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55

Die Leute brachten Sadi Hafis zu Hamons Haus auf dem Hügel zurück. Die Reise war lang für einen Mann, der eine Kugel in der Schulter hatte.

»Allah! Dieses Schwein!« stöhnte der Maure. »Wenn sich die Pistole nicht in den Falten meines Mantels verfangen hätte, würde der Kerl jetzt in der Hölle sein!«

Hamon schickte nach Frauen, die die Wunde untersuchten und verbanden.

»Es ist nichts«, sagte Sadi rauh. »Als er mich das letztemal anschoß, war die Sache schlimmer.«

»Sprechen Sie von dem Bettler?« fragte Hamon erstaunt.

»Natürlich!«

»Ich hätte nie gedacht, daß er Ihnen etwas anhaben könnte. Er ist doch alt und schwach. Und Sie haben mir auch nicht gesagt, daß Sie ihn kannten.«

»Ich wußte es selbst bis zum letzten Augenblick nicht, aber dieser Morlake ist ein alter Feind von mir.«

Hamon zuckte zusammen.

»Sie sprachen doch eben noch von dem Bettler«, erwiderte er und runzelte die Stirn. »Ich bin so aufgeregt heute nacht – Sie meinten doch den alten Bettler Abdul?«

»Ich spreche von Morlake«, stieß Sadi zwischen den Zähnen hervor, »den Sie heute morgen so voreilig mit einer Frau verheirateten!«

Hamon starrte ihn fassungslos an.

»Das verstehe ich nicht. Der Bettler war Morlake? Aber – er war doch ein alter Mann!«

»Wenn ich nicht die Augen eines Mondkalbes gehabt hätte«, entgegnete Sadi bitter, »dann hätte ich gleich sehen müssen, daß es Morlake war. Schon früher bevorzugte er diese Verkleidung, als er hier noch im diplomatischen Dienst tätig war.«

Hamon ließ sich verstört auf dem Diwan nieder.

»Der Bettler war also Morlake – und ich habe die beiden verheiratet!«

Er brach in ein hysterisches Lachen aus, aber allmählich beruhigte er sich wieder.

»Er haßt Sie!« sagte Sadi nach einem langen Schweigen. »Was steckt eigentlich hinter der ganzen Geschichte?«

»Er will ein Schriftstück haben, das in meinem Besitz ist – das ist alles.«

Das aufgeregte, rote Gesicht Hamons und der nervöse Ton seiner Stimme weckten Sadis Verdacht. Ob Hamon getrunken hatte?

»Sie denken, ich bin betrunken«, meinte Hamon, als ob er Sadis Gedanken gelesen hätte. »Aber das stimmt nicht.«

Plötzlich ging er aus dem Zimmer und ließ Sadi allein. Der Scherif dachte über alle Möglichkeiten nach. Hamon mußte verschwinden, entschied er kaltblütig. Wenn es wahr wäre, daß ein englischer Detektiv in Tanger Nachforschungen nach ihm anstellte, dann sollte er auch seine Beute erhalten. Nur auf diese Weise konnte sich Sadi rächen. Hamon war ja auch keine große Einnahmequelle mehr für ihn.

Kurz nach Sonnenaufgang stand Sadi auf, um seinen Gastgeber aufzusuchen. Hamon hielt sich in dem Zimmer auf, das Joan innegehabt hatte. Er schlief, sein Kopf ruhte über den gefalteten Armen auf der Tischplatte. Neben ihm lag eine offene Brieftasche mit vielen Papieren. Sadi untersuchte sie leise. Er fand ein halbes Dutzend noch nicht eingelöster Schecks und ein viermal zusammengefaltetes Blatt. Begierig griff er danach und las.

