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Julius Welling erschien in der Registratur von Scotland Yard, und der Beamte beeilte sich, nach seinen Wünschen zu fragen. Dieser weißhaarige Mann erschien hier selten persönlich; wenn er sich aber zeigte, war gewöhnlich jemand in schwerer Bedrängnis.
»Sagen Sie mir doch bitte, ob mich mein Gedächtnis im Stich läßt, Sergeant. Die Einbrüche des Schwarzen begannen doch vor etwa zehn Jahren?«
Eine Schublade glitt lautlos auf, und eine Reihe von Karten ging durch die geübte Hand des Mannes.
»Ja, in diesem Monat werden es zehn Jahre.«
»Gut. Geben Sie mir jetzt noch die Liste aller Morde, die ein Jahr vorher begangen wurden.«
Eine andere Schublade öffnete sich, und ein Stoß von fünfzig großen Blättern wurde Welling überreicht. Er drehte sie nacheinander um und las dabei:
»Addams, John, gehenkt. Bonfield, Charles, geisteskrank. Brasfield, Dennies, gehenkt – alles bekannte Fälle.«
Welling sah alle Karten durch, bis er zu der letzten kam.
»Mann, unbekannt, vermutlich Mord, Täter unbekannt –«
Seine Augen öffneten sich weit.
»Das ist er!« rief er aufgeregt und las laut vor.
»Ein Mann, offensichtlich ein Matrose, wurde an der Ecke von Punch Bowl, Hindhead, bewußtlos mit schweren Wunden und einem Schädelbruch aufgefunden. Er wurde von einem Radfahrer, dessen Name nicht genannt werden kann (D.D.V.S. VI, siehe Bestimmungen über ausländische diplomatische Beamte, Absatz 970), gefunden. Der Unbekannte verschied bald nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus. Alle Stationen wurden benachrichtigt. Das Bild des Verstorbenen wurde veröffentlicht. Trotzdem konnte seine Identität nicht festgestellt werden.«
Welling schaute über seine Brille.
»Was bedeutet die Abkürzung hier?«
»Diplomatischer Dienst der Vereinigten Staaten – VI ist die Nummer der Abteilung. Die Vorschriften enthalten die Bestimmungen über die Behandlung ausländischer Diplomaten in diesem Land. Ich habe sie zufällig erst gestern wieder in der Hand gehabt.«
»Und wie lauten sie?«
»Wenn sie im Auftrag ihrer Regierung und mit Wissen der unsrigen handeln, dürfen sie in der Ausübung ihres Amtes nicht gestört werden, es sei denn, daß sie unter dem Verdacht der Spionage stehen.«
Captain Welling rieb sich die Nase.
»Daraus geht also hervor, daß der Radfahrer im diplomatischen Dienst einer fremden Regierung war. Als er gefragt wurde, ob er etwas über die Person des Verstorbenen aussagen könne, zeigte er vermutlich dem Polizeiinspektor seinen Paß, und dieser Beamte erwähnte nachher in Übereinstimmung mit den Vorschriften den Namen des Fremden in dem Bericht nicht.«
»Ja, das stimmt.«
»Dann muß ich den dortigen Polizeiinspektor also persönlich aufsuchen.«
Spät am Nachmittag kam Welling nach Hindhead und begab sich sofort zum Polizeirevier, um seine Nachforschungen fortzusetzen.
»Der Polizeiinspektor, der damals den Bericht schrieb, ist vor einigen Jahren pensioniert worden«, sagte der diensthabende Beamte. »Wir haben eine eigene kleine Registratur, aber der Name des Mannes, den Sie suchen, wird auch nicht darin zu finden sein.«
»Wie hieß denn der Inspektor?«
»Mr. Sennett. Er lebt jetzt in Basingstoke. Ich kann mich sogar noch genau an den Tag erinnern, an dem der Matrose gefunden wurde. Ich hatte gerade Dienst und brachte den Mann ins Hospital.«
»Ich möchte gern die Stelle sehen, wo er gefunden wurde. Können Sie sich noch darauf besinnen?«
»Ich kann sie Ihnen genau zeigen.«
Sie fuhren in einem Polizeiauto hinaus und kamen an einer tiefen Talsenke vorbei, die in jener Gegend als das ›Teufelsloch‹ bekannt ist. Gleich darauf hielt der Beamte den Wagen an und zeigte auf eine einsame, grasbewachsene Stelle an der Seite der Straße. Welling stieg aus und starrte lange auf den Schauplatz der Tragödie, die sich vor Jahren hier abgespielt hatte.
