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Wieviel mochte dieser Mann wissen? Hatte Morlake ihm erzählt –?
Hamon erinnerte sich an einen sonnigen Tag in Marokko, an dem zwei Männer auf Mauleseln durch die Wüste auf die Rifhügel zuritten. Er selbst war einer der beiden, der andere war ohne Namen. Als sie den sandigen Abhang emporklommen, kam plötzlich ein junger Mann im schärfsten Galopp auf sie zu, hielt an und beobachtete sie, nachdem sie vorüber waren. Das war Hamons erste Begegnung mit James Lexington Morlake gewesen.
Jetzt erinnerte er sich auch, daß er damals plötzlich den unbändigen Wunsch hatte, sich auf den Mann zu stürzen und ihn niederzuschießen. Der Beobachter bedeutete für ihn die größte Gefahr. Ralph Hamon faßte mit der Hand mechanisch zur Hüfttasche, wo seine Pistole steckte. Aber dann schüttelte er die Träume von sich ab und verließ das Büro.
Lydia wartete schon ungeduldig auf ihn.
»Ich habe eine Verabredung zum Abendessen mit Lady Clareborough. Ich habe nur noch fünf Minuten Zeit!« erklärte sie ärgerlich.
»So, fünf Minuten hast du nur für mich übrig? Na, ich glaube, das genügt auch. Es handelt sich um Morlake.«
»Morlake?« fragte sie, unangenehm berührt. »Haben wir mit ihm nicht Schluß gemacht?«
»Die Frage ist jetzt nur, ob er mit mir Schluß gemacht hat. Du mußt mit ihm bekannt werden, ganz gleich, wieviel Geld das kostet. Ich möchte zu irgendeiner Verständigung mit ihm kommen, Frieden mit ihm machen. Und ich glaube, daß du die Sache besser vermitteln kannst als ich. Du bist klug und hast Erfindungsgabe. Vielleicht ist er auch der Mann, der einer Frau gegenüber zugänglich ist – es gibt wohl nur wenige, auf die du keinen Eindruck machst.«
»Was meinst du mit – zugänglich? Soll er mich etwa heiraten oder sich in mich verlieben? Oder was soll es sonst heißen?«
»Es ist mir ganz egal, was er tut, wenn du ihn nur überreden kannst, seine Rachepläne gegen mich aufzugeben.«
»Sorgt denn nicht das Gesetz bereits dafür, daß du nichts mehr von ihm zu befürchten hast? Ich habe den Bericht über die Gerichtssitzung gelesen, und nach dem, was der Richter sagte, machst du dir doch wahrscheinlich unnötige Sorgen. Außerdem möchte ich die gesellschaftliche Stellung, die ich mir erobert habe, nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen, indem ich mit einem verurteilten Verbrecher verkehre – nach dem Prozeß ist er so gut wie verurteilt. Ich muß vor allen Dingen an meine Bekannten denken.«
»Na, dann geh zu deinem Dinner!« entgegnete er barsch. »Ich dachte, du hättest dir diese Dummheiten aus dem Kopf geschlagen.«
Sie wollte ihm leidenschaftlich widersprechen, aber als sie seinen Blick sah, schwieg sie.
Ralph Hamon war ein reicher, aber ein geiziger Mann. Er verwahrte nutzlose Dinge in der Hoffnung, sie eines Tages doch noch verwenden zu können. Nie verschwendete er ein Blatt Papier, auf das man noch eine Zeile schreiben konnte.
Jim Morlake hatte diese Schwäche sehr gut charakterisiert, als er Hamon die Parabel von dem Affen und der Kürbisflasche erzählte. Aber diese Eigenschaft war nicht nur eine Schwäche, sie konnte ihm sogar zum Verhängnis werden. Seine Vernunft sagte ihm, daß er ein gewisses Schriftstück, das er besaß, verbrennen sollte. Aber obwohl er schon ein dutzendmal fest dazu entschlossen war, brachte er es doch nicht fertig.
Die Bibliothek, in der er sich gewöhnlich aufhielt, wenn er arbeitete, lag im Obergeschoß seines Hauses am Grosvenor Place. Er las wenig, trotzdem waren drei Wände des Raumes mit Bücherschränken und Regalen, die die üblichen Werke enthielten, bedeckt.
