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25

In einer Woche hatte sich Ralph Hamons Aussehen stark verändert. Zeitweise erschien er seiner Schwester wie ein alter Mann. Er war grau geworden, und neue Falten zeigten sich in seinem düsteren Gesicht. Auch ging er gebückter. Lydia, die in ihrer Weise klug war, versuchte nicht, zu tief in die Ursachen seines Kummers einzudringen. Zu ihrem Erstaunen bekam er keinen Wutanfall, als sie ihm das Resultat ihrer Unterredung mit Morlake berichtete, sondern nahm alles mit der größten Ruhe auf. Selbst ihre Bemerkung über die Anwesenheit Joan Carstens in Wold House regte ihn nicht auf.

Am Tage nach ihrer Unterredung mit Jim ließ sie ihr Gepäck zum Bahnhof bringen. Die Fahrkarte war schon in ihrer Handtasche. Dann ging sie zum Büro ihres Bruders.

»Heute nachmittag fahre ich nach Paris zurück«, sagte sie gleichgültig. »Ich möchte ein wenig Geld haben.«

Er schaute von seiner Arbeit auf.

»Wer hat dir denn gesagt, daß du nach Paris gehen sollst?«

Sie tat sehr erstaunt, aber das machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn.

»Du bleibst bis auf weiteres hier. Es ist möglich, daß wir von hier fort müssen, vielleicht schon sehr bald.«

»Was ist denn los?« fragte sie ängstlich. »Steht die Sache wirklich so schlimm?«

»So schlimm wie nur irgend möglich, wenigstens im Augenblick. Sieh einmal, Lydia«, fuhr er in liebenswürdigem, freundlichem Ton fort, »ich möchte nicht, daß du mich in diesem Augenblick allein läßt. Du mußt bei mir bleiben. Und außerdem habe ich Sadi versprochen, dich nach Tanger mitzunehmen.«

Sie erwiderte nichts, setzte sich ihm gegenüber, stemmte die Ellbogen auf den Tisch und sah ihn scharf an.

»Hast du Sadi nicht noch mehr versprochen?«

Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen.

»Vor fünf oder sechs Jahren warst du sehr darauf aus, daß ich in Tanger wohnen sollte. Was hast du Sadi versprochen?«

»Nichts Bestimmtes. Du mochtest ihn doch früher ganz gern.«

»Ja, damals interessierte er mich natürlich. Jedes junge Mädchen würde sich für einen gutaussehenden Araber interessieren. Aber nach deinen letzten Erzählungen ist er mir nicht mehr hübsch genug, und außerdem habe ich mir jetzt eine gesellschaftliche Stellung erobert.«

»Ich brauche Sadi, er ist äußerst nützlich für mich. Er gehört zu einer der ersten maurischen Familien – er ist Christ – wenigstens glaubt man es von ihm – und er ist reich.«

Sie lächelte verächtlich.

»Er ist so reich, daß er von dir eine vierteljährliche Unterstützung annimmt! Nein, Ralph, du kannst mich nicht hinters Licht führen. Ich weiß über Sadi Bescheid. Er ist ein verteufelt hinterlistiger Maure, und wenn du etwa glaubst, daß ich die Rolle der Desdemona spielen soll, dann täuschest du dich. Ich habe Othello nie leiden mögen. Sadi ist ganz interessant, das gebe ich zu, und er mag in Tanger auch eine bedeutende Persönlichkeit, er mag sogar ein Christ sein, obwohl ich das stark bezweifle. Aber ich will nicht Nummer dreiundzwanzig bei ihm sein und meine Tage in einem stickigen Harem beenden, selbst wenn ich die kostbarste Perle und die Hausfrau des Scherifs Sadi Hafis werden sollte ...«

»Sadi hat dich sehr gern, und solche Heiraten gehen oft sehr glücklich aus. Die Regierung gibt viel auf ihn – er besitzt den größten Einfluß und hat die ganze Brust voller Orden.«

»Und wenn er geschmückt wäre wie ein Christbaum, er würde mir doch nicht passen«, erklärte sie entschieden. »Wir wollen diese Sache als beendet ansehen.«

Sie war erstaunt, daß er ihre offene Sprache ohne Widerspruch hinnahm.

