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45

Jim beriet sich kurz mit dem Polizeioffizier, bevor er sich von Lord Creith an die Stelle führen ließ, wo Joan verschwunden war.

»Ich glaube, es war hier!«

Jim sprach mit dem Beamten, aber dieser schüttelte den Kopf.

»Dabei kann ich Ihnen nicht helfen – es könnte zu großen Unannehmlichkeiten für mich führen. Ich kann Ihnen nur beispringen, wenn Sie meine Hilfe brauchen.«

»Das genügt mir«, sagte Jim.

In der Mauer befand sich ein kleines Tor. Jim ging darauf zu und klopfte.

Nach einiger Zeit öffnete sich ein Guckloch, und ein braunes Gesicht erschien in der Öffnung.

»Der Scherif ist nicht zu Hause«, sagte die Sklavin.

»Öffne, du Rose von Saron«, erwiderte Jim liebenswürdig. »Ich komme von dem Pascha und bringe Neuigkeiten für den Scherif.«

Die Frau zögerte.

»Ich darf nicht öffnen«, entgegnete sie, aber Jim spürte, daß sie unentschlossen war, und zog daraus sofort Vorteil.

»Ich bringe Nachricht von Hamon«, flüsterte er. »Geh zum Scherif und sage ihm das.«

Das Guckloch wurde geschlossen. Jim sah sich nach Lord Creith um, der neben ihm stand und ein sorgenvolles Gesicht machte.

»Es ist besser, Sie warten drüben bei dem Franzosen.«

»Aber wenn sie hier in dem Haus ist, werde ich darauf bestehen, daß –«

»Wenn überhaupt etwas zu machen ist, werde ich es erreichen«, sagte Jim grimmig. »Und Sie helfen mir am besten damit, daß Sie nicht dazwischentreten.«

Gleich nachdem sich der Lord widerwillig entfernt hatte, wurden die Riegel zurückgezogen. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß, das Tor wurde ein wenig geöffnet, und Jim trat ein. Er stand auf dem quadratischen Hof, den er schon vor vielen Jahren einmal gesehen hatte, und blickte zu dem alten, verkommenen Brunnen und der verfallenen Veranda mit den verblaßten Polsterstühlen hinüber.

Als aber ein Mann dort erschien, ging er schnell quer über den Hof und stieg eilig zur Veranda hinauf.

»Sadi Hafis, du mußt mir helfen«, sagte er.

Bei dem Klang dieser Stimme schrak der Maure zusammen.

»Großer Gott!« sagte er atemlos. »Ich wußte nicht, daß du in Tanger bist, Milaka!«

Sein an und für sich blasses Gesicht schien noch farbloser zu werden.

»Was kann ich für Sie tun, mein lieber Captain Morlake?« fragte er dann in vorzüglichem Englisch. »Es ist wirklich eine Überraschung für mich – warum haben Sie denn Ihren Namen nicht gesagt?«

»Weil du mich dann nicht hereingelassen hättest. Wo ist Lady Joan Carston?«

Bestürzung zeigte sich auf Sadis Gesicht.

»Lady Joan Carston? Ich kann mich nicht auf den Namen besinnen. Ist es eine Dame von der Britischen Gesandtschaft?«

»Wo ist die junge Dame, die vor einer halben Stunde hier hereingelockt wurde? Ich warne dich, Sadi Hafis! Ich werde dieses Haus nicht ohne sie verlassen!«

»So wahr der allmächtige Gott lebt«, protestierte Sadi heftig, »ich weiß nicht, wo die Dame ist, und beim Paradiese Allahs, ich habe sie nicht gesehen. Warum sollte sie denn auch in meinem ärmlichen Hause sein, da sie doch offenbar von hohem englischen Adel ist?«

»Wo ist Lady Joan Carston?« wiederholte Jim nachdrücklich. »Bei Gott, Sadi, ich rate dir, mir jetzt endlich Antwort zu geben, oder ich frage einen toten Mann um Auskunft!«

Im Nu hatte er eine Pistole gezogen. Der Glanz der Waffe schien Sadi einen Augenblick zu blenden, denn er schloß die Augen und blinzelte.

»Das ist ein gewaltsamer Überfall!« rief er aufgeregt auf arabisch. »Ich werde es dem Konsulatsgericht melden –«

Jim stieß ihn zur Seite und trat in die fliesenbelegte Halle. Links befand sich eine Tür, die offenbar in Sadis Rauchzimmer führte, denn es roch nach Haschisch und Tabak. In der einen Ecke des Raumes war eine eiserne Wendeltreppe, auf der man in das obere Geschoß gelangen konnte. Sie war eine Merkwürdigkeit in dieser primitiven orientalischen Umgebung. Ohne Zögern eilte Jim hinauf. Mit einem Schrei sprang ein Mädchen, das dort gesessen hatte, auf und verhüllte das Gesicht mit einem Schleier.