Einen Band nahm er allerdings öfter zur Hand. In einem kleinen, besonderen Schrank mit Glastüren standen neben anderen Büchern Emersons Essays.
Hamon verriegelte die Tür, zog die Vorhänge dicht zu, öffnete den Schrank und holte das prachtvoll gebundene Exemplar heraus. Er brauchte beide Hände, um es herunterzuheben und zum Tisch zu tragen.
Der Einband war äußerst geschickt nachgemacht, und der Buchschnitt täuschend ähnlich.
Hamon wählte einen Schlüssel aus dem Bund, den er an einer langen Kette in der Tasche trug, steckte ihn in ein Loch zwischen Deckel und Seiten und schloß auf. Als er den Deckel hochhob, enthüllte sich das Buch als ein flacher, halb mit Dokumenten gefüllter Kasten, der aus solidem Stahl gefertigt war. Hier verwahrte Hamon seine wichtigsten Akten.
Er nahm ein Schriftstück heraus, legte es auf den Schreibtisch und schaute auf das engbeschriebene Blatt. Es war von Anfang bis zu Ende eine große Anklage gegen ihn. Gefängnis und Todesstrafe standen auf die Taten, die hier von ihm berichtet wurden. Mit zitternder Hand entzündete er ein Streichholz, zögerte, warf es in den Kamin und legte das Blatt wieder in den Kasten zurück.
Es klopfte an die Tür. Nachdem er den Deckel hastig zugeklappt hatte, stellte er das Buch wieder an seinen Platz zurück und drückte die Schranktür zu.
»Wer ist da?«
»Wollen Sie Mr. Marborne empfangen?« fragte der Diener mit leiser Stimme.
»Ja, lassen Sie ihn heraufkommen!«
Er zog den Riegel zurück und trat an die Treppe hinaus, um den übelgelaunten Detektiv zu begrüßen.
»Sie haben die ganze Sache verpfuscht!« sagte Hamon ärgerlich.
»Meine Karriere ist futsch – das kann ich Ihnen sagen, Hamon! Ich muß den Dienst quittieren! Ich wünschte, ich hätte mich nie mit diesem verdammten Morlake abgegeben!«
»Es hat gar keinen Zweck, jetzt Spektakel zu machen.«
»Welling hat mir mitgeteilt, daß ich entlassen bin, aber selbst wenn ich noch im Dienst bleiben könnte, würde ich es doch vorziehen, meinen Abschied zu nehmen. Ich wäre doch für alle Zeiten gebrandmarkt. Sie müssen eine Stelle für mich finden!«
»Sieh mal einer an! Ich soll Ihnen jetzt eine Stelle beschaffen? Ich dachte, Sie wären bescheidener!«
»Ich weiß nicht, wer jetzt bescheidener sein muß, ich oder Sie!« fuhr Marborne heftig auf.
»Wir wollen uns nicht zanken.« Hamon goß Whisky ein und füllte das Glas aus dem Siphon. »Ich glaube, daß ich eine Stelle für Sie finden kann. Ich brauche einen Mann in Tanger, der meine Interessen dort vertritt. Aber überlegen Sie mal, ich war es nicht, der Sie in diese böse Lage gebracht hat – das war James Morlake!«
»Dieser verdammte Kerl!« rief Marborne und trank sein Glas in einem Zug aus. Dann setzte er sich an den Schreibtisch, nahm ein Blatt Papier aus der Brieftasche und entfaltete es.
»Ich habe meine Spesen für die Sache zusammengerechnet – hier ist die Aufstellung.«
Hamon stöhnte, als er die Endsumme las.
»Das ist aber doch ein starkes Stück – ich habe Sie nicht ermächtigt, so hohe Ausgaben zu machen!«
»Sie haben mir gesagt, ich könne so viel brauchen, wie ich wolle!«
»Das sind doch beinahe tausend Pfund!« rief Hamon entsetzt. »Ich bin ein geschlagener Mann.«
»Das ist mir gleich, was Sie sind; auf alle Fälle haben Sie zu zahlen! Auch Slone muß noch etwas bekommen!«
»Sie scheinen ganz zu vergessen, daß ich Ihnen schon reichlich Geld gegeben habe –« begann Hamon, als er plötzlich unterbrochen wurde.
