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46

Joan Carston schlenderte langsam hinter ihrem Vater her. Sie gingen gerade an einer Gartenmauer vorbei, als sich eine Tür öffnete. Einen Augenblick hielt Joan an, um in den Hof zu sehen. Zuerst war sie sehr enttäuscht, aber im Eingang erschien eine Frau, die sie freundlich anlächelte, die Tür aufhielt und eine einladende Handbewegung machte, als ob hier etwas Schönes zu sehen sei. Joans Neugierde erwachte, und sie trat ein. Plötzlich wurde aber das Tor hinter ihr zugeschlagen, eine große, schwarze Hand bedeckte ihren Mund, und sie wurde von der Türschließerin festgehalten.

Bevor ihr zum Bewußtsein kam, was eigentlich geschah, kamen vier Männer auf sie zu, banden ihre Füße mit einem Tuch zusammen und legten ihr ein großes Baumwollbündel auf das Gesicht, das sie am Sehen und Atmen hinderte.

Sie sah ein, daß es zwecklos war zu kämpfen, und blieb ruhig liegen, als ihr auch die Hände zusammengeschnürt wurden. Man hob sie auf, nahm die Baumwolle von ihrem Gesicht und band ihr ein Seidentuch um den Mund. Dann wurde sie in einen großen Kasten gelegt und hochgehoben.

Die Luft in dem Gehäuse war drückend. Joan fürchtete zu ersticken und versuchte, mit ihrem Kopf den Deckel zu heben. Aber er war von außen fest verschlossen. Sie schien eine Ewigkeit getragen zu werden, dann fühlte sie einen kleinen Stoß, als ob der Kasten auf eine Unterlage gestellt würde. Der Wagen fuhr an, und seine Geschwindigkeit nahm immer mehr zu. Offenbar hatte der Fahrer große Eile, denn er verlangsamte die Fahrt nicht einmal, als es über einen unebenen, holprigen Weg ging. Alle Glieder schmerzten Joan, und sie war daran, das Bewußtsein zu verlieren.

Sie mußte wohl auch ohnmächtig geworden sein, denn als sie wieder zu sich kam, lag sie an der Straßenseite. Wagen und Kasten waren verschwunden, die Fesseln an Händen und Füßen gelöst, und die vier Leute, die sie gefangengenommen hatten, beugten sich über sie. Einer von ihnen stellte sie auf die Füße und sagte auf arabisch etwas zu ihr, das sie nicht verstand. Sie schüttelte den Kopf, um ihm klarzumachen, daß sie die Sprache nicht beherrsche. Dann sah sie ein paar Maulesel, die auf sie zu warten schienen. Der größte Mann trug sie zu einem der Tiere und setzte sie in den Sattel. Dann führte er es einen steilen Abhang hinab, der im rechten Winkel von der Straße abbog. Seine Gefährten folgten.

Sie hatte furchtbare Kopfschmerzen und konnte kaum ihre Gedanken sammeln. Entsetzlicher Durst quälte sie, und ihre Kehle war ausgetrocknet. Aber der Weg, den sie auf dem Maultier zurücklegen mußte, war nicht lang. In einer Talsenke stand ein Haus mit einem flachen Dach, das von einer hohen, weißen Mauer umgeben war, und die Leute geleiteten sie auf dem Maultier durch das enge Tor.

Im Hof blühten viele Blumen in prächtigen Farben, und in der Mitte plätscherte ein Springbrunnen. Sie wartete, während ihre Begleiter die Türen fest verschlossen. Dann wurde ihr bedeutet, daß sie absteigen solle. Man führte sie zum Haus und klopfte an die Tür. Es wurde sofort geöffnet, und ein Mädchen zeigte sich im Eingang. Sie zog Joan herein und brachte sie in einen länglichen Raum. Der Boden war mit schäbigen Teppichen bedeckt, und im Hintergrund stand ein großer, bequemer Diwan.