»Wo ist die englische Dame?« fragte Jim schnell.

»O Herr«, sagte sie zitternd, »ich habe keine englische Dame gesehen.«

»Wer ist sonst noch hier?«

Er eilte durch den halbdunklen Raum und zog die Vorhänge von drei Schlafplätzen zur Seite, aber Joan war nicht da. Dann stürzte er die Treppe wieder hinunter. Er wußte, bevor Sadi noch feuern konnte, was sich ereignen würde, denn er hatte das unverzeihliche Verbrechen begangen, in den Harem eines orientalischen Großen einzudringen.

»Steck deine Pistole ein, oder du wirst sterben!« rief er.

Sadi feuerte nach der Stelle, wo Jim gestanden hatte, aber als dieser dann unerwartet wieder hinter einer Säule erschien, hob er die Hände in die Höhe. Im nächsten Augenblick warf sich Jim auf ihn und nahm ihm die Waffe ab.

»Nun – wo ist Joan Carston?«

»Ich sagte dir schon, daß ich es nicht weiß.«

Vor der Tür sammelte sich eine Schar furchtsamer Diener. Jim warf die Tür schmetternd ins Schloß und schob die Riegel vor.

»Wo ist Joan Carston?«

»Sie ist fortgegangen«, erwiderte Sadi dumpf.

»Du lügst – sie hatte noch keine Zeit fortzugehen.«

»Sie war nur eine Minute hier, dann ging sie in die Straße der Schulen – ein Tor führt von meinem Hause dorthin.«

»Mit wem ist sie fortgegangen?«

»Das weiß ich nicht.«

Jim stand drohend vor ihm, und seine Augen sprühten Zorn.

»Sadi«, sagte er langsam und nachdenklich, »kennst du Zafuri? Gestern abend erzählte er mir, daß er deinen Kopf abschlagen wird, weil du ihn bei der Regierung verraten hast. Auch hast du Geld von ihm genommen, um Gewehre für ihn zu kaufen, und du hast das Geld für dich verbraucht. Wenn du mir jetzt die Wahrheit sagst, werde ich dir das Leben retten.«

»Mir ist schon so oft gedroht worden, Milaka«, entgegnete Sadi wieder kühner. »Und was ist mir geschehen? Ich bin noch immer am Leben. Und ich erkläre dir noch einmal, ich weiß nichts von dieser Dame.«

»Du hast doch eben gesagt, daß sie hier im Hof war und daß man sie durch die Tür dort in die Straße der Schulen gebracht hat! Wer hat sie mitgenommen?«

»So wahr Allah lebt, das weiß ich nicht!« rief Sadi.

»Das wirst du büßen, Sadi Hafis!«

Donnernd warf er die Tür ins Schloß und ging aus dem Haus über den Hof. Er sah, daß Sadi wenigstens insofern die Wahrheit gesagt hatte, als noch eine andere Tür nach der engen Straße führte. Dann erinnerte er sich plötzlich daran, daß Joans Vater Leute gesehen hatte, die eine schwere Kiste trugen. Nachforschungen ergaben, daß vier Männer in der nächsten Straße den Kasten auf einen Wagen geladen hatten, der schon den ganzen Morgen dort gewartet hatte. Ein Kameltreiber, der in der Nähe geruht hatte, bestätigte diese Angabe und sagte, daß sich in dem Kasten etwas bewegt habe. Er habe die Männer nach dem Inhalt gefragt, und sie hätten geantwortet, daß sie Hühner trügen.

Jim eilte durch die Menge, die sich auf dem Markt angesammelt hatte, und verschwand unter den Leuten. Zehn Minuten später sah Lord Greith ein großes Auto in schnellstem Tempo die Straße entlangrasen: Jim saß am Steuer.

»Ich fand den Wagen vor dem Hotel d'Angleterre«, rief er atemlos. »Gott weiß, wem er gehören mag.«

Lord Creith sprang schnell hinein.

Jim fuhr die Straße nach Fes entlang. Er konnte die Spuren des Wagens noch zehn Meilen von Tanger entfernt verfolgen.

»Dort steht der Wagen ja«, sagte er plötzlich.

Die Leute hatten ihn stehengelassen, aber die Kiste stand noch darauf. Jim hielt an. Er sah sofort, daß sie leer war; der Deckel lag im niedrigen Gestrüpp an der Seite des Weges.

Als er in die Kiste sah, fand er da einen weißen Schuh.

»Er gehört Joan!« rief Lord Creith, als Jim ihm den Fund zeigte.


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