Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

48

»Was in aller Welt tun Sie denn hier?«

»Ich werde mir Rheumatismus holen«, brummte Welling. »Sie sind in Eile – was gibt es denn?«

»Lady Joan ist verschwunden.« Jim erzählte ihm von der Entführung.

Der Detektiv hörte nachdenklich zu.

»Das ist allerdings eine schlechte Neuigkeit«, sagte er dann. »Ich hatte schon gehört, daß es einen Skandal gegeben haben soll, aber ich wußte nicht, was es war. Mein Spanisch ist schon sehr in Vergessenheit geraten, und Arabisch verstehe ich so gut wie gar nicht. Lady Joan! Das ist recht böse. Was haben Sie denn nun vor?«

»Ich will mich nach ihr umsehen!« erwiderte Jim kurz.

»Dann darf ich Sie nicht aufhalten. Haben Sie nichts von Hamon entdeckt? Ich habe ihn bis Cadiz verfolgt. Er kam auf der ›Peleago‹ nach Gibraltar. Dort habe ich die Spur verloren. Er war plötzlich verschwunden, und ich konnte ihn nicht wieder auffinden.«

Bestürzt hörte Jim diese Nachricht.

»Dann ist er hier – gesehen habe ich ihn allerdings noch nicht. Zuerst hatte ich Sadi Hafis in Verdacht, aber es ist leicht möglich, daß Hamon die Entführung dirigierte.«

Mit einem hastigen Lebewohl eilte er fort.

In der Nähe der Straße der Moschee stand ein kleines, unansehnliches Haus, zu dessen Tür man auf einer schmalen Treppe emporklettern mußte. Jim stieg hinauf, klopfte an und wurde sofort eingelassen. Er nickte dem maurischen Schneider, der mit untergeschlagenen Beinen bei seiner Arbeit saß, einen Gruß zu, ging in einen inneren Raum, zog den Rock aus und erschien dann wieder in der Tür.

»Haben Sie alles vorbereitet?« fragte er.

»Ja«, entgegnete der Schneider, der nicht von seiner Arbeit aufschaute. »Sie warten auf Sie in der Straße, wo der englische Arzt wohnt.«

Jim hatte die Weste ausgezogen, als er plötzlich ein lautes Brummen hörte. Er sah nach einer viereckigen Öffnung, zu der eine alte, zerbrochene Leiter hinaufführte.

»Wer ist dort oben?«

Der Schneider fädelte mit außerordentlicher Schnelligkeit eine Nadel ein, bevor er antwortete.

»Ein Mann«, sagte er dann gleichgültig. »Er hat das Dachzimmer, das früher der Wasserverkäufer bewohnte. Yassin konnte keinen Mieter finden, weil der Wasserverkäufer an den Pocken starb. Deshalb gab er es an den Englesi für sechs Pesetas den Monat. Er raucht und wird jetzt in ein Café gehen, wo er seine Pfeife Haschisch für zehn Centimos bekommt.«

Als Jim noch verwundert nach oben schaute, erschien ein zerrissener Schuh auf der Leiter, darüber ein Bein, das kaum durch eine zerlumpte Hose bedeckt wurde. Der Mann stieg langsam herab, und Jim betrachtete ihn genau. Schmutzig graue Haare hingen über den Kragen des Mannes herunter, und sein Anzug war zerschlissen. Er hatte eine dicke, rote Nase, und ein verwilderter Bart umrahmte sein Gesicht. Schläfrig richtete er den trüben Blick auf Jim.

»Guten Abend«, keuchte er.

»Sind Sie Engländer?« fragte Jim, überrascht und abgestoßen durch die häßliche Erscheinung des Fremden.

»Ja, Brite. Aber sehen Sie mich doch nicht so verteufelt an, als ob Ihnen schlecht würde, mein Lieber! An Ihrer verfluchten Aussprache erkenne ich, daß Sie aus den Staaten sind. Was treiben Sie denn hier? Leihen Sie mir fünf Peseten, alter Junge, ich erhalte morgen eine Geldsendung von zu Hause.«

Jim drückte ihm eine spanische Münze in die ausgestreckte Hand und sah dem verkommenen Mann nach, der in die Nacht hinauswankte.

»Wie lange ist der schon hier?«

»Fünf Jahre«, antwortete der Schneider, »mir ist er auch fünf Pesetas schuldig.«

»Wie heißt er denn?«

»Das weiß ich nicht – was kommt es auch auf den Namen an?«

Jim gab ihm innerlich recht.

*

Der heruntergekommene Mann schwankte die Straße entlang und stieß gleich darauf mit einem anderen Europäer zusammen.

»Verdammt noch einmal«, sagte Hamon. »Passen Sie doch auf!«

Er war sehr erstaunt, als ihm auf englisch erwidert wurde.

»Verfluchter Hund! Machen Sie selbst die Augen auf, Sie Esel! Wie können Sie einen Gentleman anrennen – Sie sind ja vollständig betrunken, Sir!«

Ralph war so verwundert, daß er schnell ein Streichholz ansteckte, aber er hätte es beinahe wieder fallen lassen, als er das blutunterlaufene Gesicht und den roten Bart des Mannes sah.

»Das Licht bricht aus der Finsternis«, murmelte der Haschischraucher. »Entschuldigen Sie, wenn meine Sprache etwas ungebildet war – verzeihen Sie.« Er schaute zum mondhellen Himmel hinauf.

»Würde es Sie sehr belästigen, wenn ich Sie bäte, mir den Stern Gamma im Bild des Orion zu zeigen? Mein Café liegt nämlich ungefähr in dieser Richtung. Ich lebe in einer greulichen Höhle, Sir, über dem Laden eines schrecklichen maurischen Schneiders. Und was bin ich, mein lieber Freund? Ein Geistlicher! Kein Priester, den man ausgestoßen hat – sondern ein Prediger! Ein Offizier, der die höchste Auszeichnung der Welt erhalten hat, das Victoria-Kreuz! Aylmer Bernando Bannockwaite! Aber würden Sie nicht die außerordentliche Liebenswürdigkeit haben, mir fünf Peseten zu leihen – morgen erhalte ich eine Geldsendung von zu Hause.«

Wie im Traum gab ihm Ralph Hamon einen Geldschein.

Bannockwaite! Der Mann, der Joan und Ferdie Farringdon getraut hatte!


 << zurück weiter >>