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Jim Morlake hatte die Abendmahlzeit beendet, die Mahmet ihm aufgetragen hatte, und las Zeitung. Binger war früher als gewöhnlich nach Hause gegangen und hatte außerdem Anweisung, nicht vor drei Tagen zurückzukommen. Morlake hatte die Absicht, diesen Abend noch nach Wold House zurückzukehren. In der Halle stand schon sein Koffer, und sein Wagen hielt vor der Tür. Er hätte zeitiger aufbrechen können, aber der Nebel war am Nachmittag so dicht gewesen, daß er lieber wartete, bis es aufklarte. Schließlich legte er die Zeitung fort, trat an das Fenster, zog die schweren Übergardinen beiseite und schaute hinaus.
»Ich fahre jetzt, Mahmet«, sagte er dann.
Im selben Augenblick schrillte das Telefon.
Er nahm den Hörer ab.
»Ist dort Mr. Morlake?« fragte eine fremde Stimme erregt. »Ich spreche von Blackheath aus... Binger ist von einem Autobus überfahren worden... man hat ihn nach Cranfield Gardens Nr. 12 gebracht. Können Sie sofort dorthin kommen?«
»Ist er schwer verletzt?« fragte Morlake schnell.
»Ich glaube nicht, daß er mit dem Leben davonkommt – ich bin Doktor Grainger.«
Jim sah sich auf der Karte rasch die genaue Lage von Cranfield Gardens an und fuhr ein paar Minuten später in größter Eile nach Blackheath. Der Nebel im Süden Londons war dichter, als Jim erwartet hatte, und man konnte nur langsam vorwärtskommen. Aber bei New Cross klarte es auf.
Lieber hatte Morlakes Wohnung beobachtet und ihn abfahren sehen. Er eilte zur nächsten Telefonzelle und rief Marborne an.
»Er ist fort«, sagte er. »Es war fünf Minuten nach zehn.«
»Ist er allein?«
»Ja, er fährt in seinem eigenen Wagen. Es sah so aus, als ob er große Eile hätte.«
Marborne hängte den Hörer ein und zahlte dann seine Zeche in dem kleinen Restaurant in Greenwich, in dem er schon seit einer Stunde auf die Nachricht gewartet hatte. Rasch trat er zu Slone und Colley auf die Straße hinaus.
»Wir dürfen keine Zeit verlieren. Brechen Sie jetzt so schnell als möglich in das Haus ein, Colley. Die Leute legen sich immer schon um neun Uhr schlafen.«
Das Auto, das sie für die ganze Nacht gemietet hatten, brachte sie nach Blackheath, und an der Ecke von Cranfield Gardens erhielt Colley die letzten Instruktionen.
»Sie müssen durch das Fenster in der Speisekammer eindringen und dann zum ersten Stock hinaufsteigen. Schlagen Sie eine der Vitrinen ein, in denen die Juwelen liegen. Sie riskieren nichts dabei, Colley. Sobald Sie Ihre Aufgabe erfüllt haben und die Familie wach ist, machen Sie, daß Sie fortkommen!«
Colley verschwand in der Dunkelheit.
»Die Sache ist etwas sehr plump, Inspektor«, wandte sich Slone an seinen Vorgesetzten. »Ich fürchte, Morlake geht nicht in eine solche Falle. Er fährt wahrscheinlich direkt zur Wohnung seines Dieners und findet ihn gesund zu Hause.«
»Und ich sage Ihnen, daß er geradenwegs hierherkommt. Ich hörte schon an seiner Stimme, daß er in großer Sorge um Binger ist.«
Die beiden gingen schnell Cranfield Gardens hinunter und traten in einen dunklen Torweg.
»Das Auto kommt eben den Hügel herauf«, sagte Marborne plötzlich. »Kommen Sie noch tiefer in den Schatten.«
»Die ganze Geschichte ist verpfuscht«, brummte Slone. »Das ist zu plump angelegt – das kann nicht gut ausgehen.«
»Halten Sie den Mund«, fuhr ihn Marborne an. »Da ist der Wagen schon.«
Jim Morlake hielt vor Nr. 12 und stieg aus. Es war das vierte Haus von der Straßenecke und hatte eine große, schöne Fassade, aber es war kein Licht zu sehen. Er war schon durch das Tor in der Umzäunung gegangen, als ihm plötzlich auffiel, daß die rote Laterne, die gewöhnlich die Wohnung eines Arztes ankündigt, nicht brannte. Er kehrte um und schaute auf den Torpfosten, um sich zu vergewissern. Es stimmte, dieses Haus war Nr. 12. Er zögerte nun nicht länger, ging den kurzen Weg zur Haustür und stieg die Treppe hinauf. Da hörte er von innen einen Schuß und das Geräusch von Schritten in der Halle.