Oben in den Wänden waren Fenster angebracht, durch die helles Licht hereinfiel. Nach den Beschreibungen, die sie gelesen hatte, nahm Joan an, daß sie sich im Harem eines maurischen Hauses befand. Aber sie sah keine anderen Frauen; auch das Mädchen, das sie hereingeführt hatte, verschwand wieder und schloß die Tür.

Joan setzte sich auf die Ecke des Diwans und versuchte nachzudenken. Sie mußte der Gefahr tapfer entgegentreten.

Die Entführung war so glatt gegangen, daß sie vorbereitet gewesen sein mußte. Aber woher konnten die Leute nur wissen, daß sie durch das Tor gehen würde? Sie mußten tagelang gewartet haben, um ihren Plan zur Ausführung zu bringen. Und wer wollte sie in seine Gewalt bringen?

Als sich die Tür öffnete, sprang Joan auf. Das Mädchen trat wieder herein und brachte auf einem großen Messingtablett einheimisches Brot, Früchte und eine braune Flasche mit klarem Wasser. Ein reichverzierter Becher stand daneben. Als sich das Mädchen wieder entfernt hatte, goß Joan Wasser in den Becher und trank gierig. Sie betrachtete die Nahrung zuerst argwöhnisch, aber dann faßte sie Mut und aß von dem Brot.

Am anderen Ende des Raumes trat ein Mann durch die Tür und beobachtete sie einige Zeit, ohne daß sie etwas von seiner Anwesenheit ahnte. Schließlich machte er sich durch ein Räuspern bemerkbar, und Joan fuhr entsetzt in die Höhe.

»Sie sind es?«

Ralph Hamon lächelte gemein.

»Das ist ein unerwartetes Vergnügen.«

Plötzlich erkannte sie die Zusammenhänge.

»Sie also stecken hinter allem?« sagte sie langsam. »Deshalb haben Sie uns zu dieser Reise eingeladen?«

»Ja, ich war so frei. Ich wollte Sie ein wenig aus der Nähe dieses Morlake entfernen. Wenn es überhaupt noch eine Gerechtigkeit in England gibt, hat man diesen Menschen verhaftet, denn er hat einen Mord auf dem Gewissen. Sie wissen wahrscheinlich, daß Ihr Gatte in der Nacht vor Ihrer Abreise getötet wurde und daß es Morlake war, der ihn erschossen hat.«

Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

»Sie selbst haben Farringdon getötet – Captain Welling erzählte es mir, bevor ich abfuhr.«

Wenn Sie die Absicht hatte, ihm einen Schrecken einzujagen, so hatte sie vollen Erfolg. Sein Gesicht sah plötzlich fahl und verstört aus.

»Sie wollen mich nur bluffen!« rief er heiser. »Warum soll denn ausgerechnet ich diesen Säufer erschossen haben?«

»Captain Welling hat mir ganz klar gesagt, daß Sie der Mörder sind«, entgegnete sie kühl. »Und Jim Morlake wird bald auf Ihrer Spur sein!«

Er nahm sein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Was – ich ein Mörder?« fragte er düster. »Nun, mehr als henken können sie mich auch nicht. Ich wollte Ihnen eigentlich etwas sagen, aber Sie haben mein Programm umgestoßen, Joan. Ich kann leicht erfahren, ob Morlake in Tanger ist.«

»Ich habe nicht gesagt, daß er in Tanger ist, davon weiß ich nichts.«

Seine Züge erheiterten sich.

»Ich werde es bald herausbringen«, wiederholte er dann und verließ den Raum durch eine von einem Vorhang verborgene Tür.

Einige Minuten später kam das maurische Mädchen zurück und führte Joan in einen Raum auf der Rückseite des Hauses. Aus glasierten Klinkern war hier eine Badewanne in den Fußboden eingemauert, und das Mädchen gab Joan ein Zeichen, sich zu entkleiden. Über der Lehne eines etwas wackligen Stuhls hingen Kleider, wie sie maurische Frauen trugen. Zuerst sträubte sich Joan, aber das Mädchen zeigte bedeutungsvoll auf die Tür, und Joan vermutete, daß man Gewalt anwenden würde, wenn sie Widerstand leistete. Sie entkleidete sich deshalb unter den wachsamen Augen des Mädchens und stieg ins Bad.

