burg zu erhalten, schlossen sie Vertrag mit einem riesischen Baumeister, diesem sehr leichtsinnig gelobend, was sie nie entbehren konnten; den Vertrag zu erfüllen, wird durch Arglist Lokis dem Riesen unmöglich gemacht, der Riese selbst – gegen feierlichste Eide – erschlagen (s. unten Buch III, I); von da an tobt nie endender Krieg gegen die Riesen; – schon vorher war ja jedenfalls Krieg mit den Wanen und vielleicht Verschuldung der Götter gegen Gull-veig eingetreten., Bestechlichkeit, Neid, Eifersucht und, aus diesen treibenden Leidenschaften verübt, Mord und Totschlag müssen sich die zu festlichem Gelag versammelten Götter und Göttinnen vorwerfen lassen; wahrlich, wenn nur die Hälfte von dem ihnen (von Loki) vorgehaltenen Sündenverzeichnis in Wahrheit begründet und durch im Volke lebende Geschichten verbreitet war, so begreift sich, dass diese "Asen", d. h. Stützen und Balken der physischen und sittlichen WeltordnungDas bleiben sie, auch wenn J. Grimms Erklärung des Namens "ans" aufgegeben wird., diese Aufgabe nicht mehr erfüllen konnten. Und darin liegt die richtige, die tiefe Erfassung von "Ragnarökr": dem Rauch, der Verfinsterung der herrschenden Gewalten. Diese Verfinsterung bricht nicht erst am Ende der Dinge in dem grossen letzten Weltkampf plötzlich und von aussen, als eine äussere Not und Überwältigung, über die Götter herein; – die Götterverfinsterung hat vielmehr bereits mit der frühesten Verschuldung der AsenSiehe über diese unten Buch III, I.ihren ersten Schatten auf die lichte Walhallawelt geworfen; und fortschreitend wächst diese Verdunkelung mit jeder neuen Schuld und führt die Götter allmählich dem völligen Untergang entgegen; Schritt für Schritt verlieren die Götter Raum an die Riesen; denn mit ihrer Reinheit nimmt auch ihre Kraft ab. Lange Zeit zwar gelingt es noch Odin und seinen Genossen, das fernher drohende Verderben zurückzudämmen; sie fesseln und bannen, wie wir sehen werden, die riesigen Ungeheuer, welche Götter und Menschen, Himmel und Erde mit Vernichtung bedrohen; aber im Kampf mit diesen Feinden erleiden sie selbst schwere Einbussen an Waffen und Kräften; ihr Liebling Baldur, der helle Frühlingsgott, muss – ein mahnend Vorspiel der grossen allgemeinen Götterdämmerung, – zur finstern Hel hinabsteigen. In andern Fällen werden die Götter wenigstens von den schwersten Einbussen bedroht durch leichtsinnig geschlossene Verträge und jene Verluste nur durch listige Ratschläge und Betrug Lokis abgewehrt, welche Treulosigkeit gegen Eid und Wort die lichten Asen immer mehr von ihrer sichern Höhe herabzieht (s. unten die Sagen von Svadilfari, Hamarsheimt, von Skirnisfahrt und von Thiassi und Idun). Immer näher rückt mit der steigenden Verschuldung der Götter der unabwendbare Tag des grossen Weltenbrandes.
Wann bricht dieser herein? Wann ist die Stunde der Götterdämmerung gekommen? Diese bange Frage beschäftigt unablässig den obersten der Götter, Odin, "den grübelnden Asen". Düstere Ahnungen, böse Träume ängstigen ihn und Baldur. Der mannigfaltigen Rat suchende unerschrockene Götterkönig forscht bei allerlei Wesen nach dem, was sie etwa hierüber wissen mögen; selbst zur furchtbaren Behausung Hels und zu den Nornen steigt er, Zukunft forschend, hinab. Mit geringer Ausbeute kehrt er zurück! Erst das Ende der Dinge selbst, das unvermeidbare, gibt die Antwort auf die Frage; – und erst am Ende der hier zu schildernden Geschehnisse, nachdem die Götter, ihre Helfer, ihre Schützlinge und ihre Feinde sich vor unsern Augen ausgelebt haben, können auch wir die Antwort finden auf jene Frage.