»Du kannst es halten, wie du willst. Aber auf jeden Fall mußt du in London bleiben, Lydia, bis ich meine anderen Angelegenheiten geregelt habe.«

Nachdem sie gegangen war, gab er sich Mühe zu arbeiten, aber er hatte keinen Erfolg. Von Zeit zu Zeit sah er auf die Uhr, als ob er noch Besuch erwarte. Am Morgen war ein Telegramm aus Tanger angekommen. Er zog es mehrmals aus der Tasche und las es immer wieder durch. Daß Sadi kein Geld hatte, war nichts Neues für ihn, aber diese letzte Forderung interessierte ihn im Hinblick auf weiterhin mögliche Entwicklungen.

Später klingelte er nach seinem Sekretär.

»Nehmen Sie den Scheck mit zur Bank und bringen Sie das Geld in Fünfpfundnoten.«

Der wohlerzogene Mann stutzte nicht, als er die Zahlen las. Er war gewohnt, mit großen Summen umzugehen, aber nur in seltenen Fällen hatte Mr. Hamon sich einen so großen Betrag auszahlen lassen.

Nach einer halben Stunde kam der Sekretär mit drei dicken Paketen Banknoten zurück. Hamon gab sich nicht einmal die Mühe, sie zu zählen. »Ich erwarte Mr. Marborne«, sagte er, als er das Geld in seine Schreibtischschublade legte. »Lassen Sie ihn sofort herein, wenn er kommt.«

Marborne sollte um halb drei kommen, aber es war schon fast drei, als er in das Büro schwankte. Sein Aussehen hatte sich merkwürdig verändert. Er war in einer Weise gekleidet, die er für die modernste und feinste hielt: Er trug eine rotseidene Krawatte und einen grauen Zylinder. Nachlässig nahm er eine große Zigarre aus dem Mund und nickte dem Mann hinter dem Schreibtisch zu.

»Guten Morgen. Tut mir leid, daß ich ein bißchen zu spät komme, aber ich mußte einige Besuche machen.«

Er hatte getrunken; Hamon merkte es sofort.

»Na, haben Sie das Geld für mich, Alter?«

Ohne ein Wort zu verlieren, zog Hamon die Schublade auf und legte das Geld auf den Tisch.

»Danke«, sagte Marborne äußerst höflich. »Nun, wie fühlt man sich, wenn man einen Gefolgsmann hat?«

Hamon stützte die Ellbogen auf den Tisch und starrte den Erpresser an.

»Marborne, ich will Sie ja nach Kräften finanzieren, aber Sie müssen auch Ihr Versprechen halten.«

»Ich erinnere mich nicht, Ihnen irgendein Versprechen gegeben zu haben«, erwiderte der Inspektor kühl. »Ich sagte Ihnen doch, daß Ihr Geheimnis bei mir sicher aufgehoben ist. Sie werden in Zukunft nicht mehr an kleinen Ausgaben herumnörgeln, die ich für Sie gemacht habe, was?« fragte er vergnügt. »Ich muß jetzt die Stellung, die ich einnehme, aufrechterhalten. Und um Ihretwillen bin ich aus der Polizei ohne Pension entlassen worden. Ebenso Slone. Sie hätten uns ruhig verhungern lassen, wenn ich nicht zum Glück etwas neugierig gewesen wäre.«

»Wo haben Sie denn das – das Schriftstück gelassen? Wenn es nun einem anderen in die Hände fällt?«

Marborne lachte.

»Denken Sie denn, ich wäre so verrückt, eine gute Existenz so einfach aufs Spiel zu setzen?« fragte er verächtlich.

Unbewußt drückte er die Hand an die linke Seite. Es war eine unfreiwillige Bewegung, aber sie entging dem aufmerksamen Hamon nicht.

»Ich habe es in einem Geldschrank verwahrt«, sagte Marborne laut. »Er ist diebes- und feuersicher, und nur ich allein habe den Schlüssel – verstehen Sie?«

»Ja, ich verstehe«, erwiderte Hamon und war beinahe liebenswürdig, als er die Tür öffnete, um seinen Besucher hinauszulassen.

Er ging zu seinem Schreibtisch zurück, nahm ein Telegrammformular heraus und schrieb ohne Zögern eine Nachricht an ›Colport, Hotel Cecil, Tanger‹. Es gab nur eine Lösung, sich von der Tyrannei dieses Marborne zu befreien – der Mann mußte den Weg des unbekannten Matrosen gehen, den ein Radfahrer in der Portsmouth Road sterbend aufgefunden hatte.


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