»Haben Sie den Platz damals persönlich untersucht?«
»Ja.«
»Haben Sie Anzeichen eines Kampfes bemerkt – irgendeine Waffe?«
»Nein. Ich hatte den Eindruck, daß man den Mann erst nach der Tat hierhergebracht hatte.«
»Das klingt sehr vernünftig. Wem gehört das Haus dort?«
Der Inspektor sagte, daß es das Eigentum eines Arztes sei.
»Wie lange lebt er schon hier?«
»Ungefähr zwanzig Jahre. Er ließ das Haus selbst bauen.«
Wieder wanderten die Blicke des Detektivs umher.
»Und jenes Haus? Es scheint leer zu stehen.«
»Ach, das ist ein kleines Landhaus, das einem Anwalt gehörte. Er ist vor einigen Jahren gestorben. Seitdem ist es nicht wieder bewohnt worden.«
»Wie lange hat er es denn gehabt?«
»Nur ein paar Jahre.«
»Und wer wohnte vor ihm dort?«
»Vorher –« der Beamte zog die Stirn kraus. »Ja, jetzt weiß ich es wieder, es gehörte einem gewissen Hamon.«
»Ralph Hamon?«
»Ja. Er ist jetzt Millionär. Damals war er noch nicht so reich. Er wohnte gewöhnlich im Sommer hier.«
»So, so!« meinte Welling liebenswürdig. »Ich möchte mir das Haus einmal ansehen.«
Der Pfad, der den Hügel hinaufführte, war zugewachsen. Das Haus machte einen ausgestorbenen Eindruck, die Fenster waren geschlossen.
»Wie lange hat der Anwalt hier gelebt?«
»Es hat ihm wohl gehört, aber ich glaube, er hat es nie bewohnt. Hamon verkaufte das Haus seinerzeit mit Einrichtung und allem.«
Welling versuchte, einen Fensterladen zu öffnen und hatte auch nach einiger Zeit Erfolg. Die Fenster waren blind vom Schmutz, und es war unmöglich, ins Innere zu sehen.
»Ich muß hinein«, sagte er, hob seinen Stock und stieß klirrend eine Scheibe ein. Er stieg durch das Fenster.
Er kam in ein einfach möbliertes Schlafzimmer. In allen Räumen lag dichter Staub, aber die Einrichtung war noch gut erhalten. Auf der Rückseite des Hauses lag eine ziemlich große Küche, deren Fenster schwer vergittert waren.
Er machte ein Fenster auf und schlug die Läden zurück.
»Hier werde ich wohl finden, was ich suche«, meinte er. »Sehen Sie den Flecken dort?«
»Ich kann nichts sehen«, sagte der Beamte verwundert.
»Können Sie nicht erkennen, daß ein Teil der Wand hier überstrichen ist?«
Die Küche war weiß getüncht, und man konnte deutlich die unregelmäßig übermalte Stelle sehen.
»Hier haben wir es wieder«, rief Welling plötzlich.
Mit seinem Taschenmesser kratzte er die Farbe vorsichtig ab.
»Einmal kommt jeder Mord ans Tageslicht.«
»Mord?« fragte sein Begleiter erstaunt.
Statt jeder Antwort zeigte Welling auf einen birnenförmigen Flecken, den er eben freigekratzt hatte.
»Das ist Blut.«
Er wischte mit einem Taschentuch den Staub vom Tisch und untersuchte die Platte Zoll für Zoll.
»Sehen Sie, hier ist sie beschädigt worden. Fühlen Sie das? Ich bin der Ansicht, daß der unbekannte Matrose in diesem Raum erschlagen wurde«, sagte Welling.
»Aber Mr. Hamon hätte das doch wissen müssen?«
»Wahrscheinlich wohnte er zu der Zeit nicht hier«, erwiderte der Detektiv, und der Beamte nahm dies auch als eine vollständige Entlastung des früheren Besitzers des Hauses an.
»Natürlich haben Sie damals nicht daran gedacht, dieses Haus zu durchsuchen und festzustellen, wie der arme Matrose sein Ende fand«, meinte Welling ein wenig ironisch. »Ich weiß jetzt alles, was ich wissen muß. Lassen Sie das zerbrochene Fenster wieder zunageln. Wenn jemand das Haus beziehen will, soll er sich erst bei mir melden.«
Später besuchte er noch den pensionierten Inspektor in Basingstoke und bekam dort die Bestätigung seiner Annahme. Der Beamte hatte die Visitenkarte des Radfahrers aufgehoben, der sich ihm damals zu erkennen gegeben hatte. Er zeigte sie Welling.
›Major James L. Morlake, Konsulat der Vereinigten Staaten in Tanger‹ stand darauf.
Mit einem zufriedenen Lächeln gab der Captain die Karte zurück. Nun blieb nur noch das Geheimnis zu lösen, warum Hamon so sehr hinter jenem Dokument her war.