Plötzlich erkannte er instinktiv, in welcher Gefahr er schwebte, und eilte die Stufen wieder hinunter. Aber kaum hatte er zwei Schritte auf das Tor zu getan, als er einen Schlag erhielt, der ihm beinahe das Bewußtsein raubte. Noch ein Hieb sauste auf ihn nieder, dann wurde alles um ihn her dunkel.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf einer harten, hölzernen Pritsche; jemand war mit seinem Kopf beschäftigt. Er öffnete die Augen und sah im spärlichen Licht der Zelle einen Mann, der ihn verband.
»Bleiben Sie still liegen«, sagte der Doktor entschieden.
Es war wirklich eine Zelle. Wie war er nur hierhergekommen? Plötzlich erinnerte er sich an den Schlag, der ihn niedergestreckt hatte. Sein Kopf schmerzte furchtbar, und er hatte ein unangenehmes Gefühl an den Händen. Als er sie betrachtete, bemerkte er, daß sie gefesselt waren.
»Warum hat man mich hierhergebracht?« fragte er.
»Der Polizeiinspektor wird Ihnen wohl alles Nötige mitteilen,« meinte der Arzt.
»Ach so«, erwiderte Jim düster. »Ich wünschte, er käme möglichst bald, um mir Aufklärung zu geben. Wie geht es denn Binger?«
Er lächelte schwach. »Die ganze Geschichte war wohl nur erfunden? Der Polizeiinspektor, von dem Sie sprechen, ist natürlich Marborne?«
»Fragen Sie ihn lieber selbst«, entgegnete der Arzt diplomatisch. »Er wird in ein paar Minuten hier sein.«
Er ging hinaus und schloß die Zellentür. Mühsam setzte sich James Morlake aufrecht und überdachte seine unglückliche Lage. Er befühlte seine Taschen. Man hatte ihm alle Gegenstände abgenommen, die er bei sich getragen hatte.
Nach einer Weile wurde die Zellentür geöffnet, und Marborne trat mit einem triumphierenden Lächeln ein.
»Nun, Morlake? Jetzt haben wir Sie doch gefaßt!«
»Ich hätte Ihnen doch damals die Streichhölzer lassen sollen«, sagte Jim kühl. »Wenn ich gewußt hätte, mit welcher Absicht Sie sie nahmen und daß Sie mir auflauern und mich berauben wollten, dann hätte ich Ihnen die Mühe sparen können!«
»Ich weiß gar nicht, was Sie da von Streichhölzern reden«, sagte Marborne brüsk. »Ich weiß nur, daß wir Sie mit Ihrer Beute gefangengenommen haben. Ich bin Inspektor Marborne«, fuhr er in amtlichem Ton fort, »und ich beschuldige Sie, daß Sie gestern abend in das Haus Cranfield Gardens Nr. 12 eingebrochen sind. Ebenso erhebe ich Klage gegen Sie, weil Sie im Besitz eines geladenen Revolvers und von Einbrecherwerkzeug waren. Weiter lege ich Ihnen zur Last, daß Sie am siebzehnten dieses Monats in der Burlington-Depositenbank eingebrochen sind und am zwölften August die Home-Counties-Bank beraubt haben.«
»Ich will Ihre Deklamationen nicht unterbrechen«, erwiderte Morlake. »Sie müßten mich noch warnen, daß alles, was ich sage, als Beweis gegen mich verwendet werden kann. Das ist Ihre Pflicht, das wissen Sie doch! Haben Sie vielleicht unseren Freund Hamon auch verhaftet?«
»Sie wissen sehr wohl, daß ich Mr. Hamon nicht verhaftet habe. Welche Anklage könnten Sie denn vorbringen?«
»Vorsätzlichen Mord! Und Sie würde ich beschuldigen, nach der Tat sein Helfer gewesen zu sein!«