Der Butler erschien in der Tür und flüsterte seinem Herrn etwas, zu.
»Er ist hier?« fragte Hamon aufgeregt.
»Ja, er wartet unten.«
Hamon wandte sich zu Marborne. Sein Ärger war verflogen.
»Er ist da!« sagte er.
»Er? Wer?« fragte Marborne verwundert. »Sie meinen doch nicht etwa Morlake?«
Hamon nickte.
»Sie bleiben besser hier oben, ich gehe hinunter und spreche mit ihm. Lassen Sie aber die Tür offen; wenn Lärm oder Streit entsteht, kommen Sie.«
Hamon begrüßte Jim Morlake in der Diele mit der größten Herzlichkeit.
»Treten Sie doch bitte näher, lieber Morlake!« Er öffnete die Tür des Wohnzimmers. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich mich freue, daß Sie freigesprochen worden sind.«
Jim antwortete nicht, bis er in den Raum getreten war und die Tür geschlossen hatte. »Ich habe die Absicht, meine üble Karriere aufzugeben, Hamon«, sagte er kurz und bündig.
»Ich denke, daran tun Sie sehr gut. Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann –«
»Ja, Sie können mir behilflich sein. Geben Sie mir ein Dokument, das von einem gewissen Mann unterschrieben ist – Sie wissen, wen ich meine. Vor etwa zwölf Jahren sah ich ihn mit Ihnen zusammen in Marokko.«
»Nehmen wir einmal an, ich hätte das Schriftstück«, erwiderte Hamon nach einer Pause, »glauben Sie, ich wäre so verrückt, es Ihnen zu geben, um meine Freiheit in Ihre Hände zu legen?«
»Ich würde Ihnen genug Zeit lassen, aus dem Land zu verschwinden, und ich würde mich auch verpflichten, die Anklage, die in dem Schriftstück gegen Sie erhoben wird, nicht zu unterstützen. Ohne meine Aussage würde eine Anklage gegen Sie zusammenbrechen.«
Hamon lachte rauh.
»Ich habe nicht die Absicht, England zu verlassen, besonders nicht am Vorabend meiner Hochzeit – ich heirate nämlich Lady Joan Carston.«
»Ist das nicht die Tochter von Lord Creith?«
Hamon nickte.
»Sie werden die Dame aber nicht heiraten, ohne daß sie verschiedenes über Sie erfährt.«
»Sie weiß alles von mir, was sie wissen muß.«
»Dann werde ich ihr noch ein wenig mehr erzählen. Immerhin haben Ihre Heiratspläne mit der Sache, die wir hier besprechen, nichts zu tun. Ich bin gekommen, um Ihnen eine Chance zu geben und mir zugleich eine Menge Unannehmlichkeiten zu ersparen. Ich brauche dieses Dokument.«
»Sie jagen hinter einem Phantom her«, entgegnete Hamon verächtlich. »Was dieses wertvolle Dokument betrifft, so existiert es überhaupt nicht – es hat sich jemand einen Scherz mit Ihnen erlaubt und sich über Ihre Leichtgläubigkeit lustig gemacht. Hören Sie, Morlake! Könnten wir unseren Streit denn nicht als Gentlemen beilegen?«
»Ich könnte das wohl von meiner Seite aus, denn ich bin ein echter Gentleman, aber Sie können Ihre Angelegenheiten höchstens als ein niederträchtiger Schwindler und Verbrecher regeln, der durch den finanziellen Ruin anderer Menschen zu Vermögen gekommen ist. Es ist die letzte Möglichkeit für Sie und vielleicht auch für mich. Geben Sie mir das Schriftstück, und wir sind miteinander fertig.«
»Eher will ich in die Hölle kommen«, rief Hamon wütend. »Selbst wenn ich es hätte – aber ich habe es nicht –«
Jim nickte nachdenklich und ging zur Tür.
»Ich sehe, die Hand des Affen, bleibt eben in der Kürbisflasche. Er ist zu gierig, um die Dattel fahrenzulassen.«
Hamon eilte zur Bibliothek hinauf, nachdem Morlake gegangen war.
