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Jim Morlake kehrte in den frühen Morgenstunden nach Hause zurück. Um halb vier Uhr sah Spooner, daß der Schatten am Fenster verschwand und der Vorhang aufgezogen wurde. Im nächsten Augenblick öffnete Jim das bis zum Boden reichende Fenster und trat hinaus. Er schritt über den Rasen zum Tor. Der Detektiv zog sich in den Schatten der Büsche zurück, aber Jim rief ihn an.
»Sind Sie dort, Finnigan – oder sind Sie es, Spooner?«
»Spooner«, erwiderte der Beamte ein wenig verdutzt und trat vor.
»Kommen Sie herein und nehmen Sie einen Whisky-Soda. Sie haben sicher sehr gefroren heute nacht.«
»Wußten Sie denn, daß wir hier waren?«
Jim lachte: »Natürlich wußte ich das.«
Jim schenkte ihm ein Glas ein, und der Detektiv trank es in einem Zug aus.
»Es ist doch wirklich verrückt, daß man die Zeit eines Beamten so vergeudet –«
»Sie meinen zweier Beamter«, verbesserte ihn Jim.
»Sagen Sie einmal, wann schlafen Sie überhaupt?« fragte der Detektiv und nahm sich eine Zigarre aus dem Kasten, den Jim ihm reichte.
»Sehr selten«, erwiderte Morlake ernst. »Es erfrischt mich, wenn ich auf und ab gehe.«
»Aber wie machen Sie das? Ich sehe Sie immer nur in der einen Richtung an dem Fenster vorbeigehen.«
»Ich gehe um diesen Tisch herum«, entgegnete Jim gleichgültig. »Ich wollte Sie eigentlich fragen, ob Sie nicht einen Schrei gehört haben? Aber es kann sein, daß das lange Wachen mich nervös gemacht hat.«
»Ich habe nichts gehört. Das müssen Sie sich eingebildet haben. Aus welcher Richtung sollte er denn gekommen sein?«
»Von der Wiese auf der anderen Seite des Flusses. Aber wenn Sie ihn nicht gehört haben, dann wollen wir uns auch nicht weiter darum kümmern.«
»Ist dort eine Brücke?« fragte der Detektiv, der froh war, eine kleine Abwechslung zu haben. »Was für ein Geräusch war es denn?«
»Es klang wie ein Hilfeschrei. Wenn Sie denken, daß es sich lohnt, hole ich eine Lampe, und wir sehen einmal nach.«
Er steckte eine Windlaterne an, und sie eilten quer über den Rasen nach der kleinen Flußbrücke.
»Ich glaube, daß der Schrei von diesem Feld kam«, sagte er.
Spooner sah auch bald eine Gestalt auf dem Boden liegen.
»Wer ist es?« fragte Jim.
»Er scheint betrunken zu sein – hallo, wachen Sie auf!« Er zog den reglosen Mann auf die Knie und schüttelte ihn heftig an der Schulter. »Wachen Sie auf! Das ist ja der junge Mann, der im Haus von Mrs. Cornford wohnt!«
»Ich erkenne ihn jetzt auch. Wie mag er nur hierhergekommen sein? Vielleicht sind Sie so liebenswürdig, ihn zu mir zu bringen.«
Spooner holte Finnigan zu Hilfe, und Jim ging nach Hause zurück. Es war nicht nur die Arbeit dieser Nacht sehr schwer für ihn gewesen – Marbornes einbruchsicherer Safe war eine der schwierigsten Aufgaben, die er jemals gehabt hatte – auch die Verantwortung, die er für den halbverrückten Trunkenbold übernommen hatte, machte ihm zu schaffen. Während er seinen sehr gewagten Einbruch verübte, hatte Ferdie Farringdon im Wagen geschlafen, ebenso während der Rückfahrt. Schließlich mußte Jim ihn von dem Schuppen an, wo er seinen Wagen untergestellt hatte, halb tragen und halb führen. Er hatte ihn in den Wiesen von Creith House niedergelegt, als ihm einfiel, daß die Detektive, die sein Haus bewachten, doch ganz zweckmäßig dazu verwendet werden könnten, den armen Kerl nach Hause zu bringen.
Jim ging in sein Schlafzimmer, zählte den Stoß Banknoten, den er aus seiner Tasche nahm, steckte ihn in ein Kuvert, schrieb die Adresse darauf und verwahrte es in dem Geheimfach unter dem Teppich.
Was er finden wollte, hatte er nicht bekommen, aber sein Mißerfolg bedrückte ihn weniger als die merkwürdige Geschichte, die Farringdon ihm erzählt hatte. Es konnte doch unmöglich Joan sein – aber ihr Vater war ein Lord, sie hatte die herzförmige Narbe auf der Hand – und sie hieß Joan! Es ist ja Unsinn! sagte er zu sich selbst, das kann nicht sein! Unmöglich hat Joan das Leben dieses Mannes ruiniert. Sie ist doch noch ein Kind...