Ihre Kleider wurden entfernt, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als danach das arabische Kostüm anzulegen.

Die Dunkelheit brach schon herein, als Ralph Hamon zu ihr zurückkehrte.

»Ihr Freund Morlake hat eine böse Geschichte angerichtet die maurischen Behörden sind hinter ihm her, aber er hat es ja selbst so gewollt. Ein Mann, der so gut mit den Sitten des Landes vertraut ist wie er, sollte es sich doch zweimal überlegen, bevor er versucht, in den Harem eines maurischen Großen einzudringen. Sie werden sich vielleicht dafür interessieren, daß er Sie heute nachmittag gesucht hat.«

»Alles, was Sie mir von ihm sagen, interessiert mich sehr.«

Sein Gesicht verfinsterte sich.

»Ich glaube, es ist besser, wenn Sie die Dinge von einer anderen Seite betrachten, Joan, und vor allem den Tatsachen Rechnung tragen, wie sie nun einmal sind. Es wird eine große Veränderung in Ihrem und in meinem Leben geben.«

Er setzte sich neben sie auf den Diwan, aber sie stand auf.

»Ich werde jetzt endlich das Leben führen, von dem ich schon so lange geträumt habe.«

»Glauben Sie denn nicht, daß die Gerechtigkeit Sie auch hier erreichen wird?«

»Gerechtigkeit!« sagte er ironisch. »In diesem Bergland gilt nur das Gesetz des Stärkeren und die Freundschaft des Häuptlings, der den Distrikt regiert. Meine liebe Joan, ich werde Ihnen vielleicht sogar den größten Dienst erweisen – Sie werden das Leben kennenlernen – ein Leben, das wenigstens lebenswert ist.«

»Was soll das heißen?«

»Sie werden mich heiraten. Sie werden Arabisch lernen. Ich bringe es Ihnen bei, und dann lesen wir zusammen die Gedichte von Hafis. Sie werden erstaunt sein, welche Freuden Ihnen das Leben erschließt.«

»Reden können Sie ganz gut«, unterbrach sie ihn. »Sie sind wirklich ein sonderbarer Mensch. Ich weiß nicht, wieviel Morde Sie begangen haben, aber einen haben Sie sicher auf dem Gewissen, und wahrscheinlich ist Ihr ganzer Reichtum auf ein schreckliches Verbrechen gegründet.«

Er war sprachlos vor Wut und Furcht, als sie ihm diese Worte ins Gesicht schleuderte.

»Ich bin kein gemeiner Mörder«, stieß er hervor. Sein Gesicht zuckte. »Ich bin überhaupt kein Mörder, hören Sie? Ich – ich habe zwar viel getan, aber ein Mörder bin ich nicht.«

»Wer hat denn Ferdie Farringdon getötet?« fragte sie kalt.

Er hob den Blick, und sie las Sorge und Furcht darin.

»Ich weiß nicht – vielleicht habe ich es –, ich wollte ihn ja nicht töten ... ich wollte – ich weiß jetzt nicht mehr, was ich beabsichtigte. Ich wollte eigentlich Morlake erschießen – ich fuhr mit meinem Wagen bis an den Ort und ging dann zu Fuß.«

Er bedeckte die Augen mit der Hand, als ob er eine schreckliche Erscheinung bannen wollte. Dann verließ er den Raum.

Sie sah ihn an diesem Abend nicht wieder, aber als sie auf dem Diwan saß und vor sich hinträumte, hörte sie plötzlich, wie die Tür geöffnet wurde. Sie richtete sich auf und sah die junge Araberin, die einen langen, blauen Mantel über dem Arm trug und ihn über Joans Schultern hängte. Der zweite Teil der Reise sollte also beginnen.

Wohin würde sie führen? Sie vertraute darauf, daß Jim Morlake ihr irgendwo begegnen und ihr helfen würde.


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