›Ich bin zu der Ansicht gekommen, daß Ralph Hamon, den ich für meinen Freund hielt, mich töten will. Er hält mich augenblicklich in einem kleinen Haus in der Nähe von Hindhead gefangen. Auf seinen Rat begleitete ich ihn nach Marokko, um dort eine Mine zu besichtigen, die ich für sein Eigentum hielt. Wir kehrten auf seinen Wunsch heimlich nach London zurück, weil niemand erfahren sollte, daß er seinen Anteil an der Mine verkaufen wollte. Ich hatte den Verdacht, daß die Mine, die er mir als die seine zeigte, in Wirklichkeit nichts mit ihm und seinen Unternehmungen zu tun hatte, kam nach Hindhead und wollte erst dann zahlen, wenn sich mein Argwohn als unbegründet erwiesen hatte. Ich habe eine Vorsichtsmaßregel ergriffen, die ich für sehr wirksam halte. In Hindhead wurde mein Verdacht bestätigt, und ich weigerte mich deshalb, das Geld zu zahlen. Darauf schloß mich Hamon in der Küche ein und ließ mich von einem Araber bewachen, den er von seiner letzten Reise aus Tanger mitgebracht hatte. Sie haben bereits versucht, mich umzubringen, und ich fürchte, das nächstemal –‹

Hier endete das Schreiben plötzlich. Aber als Sadi das Blatt umwandte, weiteten sich seine Augen. Die Anklage stand auf der Rückseite einer Tratte auf die Bank von England in Höhe von hunderttausend Pfund ...

Hamon erwachte, während Sadi noch las.

»Geben Sie mir mein Eigentum zurück, wenn Sie fertig sind«, sagte er.

Der Maure zeigte nicht die geringste Verlegenheit und legte das Schriftstück wieder auf den Tisch.

»Jetzt weiß ich Bescheid. Ich wunderte mich schon immer, warum Sie in so großer Unruhe waren. Sie sind doch ein Narr – das Dokument bringt Sie noch an den Galgen –, warum verbrennen Sie es denn nicht?«

»Weil ich es brauche – ich muß es behalten«, erwiderte Ralph und steckte die Brieftasche wütend ein.

Gegen Abend sah er, daß einer von Sadis Leuten sein Pferd bestieg und ein anderes am Zaum führte. Das konnte nur eins bedeuten. Dieser Bote sollte so schnell wie möglich nach Tanger reiten. Er nahm ein zweites Pferd mit, um unterwegs wechseln zu können. Und er konnte nur einen bestimmten Auftrag haben.

Ralph Hamon lachte leise vor sich hin. Aus irgendeinem Grunde bereitete ihm diese Entdeckung unendliches Vergnügen. Sadi Hafis wollte also auf seine Kosten die eigene Haut retten. In zwei Tagen, vielleicht schon morgen, konnten der Befehl und die Vollmacht von dem Vertreter des Sultans kommen, und er, Ralph Hamon, würde dann von dem Mann verhaftet werden, mit dem er so eng befreundet gewesen war. Sadi würde ihn nach Tanger bringen und dem Gericht ausliefern.

Er ging hinters Haus und rief seinen Stallmeister zu sich.

»Ich werde heute nacht eine Reise machen, aber sie muß geheim bleiben. Du bringst mein und dein Pferd an den Bach, wo er die Straße kreuzt. Wir reiten zur Küste und gehen später auf spanisches Gebiet über. Du bekommst zweitausend Peseten von mir, wenn du schweigst. Bist du einverstanden?«

»O Herr, du hast meinen Mund mit Goldfäden zugenäht«, sagte der Mann.

Hamon speiste mit Sadi zu Abend.

Von der kleinen Uhr im Wohnzimmer schlug es Mitternacht, als Hamon in Reitanzug und dickem Mantel die Treppe hinunterstieg. Er trug Gummischuhe über den Stiefeln und schlich sich geräuschlos zu Sadis Schlafraum. Leise klinkte er die Tür auf und lauschte, bis er den regelmäßigen Atem des Schlafenden hörte. Dann zog er ein langes, gerades Messer aus der Tasche und trat in das Zimmer ein, in dem nur eine Kerze brannte. Er blieb ein paar Minuten dort, dann löschte er das Licht und verließ den Raum wieder.

Er ritt zwei Stunden in scharfem Trab, dann hielt er an, und sein Diener bereitete ein Mahl. Hamon saß am Feuer.

»O Herr, ich sehe Blut an deinem Ärmel und an deinen Händen!« rief sein Begleiter plötzlich erregt.

»Das ist nichts!« erwiderte Hamon ruhig. »Am Abend wollte mich ein Hund beißen. Ich habe ihn getötet.«


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