Sicher war es nur das Geschwätz eines Betrunkenen, aber er konnte sich mit dieser Erklärung nicht zufriedengeben. Schließlich nahm er sich vor, Mr. Farringdon am Morgen aufzusuchen und um eine Erklärung zu bitten. Er schlief vier Stunden, badete und kleidete sich an. Seine ersten Gedanken beim Erwachen beschäftigten sich wieder mit dem Betrunkenen und dessen Äußerungen.
Nachdem er eine Tasse Tee getrunken hatte, bestieg er sein Pferd und ritt den Seitenweg entlang, bis er zu der einsam stehenden Gärtnerwohnung kam. Er hatte Mrs. Cornford noch nie gesehen, aber er war ziemlich beeindruckt von ihr.
»Mein Name ist Morlake«, sagte er und beobachtete sie scharf. »Ich freue mich, daß Sie nicht gleich in Ohnmacht fallen, wenn sich Ihnen ein Verbrecher vorstellt.«
Sie lächelte, als sie seinen Namen hörte.
»Ich möchte gern den Herrn sprechen, der bei Ihnen wohnt.«
»Mr. Farringdon?« Ihr Gesichtsausdruck änderte sich plötzlich. »Es tut mir leid, daß Sie ihn nicht sehen können – er ist sehr krank. Sie wissen vielleicht, daß er an Trunksucht leidet. Gestern ist er durchgebrannt, als ich ins Dorf ging, um einzukaufen, und er ist erst heute früh zurückgekommen. Ich habe eben nach dem Arzt geschickt.«
»Ist er denn so krank, daß ich ihn nicht sprechen kann?«
»Seine Temperatur ist hoch, und auch sonst ist er sehr elend. Kennen Sie ihn gut?«
»Nein, ich weiß nur verschiedenes von ihm, das ist alles.«
Sie wollte anscheinend nicht weiter über Mr. Farringdon sprechen, und er verabschiedete sich. Er ritt querfeldein nach No Man's Hill.
Es war eine merkwürdige Laune von ihm, daß er von dem sonst üblichen Weg abbog und auf die Höhe des Hügels ritt. Er hatte plötzlich ein Bedürfnis nach Einsamkeit, die er dort oben zu finden hoffte.
Als er jedoch auf die offene Wiese kam, sah er sich unerwartet Lady Joan gegenüber. Sie saß im Sattel, schaute ihn mit einem merkwürdigen Lächeln an und lachte schließlich laut über sein erstauntes Gesicht.
»Mein Vater ist gestern abend nach Creith zurückgekommen«, sagte sie, »und unser gewöhnliches Leben hier auf dem Land hat wieder begonnen. Wir erwarten, daß auch Hamon jeden Augenblick hier erscheint.«
»Da kann ich Ihnen ja gratulieren!«
»Wissen Sie schon, daß in der letzten Nacht in London wieder eingebrochen wurde? Es sah einer Ihrer Heldentaten recht ähnlich!«
Sie schaute ihn bei diesen Worten durchdringend an.
»Eine schlechte Nachahmung. Wollen Sie mich denn für jeden Einbruch verantwortlich machen –?«
»Waren Sie es?«
Lachend stieg er vom Pferd.
»Sie sind eine sehr wißbegierige junge Dame – aber ich werde Ihre Neugierde nicht befriedigen.«
»Dann waren Sie es also doch!« Sie seufzte. »Ich fürchtete es schon. Hier im Dorf sind allerdings alle überzeugt, daß Sie Wold House nicht verlassen haben.«
»Ich war aber tatsächlich vorige Nacht in London. Was ich auch sonst Böses getan haben mag – ein gutes Werk habe ich wenigstens vollbracht. Ich bewahrte einen jungen Mann davor, wegen Trunkenheit verhaftet zu werden, und ich habe ihn zu der guten Mrs. Cornford zurückgebracht.«
Sie wurde auffallend blaß.
»Das war sehr lieb von Ihnen«, sagte sie leise.
»Kennen Sie den Mann?«
Sie antwortete nicht.
»Hat er Grund, Sie zu hassen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Joan, haben Sie Sorgen oder Schwierigkeiten?«
»Sorgen habe ich immer«, erwiderte sie leichthin. »Schon so lange ich denken kann, war das so!«
»Sie weichen mir aus. Aber vielleicht sagen Sie mir etwas anderes?« Es wurde ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. »Wenn ich nicht – wenn ich ein ehrbares Mitglied der Gesellschaft und von Ihrem Stande wäre... würden Sie mich dann heiraten?«
Sie sah ihn traurig an.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil... Sie sprachen eben über Ferdie Farringdon.« Sie war kaum fähig, weiterzusprechen. »Ich bin mit ihm verheiratet!« sagte sie dann, wandte ihr Pferd und ritt in vollem Galopp den Hügel hinunter.