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18

Der Gerichtssaal war am zweiten und letzten Tag des Prozesses dicht besetzt. Als sich der Richter niederließ, nickte er leicht, blickte flüchtig auf den Angeklagten und hörte die letzten Zeugenaussagen der Polizei.

Ein- oder zweimal lehnte er sich vornüber, um mit scharfklingender, dünner Stimme Fragen zu stellen.

Nachdem der letzte Zeuge den Stand verlassen hatte, erhob sich der Staatsanwalt.

Der Richter schaute Jim an: »Wollen Sie noch irgendeinen Zeugen benennen, Mr. Morlake?« fragte er.

Jim hatte keinen Anwalt genommen, er hatte die Kreuzverhöre der Zeugen selbst durchgeführt.

»Nein, Mylord. Ich hätte zwar den Telefonisten, der an dem Amt in New Cross arbeitete, laden können, aber die Polizei hat ja selbst zugegeben, daß ein Anruf an meine Wohnung kam und ich gebeten wurde, nach Cranfield Gardens zu kommen. Die Zeit dieses Anrufs ist festgelegt, ebenso die Zeit meiner Verhaftung. Daraus geht klar hervor, daß ich in der Zwischenzeit keine Möglichkeit hatte, in das Haus einzudringen. Die Anklage stützt sich auf die Aussage der Polizei, daß man Einbrecherwerkzeug und eine Pistole bei mir gefunden habe, aber es ist mir weder der Ankauf noch der Besitz dieser Gegenstände nachgewiesen worden. Die Polizei hat in ihren verschiedenen Aussagen dem Gerichtshof dartun wollen, daß ich ein alter, erfahrener Einbrecher sei und schon viele Bankdiebstähle begangen hätte.«

»Man hat nur gesagt, daß Sie unter einem solchen Verdacht stehen. Der Nachtwachmann in der Burlington-Depositenbank hat Ihre Stimme wiedererkannt – das ist alles, was über die Verbrechen gesagt wurde, die Sie eventuell früher begangen haben«, unterbrach ihn der Richter. »Ich nehme nicht an, daß Sie im Zeugenstand gegen sich selbst aussagen wollen.«

»Das ist nicht meine Absicht, Mylord.«

»Dann ist das, was Sie jetzt zu sagen haben, Ihre Verteidigungsrede?«

Jim stand hochaufgerichtet am Geländer, das die Anklagebank umgab. Er sah Gerichtshof und Geschworene scharf an.

»Meine Herren, wenn es wahr sein sollte, daß ich ein schlauer Bankeinbrecher bin, fällt Ihnen dann nicht auf, daß ich mich bei dem Versuch, aus einem Wohnhaus Juwelen von großem historischem, aber geringem Handelswert zu entwenden, recht täppisch und wenig fachmännisch benommen habe? Warum sollte ich das tun, wenn ich erst in der vorigen Woche aus der Burlington-Depositenbank eine große Summe raubte, wie hier behauptet wurde? Nehmen Sie doch einmal an, daß ich tatsächlich die Burlington-Bank beraubt habe!«

Große Bewegung ging durch den Saal, und Stimmen schwirrten durcheinander. Oben in der Galerie, wo das Publikum zuhörte, saß eine junge Dame, die den Prozeß während der beiden Tage aufmerksam verfolgt hatte. Kein Wort war ihr entgangen. Jetzt krampfte sich ihre Hand um ihr Taschentuch, und ihr Herz schlug wild.

»Sie brauchen und sollen auch keine Aussage machen, die Sie selbst belastet«, warnte der Richter.

»Nichts, was ich gesagt habe, wird oder kann mich irgendwie belasten«, erwiderte Jim ruhig. »Ich habe doch nur den Gerichtshof und die Geschworenen gebeten, einmal anzunehmen, daß ich ein erfahrener Einbrecher sei, um von diesem Gesichtspunkt aus den Einbruch in Cranfield Gardens zu beurteilen. Die Polizei hat immer betont, daß ich für all diese Bankeinbrüche verantwortlich sei. Soweit die Gesetzgebung dieses Landes ihnen erlaubt, haben diese Leute durch ihre Aussagen und Verdächtigungen mein ganzes Leben verdunkelt. Ich möchte die Atmosphäre wieder reinigen. Ich gebe zu, daß ich ›der Schwarze‹ bin, ohne irgendwie zu sagen, für welchen von den vielen Einbrüchen ich verantwortlich bin. War denn der Einbruch in Blackheath ein typischer Einbruch des Schwarzen? War da überhaupt irgend etwas zu holen? Lag eine Notwendigkeit oder ein Beweggrund vor, dort einzubrechen? Im Verlauf des Prozesses hat sich gezeigt, daß meine Angaben in bezug auf das Telefongespräch richtig waren. Ich wurde nur wenn ich es vorsichtig ausdrücke – durch einen Irrtum dieses tüchtigen Marborne festgenommen.«

Nachdem Jim geendet hatte, hielt der Staatsanwalt seine Rede, und nach ihm sprach noch der Richter.

»Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß der Angeklagte James Morlake ein Mann mit verbrecherischer Vergangenheit ist. Ich zweifle noch weniger daran, daß er der Einbrecher ist, der eine wenig beneidenswerte Berühmtheit unter dem Namen ›Der Schwarze‹ genießt. Aber am allerwenigsten zweifle ich an seiner Unschuld in der Anklage, die vor diesem Gerichtshof gegen ihn anhängig gemacht wurde. Die Aussagen der Polizei waren sehr wenig befriedigend. Ich glaube nicht, daß Marborne und Slone, die hier als Hauptzeugen aufgetreten sind, die reine Wahrheit sagten. Sie haben allerhand Indizienbeweise vorgebracht, die mich nicht überzeugen können. Mit anderen Worten: Ich bin der Meinung, daß diese ganze Sache von ihnen gemeinsam zusammengetragen wurde, um den Gerichtshof zu täuschen und den Angeklagten zu überführen. Ich gebe daher den Geschworenen den Rat, auf ›Nicht schuldig‹ zu entscheiden. Aber ich füge hinzu« – er wandte sich direkt an den Angeklagten –, »daß ich James Lexington Morlake vor einem Gerichtshof, dem ich präsidiere, zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilen würde, wenn er eines Einbruches überführt wird. Denn ich bin überzeugt, daß er eine dauernde Bedrohung der Gesellschaft und ein Mann ist, mit dem kein ehrlicher und gewissenhafter Mensch jemals verkehren würde.«

Einen Augenblick schien es Joan, als ob Jim unter diesen harten Worten zusammenzuckte. Aber im nächsten Augenblick stand er wieder aufrecht, als ob nichts geschehen wäre, und hörte den Spruch der Geschworenen: »Nicht schuldig!«

Dann verließ er die Anklagebank und ging als freier Mann aus dem Gerichtssaal. Die Leute sahen ihm neugierig nach. Nur ein älterer weißhaariger Herr trat auf ihn zu.

»Ich freue mich, daß Sie so gut davongekommen sind, Morlake.«

Jim lächelte schwach: »Ich danke Ihnen, Mr. Welling – ich weiß, daß Sie es ehrlich meinen. Es war eine gemeine Schurkerei.«

»Das ist auch meine Ansicht«, sagte Welling ernst.

Es kamen nur wenig Leute aus dem Saal, denn der nächste Fall war eine Mordsache. Die große Marmorhalle lag still und verlassen da, als Morlake auf die Treppe zuging.

»Entschuldigen Sie –«

Er wandte sich um, und sein Blick fiel auf ein einfach gekleidetes, hübsches junges Mädchen.

»Ich bin so froh, Mr. Morlake!«

Er nahm ihre Hand und lächelte.

»Sie waren an den beiden Tagen hier. Ich habe Sie in der Ecke der Galerie gesehen. Ja, ich bin auch froh, daß es vorüber ist. Der alte Richter schenkte mir zwar nichts – wie?«

Sie schauderte: »Es war entsetzlich!«

Er wußte nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte, aber ihre Freundlichkeit und ihr Mitgefühl berührten ihn mehr, als er es für möglich gehalten hätte.

»Ich hoffe, daß Sie nicht allzu günstig von mir denken«, sagte er freundlich. »Ein Verbrecher mag ja sehr interessant sein, aber er eignet sich schlecht zu einem Helden!«

Sie lächelte ein wenig: »Ich verehre Sie nicht als Helden – das meinten Sie doch damit«, erwiderte sie ruhig. »Ich bin furchtbar traurig – Ihretwegen! Ich glaube nicht, daß Sie irgendwie bereuen oder gestehen.«

Er schüttelte den Kopf. Als er sich umblickte, sah er, wie ihn ein Polizist neugierig beobachtete, und er hatte den dringenden Wunsch, die junge Dame nicht bloßzustellen.

»Ich denke, es ist besser, wenn wir gehen.«

»Würden Sie nicht irgendwo eine Tasse Tee mit mir trinken?« fragte sie ein wenig atemlos. »Hier in der Nähe ist ein kleines Restaurant.«

Er zögerte. »Ja gern«, entgegnete er dann.

»Sie wissen, daß Sie mir zu Dank verpflichtet sind?« sagte sie, als sie zusammen die Treppe hinuntergingen.

»Ihnen zu Dank verpflichtet?« fragte er erstaunt.

»Ich habe Ihnen einmal einen sehr wichtigen Brief geschickt. Ich bin Jane Smith.«


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