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Der Polizeibeamte verstand nicht sofort.
»Was heißt das?« fragte er rauh. »Vorsätzlicher Mord?«
»Wieviel Sie von der Sache wissen, muß ich erst noch erfahren«, sagte Jim Morlake ruhig. »Aber an dem Tag, an dem ich Hamon fange, geht es auch Ihnen schlecht!«
»Wenn Sie Hamon fangen – wollen Sie denn Polizeibeamter werden?« fragte Marborne ironisch.
»Das ist gar nicht nötig – so tief werde ich niemals sinken.«
Der Detektiv bückte sich, packte ihn und zog ihn hoch, so daß Jim auf die Füße zu stehen kam.
»Kommen Sie jetzt mit und sehen Sie sich ein paar von den Sachen an, die man gefunden hat, als Sie verhaftet wurden«, sagte er und führte ihn den Korridor entlang ins Amtszimmer.
Auf dem Tisch des Sergeanten lagen verschiedene Dinge. Eine schwarze Seidenmaske, eine Pistole, ein vollständiger Satz von Einbrecherinstrumenten, eine kleine Azetylenlampe, ein Gummibehälter mit sechs Fläschchen und drei Bündel Dietriche.
»Das soll mir gehören? Wo hatte ich denn all diese Dinge – in meiner Westentasche vielleicht?«
»Einiges fand sich in Ihrem Mantel, das andere war unter dem Sitz Ihres Wagens verborgen«, sagte der Detektiv. »Sie geben doch wohl zu, daß Ihnen das alles gehört?«
»Ich gebe gar nichts zu. Das einzige, was ich nicht sehen kann, ist eine goldene Uhr mit Kette, die mir wirklich gehört. Ich nehme an, daß Sie sie zu persönlichen Zwecken konfisziert haben. Ich trug auch ein wenig Geld bei mir – ungefähr fünfundsechzig Pfund – auch das ist verschwunden. Das haben Sie wohl ebenfalls für sich behalten?«
»Geld und Uhr verwahre ich«, erwiderte der Sergeant. »Sie machen Ihre Lage nicht besser, wenn Sie diesen Beamten beschuldigen.«
»Vielleicht stimmt das«, gab Jim nach kurzem Nachdenken zu. Dann zeigte er seine gefesselten Hände.
»War das unbedingt notwendig?«
»Ich glaube nicht.«
Der Sergeant nahm einen Schlüssel, schloß die Handschellen auf und nahm sie ihm ab. Dann wurde Morlake in seine Zelle zurückgebracht. –
Joan Carston saß beim Frühstück in Lowndes Square und las in der Morgenzeitung, als Hamon gemeldet wurde. Seufzend legte sie das Blatt hin und sah ihren Vater an.
»Dieser Mensch! Warum kommt er jetzt schon wieder?« fragte er aufgeregt. »Ich dachte, wir hätten nun einmal für einen Monat Ruhe vor ihm!«
»Es wird vorübergehen«, meinte Joan resigniert. »Wir müssen ihn empfangen.«
Ralph Hamon war lebhaft und liebenswürdig, sie hatte ihn noch nie so strahlend gesehen.
»Ich habe einige sehr interessante Neuigkeiten für Sie«, sagte er jovial, nahm sich ohne Aufforderung einen Stuhl und setzte sich an den Frühstückstisch. »Wir haben den Teufel!«
»Na, dann legen Sie ihn in Ketten und schicken Sie ihn zur Hölle!« brummte der Lord.
»Von welchem besonderen Teufel sprechen Sie denn, Mr. Hamon?« fragte Joan niedergeschlagen.
»Von Morlake. Man hat ihn letzte Nacht auf frischer Tat ertappt, als er in ein Haus in Blackheath einbrach.«
Sie sprang auf.
»Das ist doch nicht wahr!« rief sie erregt. »Mr. Morlake ... o nein, das ist nicht wahr!«
»Es ist einwandfrei erwiesen«, erklärte Hamon. »Er wurde verhaftet, als er in das Haus eines Mannes einbrach, der eine Juwelensammlung besitzt. Glücklicherweise folgten ihm zwei Polizeibeamte, die ihn schon seit einiger Zeit beobachteten, und nahmen ihn fest, als er eben fliehen wollte. Colonel Paterson störte ihn nämlich bei der Arbeit.«
Lord Creith nahm seine Brille ab und schaute ihn erstaunt an.
»Sie meinen James Morlake, unseren Nachbarn?« fragte er ungläubig.
Hamon nickte: »Ich meine ›den Schwarzen‹, den geschicktesten Einbrecher seit Jahren.«
Joan war in ihren Sessel zurückgesunken, das Zimmer schien sich um sie zu drehen. Hamon sprach die Wahrheit. Seine Heiterkeit war der beste Beweis dafür.
»Meine Schwester wird sich übrigens die Ehre geben, Sie zu besuchen, Lady Joan«, wandte er sich höflich an sie.
»So?« fragte sie abwesend. »Ach ja, Sie haben eine Schwester in Paris. Es tut mir leid, daß ich heute nachmittag nicht zu Hause bin.«
»Das dachte ich mir und sagte ihr deshalb, daß sie morgen kommen solle. Sie wird Ihnen gefallen, sie ist ein gutes Mädchen, obwohl ich sie ein wenig verzogen habe.«
»Wann wird Mr. Morlake verhört?« fragte sie, ohne weiter auf Lydia Hamon einzugehen.
»Heute früh beginnt die Voruntersuchung, dann kommt er wieder in Untersuchungshaft, und nächste Woche wird er vor Gericht gestellt. Sie interessieren sich wohl für ihn? Nun, das ist ja natürlich. Solche Menschen haben etwas Romantisches an sich.«
»Hat er Freunde? Ich meine, jemand, der sich für ihn verbürgt?«
»In seinem Falle gibt es keine Bürgschaft. Die Polizei wird sich hüten, ihn gegen Kaution freizulassen, zumal seine Verhaftung nur nach einem harten Kampf möglich war.«
»Wurde er verletzt?« fragte sie schnell.
»Er hat einen oder zwei Schläge abbekommen«, erwiderte Hamon mit einem sorglosen Achselzucken.
Ihre Augen ließen ihn nicht los.
»Sie wissen sehr viel darüber. Man hat Sie vermutlich angerufen und Ihnen alles erzählt?«
»Ich weiß nur, was in den Zeitungen steht«, erwiderte Hamon schnell.
»Es steht nichts in den Zeitungen – es passierte wohl zu spät in der Nacht, um noch in die Morgenpresse zu kommen.«
Sie erhob sich und ging ohne ein Wort aus dem Zimmer.