Ludwig Aurbacher
Ein Volksbüchlein
Ludwig Aurbacher

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5. Das Vögelein.

Ein frommer Ordensmann las eines Morgens in der Bibel: Vor Gott sind tausend Jahre wie ein Tag. Diese Worte und ihr Sinn wollten seinem blöden Verstande nicht eingehen, und je mehr er darüber nachdachte, desto unklarer und verworrener wurden seine Gedanken.

Da ging er, um sich zu zerstreuen, in den Garten; und indem er die Blumen und die Bäume und den blauen Himmel und alle die Werke Gottes mit Wonne und Andacht betrachtet, gewahrte er auf dem Wipfel eines Baumes ein seltsames, überaus schönes Vögelein; und wie dasselbe nun seine buntfarbigen Flügel ausbreitete und seine wunderschöne Stimme hören ließ, da durchzuckte den Mann ein nie gehabtes, innerstes Wonnegefühl, so daß er wie außer sich dastand, und Ohren und Augen nicht abwenden konnte von der überaus lieblichen Gestalt und dem seelenvollen Gesang des Vögeleins. Dieses aber hüpfte von Zweig zu Zweig, und flog von Baum zu Baum, und schüttelte die Farben aus dem bewegten Gefieder und strömte melodische Töne aus der sangreichen Kehle; und so flog es, immer singend, aus dem Garten in den angrenzenden Wald; und der Ordensmann, seiner selbst nicht mehr bewußt, folgte ihm nach, und wendete weder Aug' noch Ohr ab, und stand zuletzt wie bezaubert mitten im Walde, daß er die Wildniß nicht sah ob der Regenbogenpracht, die ihn umfloß, und den Wasserfall nicht hörte ob dem Wundergesang, der ihn entzückte. Doch mit welchen Worten wäre so etwas zu beschreiben! Wie wenn am frühen Morgen, bei der ersten Dämmerung, über dem höchsten Gipfel eines Berges sich plötzlich ein Punkt von einem Wölklein zeigt, das nun allmählich in zarten Wolkenstreifen auseinander fließt: der erste Strahl der aufgehenden Sonne verwandelt es zauberisch in lauteres Gold; dann erweitert und verdichtet sich die Wolke immer mehr, und Goldstreifen durchzucken sie, wie Blitze, und verbrämen sie um und um, wie mit leuchtenden Rubinen; und es lösen sich dann Wolken von der Wolke ab, und verschwimmen in dem Meere des azurnen Firmamentes, und Lichter und Farben wechseln und spielen in unendlichen Abstufungen in- und auseinander, und das Auge vermag schon nicht mehr alle die herrlichen Gestaltungen zu überschauen, und den Glanz und die Fülle und die Mannichfaltigkeit der himmlischen Erscheinung zu fassen und zu begreifen: so mannichfaltig, so reizend und bezaubernd war der Gesang des Vögeleins; es legten sich die Melodien wie ein Goldgewebe um des Hörers Herz und umstrickten es ganz und gar, wie mit einem Zaubernetze, und durchdrangen und erfüllten es, daß es ganz trunken wurde in überseliger Empfindung. – Endlich verstummte das Vögelein, und ward plötzlich nicht mehr gesehen; und der Ordensmann, voll des genossenen Glückes, kehrte zu seinem Kloster zurück.

Es mochte nach seiner Berechnung eine Stunde verflossen sein, seit ihm die Erscheinung geworden; und er stand, noch am frühen Morgen, vor der Pforte und läutete an. Der Pförtner erschien. Sie erkannten sich einander nicht. Der Ordensmann nannte seinen Namen; der Pförtner sagte: es befinde sich kein Mönch dieses Namens im Kloster. Man ging zum Abte; auch dieser kannte weder den Mann noch dessen Namen; wol aber setzte er bei: Wie die Chronik melde, so sei vor hundert Jahren ein Mönch dieses Namens plötzlich aus dem Kloster verschwunden, und man habe seit der Zeit nichts mehr von demselben vernommen. Da erkannte der Ordensmann, daß er eines großen Wunders von Gott gewürdiget worden, und er fiel dem Abte zu Füßen, und bekannte und beichtete und erzählte, was sich mit ihm begeben.

Und nachdem er noch in derselben Stunde das Sacrament empfangen, that er gegen Niemanden mehr den Mund auf, sondern verharrte in stillem Gebete bis gen Mitternacht, wo er selig in dem Herrn entschlief.


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