Ludwig Aurbacher
Ein Volksbüchlein
Ludwig Aurbacher

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6. Schule der Weisheit.

Zu jener Zeit, als es noch Schulen der Weisheit gab, kam ein Jüngling von schöner Gestalt und guten Sitten zu einem Meister, und bat, daß er ihn in Lehre und Zucht nehmen möge. Der Meister, der ihn vom Ruf kannte, sprach zu ihm: Wie soll ich dich lehren und ziehen, da, wie ich höre, dein Betragen unter den Menschen und vor der Welt rein und tadellos, schlecht und gerecht ist? Der Jüngling antwortete: Mein Ruf ist wol besser, als ich selbst bin. Ich weiß gar wohl, daß mir noch vieles fehlt zur Weisheit, und darunter das Erste und Notwendigste. Und was ist das? fragte der Meister. Könnt' ich es sagen, antwortete der Jüngling, ich würde wol nicht bei dir zusprechen. Ich fühle zwar meine Gebrechen, aber ich kenne sie nicht, und weiß sie drum auch nicht zu heilen und zu verbessern. Der Meister betrachtete den Jüngling mit Wohlgefallen; dann sprach er. Du erzeigest dich fähig und würdig, um in die Schule der Weisheit zu gehen. Denn die erste Stufe dazu ist die Selbsterkenntniß, die zweite die Demuth, die dritte die Zuversicht und der Glaube. Dies aber bedenke: daß die Kunst der Weisheit schwer, und die Zeit der Schule lang sei. Du mußt vorerst lernen schweigen und hören, dann fragen und antworten, endlich handeln und leiden. Der Jüngling versprach, daß er's an gutem Willen nicht werde fehlen lassen, um des Meisters Kunst zu erlernen. Also ward er als Schüler und Jünger der Weisheit angenommen. Er erfüllte auch und übertraf beinahe die Hoffnungen des Meisters während der drei Jahre, die er unter seiner Lehre und Zucht gestanden. Er wurde schweigsam, beredsam und handsam; er lieh sein Ohr guten Räthen und weisen Sprüchen, er öffnete den Mund nur zu verständigen Reden, und Hand und Herz waren immer bereit, um Gutes zu spenden, Widriges zu ertragen und das Beste zu wollen und zu thun. Da, nach Verfluß der drei Jahre, trat eines Tages der Meister zu ihm, und sprach: Ich gebe dir Urlaub, mein Sohn! Du bist nun bereits auf dem rechten Wege, der zur Weisheit führt. Es ist freilich nur der Anfang des Weges, nicht das Ende; aber weiter vermag dich kein anderer zu geleiten; du mußt dich nun selbst führen, auf daß du endlich das Ziel erreichest. Ueber diesen Worten wurde der Jüngling schier traurig, zumal darüber, daß er erst am Anfang der Weisheit stehe, und nicht schon am Ende, da er sich doch bewußt war, daß er das Vollkommenste erstrebt habe in Gedanken, Worten und Werken. Das klagte er dem Meister in der Sprache eines zuversichtlichen, obwol noch demüthigen Bewußtseins. Der Meister versetzte: Was ich an deinen Worten und Handlungen wahrgenommen, es ist Alles löblich, und ich bin gewiß, daß sie ein treuer, unverfälschter Ausdruck deiner Gesinnungen waren. Aber dies merke: Des Menschen Herz ist unergründlich, wie das Meer, und was dasselbe verbirgt in seinem dunkeln Abgrund, das hat noch Niemand erforscht. Dies dein Herz erkenne ich noch nicht; es ist dir selbst noch verborgen; die Ungeheuer, die da noch in der Tiefe sich umthun, und von Zeit zu Zeit aufsteigen, sind furchtbar und verderblich; und wer sie nicht wahrnimmt und sich ihrer wehrt, den ziehen sie in ihren Abgrund. Der Jüngling betrübte sich noch mehr über diese Rede, und er bat den Meister, ihm diese Ungeheuer zu bezeichnen, die in des Herzens verborgener Tiefe hausen, damit er ihrer achten und sich erwehren könne. Der Meister antwortete: Das ist vergeblich; ich müßte dir alle Laster nennen; denn sie alle gleichen jener Hyder, aus deren gefällten Häuptern immer neue und verjüngte erwachsen. Doch vor drei lasterhaften Gelüsten will ich dich besonders warnen, welche dem Menschen am meisten gefährlich, weil am meisten hintertückisch sind. Es ist die Schadenfreude ob fremdem Unglück, der Neid ob fremdem Glück, und die Rachelust bei erlittener Beleidigung. Diese sterben nie aus in des Menschen Herzen, so lange es fühlt und schlägt. Der Jüngling verhüllte sein Angesicht, und sprach dann: Ach, wer ist dann weise unter den Menschen? Niemand, antwortete der Meister, nur Gott ist weise; wir armen Menschen können wol die Weisheit lieben, aber nicht haben. Drum sei dir dies noch zum Trost und zur Ermuthigung. Den Keim des Guten hat Gott in uns gelegt, und den Keim des Bösen der Satan. Pflegen wir darum der guten Saat, und reuten wir zumeist das Unkraut aus, so wird auch Gott das Gedeihen geben. Denn er ist der Anfang und das Ende der Weisheit. Der Jüngling dankte, und entfernte sich mit denselben Gefühlen, mit denen er gekommen war: mit erweiterter Selbsterkenntniß, noch größerer Demuth, und mit befestigter Zuversicht und unerschütterlichem Glauben an den, der der Anfang und das Ende der Weisheit ist.


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