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Die Strahlen der Frühsonne lagen über Tanger. Joan Carston schaute verwundert von Bord des Schiffs auf das schöne Bild, als sie langsam in die Bai einfuhren. Über ihr wölbte sich ein fleckenloser, tiefblauer Himmel, und der Wind trug einen feinen, fremdartigen Duft von der Küste herüber.
»Freust du dich, daß wir an Land gehen?« fragte ihr Vater.
Sie nickte.
»Du bist doch ein prächtiges Mädchen!« sagte er bewundernd. »Du hattest in den letzten Wochen mehr Schicksalsschläge zu ertragen als ein Durchschnittsmensch im Lauf seines ganzen Lebens.«
»Man kann sich auch gegen Schicksalsschläge abhärten.«
»Du bist jetzt nicht mehr in so großer Sorge um Morlake?«
»Nein. Ich habe sogar das Gefühl, daß wir ihn bald wiedersehen.«
Lord Creith war in guter Stimmung.
»Der Kapitän sagte, er habe es so eingerichtet, daß wir eine Woche hier bleiben können, und ich glaube, daß wir unsere Zeit gut ausnützen werden.«
Er mietete Zimmer in dem großen weißen Hotel, von dem aus man die Küste übersehen konnte. Später am Tag schaute Joan von der breiten Treppe auf die wunderlichen, bunt durcheinanderliegenden Häuser, die das moderne Tanger so reizvoll machen.
»Es sieht aus wie eine Szene aus dem Alten Testament mit elektrischer Beleuchtung«, meinte der Lord. »Ich weiß nicht, ob ich das irgendwo gelesen habe oder ob ich selber darauf kam. Aber es ist ein treffender Ausspruch. Ich hoffe, daß du nicht enttäuscht bist, Joan? Diese Städte sind in der Nähe lange nicht so angenehm wie drei Meilen von der See aus. Und der Geruch – hm!« Er verzog das Gesicht.
»Jim hat jahrelang hier gelebt«, sagte sie.
»Aber davon duftet die Luft nicht gleich nach Rosenöl«, erwiderte ihr Vater.
Am dritten Tag ihres Aufenthaltes begann Joan die Stadt schon etwas langweilig zu werden. Sie hatte den großen Marktplatz und den Basar mehrmals besucht, war zwischen den Holzkohleverkäufern und den ruhenden Kamelen herumgewandert, hatte den eingeborenen Gauklern, Fakiren und heiligen Männern zugesehen und mit Händlern um Bronze- und Messinggeräte gefeilscht.
»Den schönsten Teil von Tanger bekommt man eigentlich nicht zu sehen. Erinnerst du dich an die häßliche Straße, durch die wir neulich kamen?« fragte sie ihren Vater. »Dort öffnete sich ein altes Tor, und ich konnte einen Blick in einen großen Garten werfen. Zwei verschleierte Frauen standen auf einem Balkon und fütterten Tauben. Es war ein so liebliches Bild, daß ich ganz entzückt war.«
Am Nachmittag erstiegen sie einen Hügel, um einer Festlichkeit beizuwohnen. Eine große Anzahl von Stämmen aus der Wüste hatte sich versammelt, um den Todestag eines Heiligen zu feiern. Als Lord Creith und seine Tochter später durch die Stadt zurückkamen, führte er sie seitlich vom Markt an einem Gefängnis vorbei. Sie schauderte, als sie ein entsetzlich abgemagertes Gesicht hinter den Gittern sah.
»Möchtest du dir das Gefängnis auch einmal ansehen?«
»Nein, danke«, erwiderte sie schnell, und sie wandten sich wieder dem Basar zu.
Er öffnete einen leichten, weißen Sonnenschirm, denn die Sonne schien außerordentlich heiß.
»Ost ist Ost, und West ist West«, zitierte er. »Am meisten interessieren mich doch die Gedanken dieser Leute. Man begreift den Osten nicht, wenn man die Mentalität seiner Menschen nicht kennenlernt.«
Joan, die schon eine Weile hinter ihm hergegangen war, antwortete nicht, aber er war daran gewöhnt, daß sie auf seine Bemerkungen häufig schwieg.
»Und wenn du mich fragst –« begann er wieder und drehte sich um, um festzustellen, ob sie auch zuhöre.
Aber Joan war nicht zu sehen.
Er ging die Straße zurück. An der Ecke eines Hofes stand ein Bettler und bat im Namen Allahs um Almosen; eine verschleierte Frau, die einen Korb mit allerhand Eingeborenenarbeiten trug, kam an ihm vorüber. Aber Joan war nicht zu entdecken. Er schaute an den hohen Mauern der Straße zu beiden Seiten empor, als ob er erwartete, daß sie durch irgendein Wunder dort oben säße.
Dann wurde er unruhig und besorgt und eilte die unebene Straße entlang, bis er ihr Ende erreichte. Er schaute nach rechts und links und bemerkte vier Leute, die einen hölzernen Kasten trugen und dabei sangen. Er lief wieder zu dem Bettler zurück und wollte ihn gerade fragen, ob er nicht eine Dame gesehen habe, als er bemerkte, daß der Mann blind war.
»Joan!« rief er laut, erhielt aber keine Antwort.
Ein Mann, der im Schatten des Tores schlief, wachte auf, starrte auf den bleichen, alten Herrn und verfluchte alle Fremden, die die Sammlung der Gläubigen stören. Dann rollte er sich wieder zusammen und schlief weiter.
Lord Creith sah in einiger Entfernung einen französischen Gendarmerieoffizier und stürzte, zu ihm.
»Haben Sie nicht eine europäische Dame gesehen – meine Tochter?« begann er zusammenhanglos. Dann erzählte er schnell, wie er Joan aus den Augen verloren hatte.
»Wahrscheinlich ist sie in eins der Häuser gegangen. Haben Sie maurische Freunde hier?«
»Nein.«
»Wo war sie denn, als Sie sie zuletzt sahen?«
Lord Creith zeigte es ihm.
»Hier ist eine kleine Straße, auf der Sie schnell zum Basar kommen«, sagte der Offizier und führte ihn dorthin.
Aber Joan war nicht auf dem großen Markt. Lord Creith eilte ins Hotel zurück. Sie war weder in ihrem Zimmer noch auf der Terrasse. Dort saß nur ein Herr in grauem Anzug und fächelte sich mit seinem Hut Luft zu.
Er schaute sich um, als er Lord Creiths Stimme hörte, und sprang auf.
»Morlake!« rief der Lord erleichtert. »Joan ...!«
»Ist etwas passiert?« fragte Jim schnell.
»Sie ist verschwunden! Mein Gott, ich fürchte, daß ihr etwas zugestoßen ist!«