»Unser Freund ist immer noch sehr aufsässig«, sagte er, aber er sprach in den leeren Raum. Rasch klingelte er nach dem Butler.
»Haben Sie gesehen, daß Mr. Marborne weggegangen ist?«
»Jawohl, er ging vor einigen Sekunden, gerade bevor Sie aus dem Wohnzimmer kamen. Er schien es sehr eilig zu haben.«
»Das ist aber seltsam«, meinte Hamon und entließ den Mann wieder.
Auf dem Schreibtisch entdeckte er eine Bleistiftnotiz.
›Wenn Sie meine Aufstellung nicht begleichen wollen, zahlen Sie vielleicht nachher eine größere Rechnung.‹
Hamon rieb sich nervös das Kinn. Was bedeuteten diese sonderbaren Worte? Wahrscheinlich war Marborne aus Ärger wieder gegangen. Hamon zuckte die Schultern und setzte sich. Er hatte keine Zeit, sich um die Launen der Leute zu kümmern, die ihm als Werkzeug gedient hatten.
Als er sich umschaute, bemerkte er, daß die Glastür zum Bücherschrank offenstand, und er hätte doch schwören mögen, daß er sie geschlossen hatte. Mit einem Fluch sprang er auf.
Das Stahlbuch war an seiner Stelle, aber der Titel stand auf dem Kopf. Jemand mußte es in der Hand gehabt haben.
Schnell nahm er es herunter, und zu seinem größten Schrecken' ließ sich der Deckel öffnen. Er hatte vergessen, es zuzuschließen.
Zitternd suchte er die Dokumente durch – aber das belastende Schriftstück fehlte!
Mit einem wütenden Ausruf lief er zur Tür und rief den Butler.
»In welcher Richtung hat sich Marborne entfernt?« fragte er hastig.
»Nach rechts.«
»Holen Sie mir schnell ein Auto!«
Hamon legte die Dokumente wieder in den Kasten, verschloß ihn und stellte ihn in den Schrank zurück. Dann fuhr er zu Marbornes Wohnung.
Als er dort ankam, sagte man ihm, daß der Detektiv nicht nach Hause gekommen sei. Er habe erst kurz vorher angeläutet und mitgeteilt, daß er nach dem Festland hinüber müsse.
Hamon überlegte schnell. Es blieb ihm nur eins übrig: sofort zur Polizei zu gehen. Marborne war noch Beamter und mußte sich früher oder später in Scotland Yard melden.
Dort hatte Hamon das Glück, Welling zu treffen. Der alte Herr schien über seinen Besuch in keiner Weise überrascht zu sein.
»Sie wollen Marborne sprechen? Handelt es sich um eine wichtige Angelegenheit?«
»Wird er denn überhaupt zurückkehren – ich meine ...«, fragte Hamon atemlos.
»Sicher kommt er. Morgen früh hat er eine sehr dringende Besprechung mit dem Chef.«
»Hat er keine Freunde – wo wohnt eigentlich Slone?«
Welling rückte die Brille zurecht und sah seinen Besucher scharf an.
»Ist etwas Unangenehmes passiert?«
»Ja – ich wollte sagen nein. Wenigstens nichts Wichtiges – es geht nur mich und Marborne an.«
»So?« Welling ging zu einem Tisch, öffnete ein großes Buch und schlug Slones Adresse auf, notierte sie auf ein Blatt und gab es Hamon.
»Ich bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet. Ich erwartete nicht, daß Sie sich soviel Umstände machen würden.«
»Wir tun, was in unseren Kräften steht«, entgegnete Welling leise.
Als Hamon gegangen war, nahm Welling den Telefonhörer ab und rief den Posten am Portal an.
»Ein gewisser Hamon kommt gleich durch. Geben Sie Sergeant Lavington den Auftrag, ihm zu folgen und ihn nicht aus dem Auge zu verlieren. Ich will wissen, wohin er geht und was mit ihm los ist.«
Vergnügt rieb er sich die Hände und schaute in die Ferne.
Ich glaube, es wird sehr viel los sein, sagte er zu sich selbst.