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Joan war am Vormittag Miss Lydia Hamon mit größtem Erfolg aus dem Weg gegangen und hoffte, daß ihr unentschuldbar beleidigendes Benehmen die junge Dame veranlassen werde, nicht wiederzukommen. Zu jeder anderen Zeit wäre sie sehr neugierig gewesen, die Schwester Ralphs zu sehen, aber heute hatte sie nur einen Gedanken, der sie in Anspruch nahm.
Zwei Stunden vor dem Abendessen legte sich Lord Creith nieder und hielt eine Siesta, wie er es nannte. Joan erledigte um diese Zeit ihre Korrespondenz, aber heute war sie nicht dazu aufgelegt. Noch weniger war sie in der Stimmung, Besuche zu empfangen, und als Stephens erschien, um ihr Miss Hamon zu melden, seufzte sie verzweifelt auf.
»Bitten Sie die Dame herauf«, sagte sie schließlich und nahm sich vor, höflich zu sein.
Sie war doch etwas erstaunt, als sie Lydia sah, die viele Vorzüge hatte und sich geschmackvoll zu kleiden verstand. Es war kaum zu glauben, daß dieses zarte, geschmeidige Mädchen mit dem häßlichen Mr. Hamon verwandt sein sollte.
»Es tut mir furchtbar leid, daß ich Sie gestört habe.« Lydia warf einen Blick auf den Schreibtisch, auf dem Joan in aller Eile Schreibpapier und Briefumschläge ausgelegt hatte, um die Unterredung möglichst bald abbrechen zu können. »Ich habe schon heute morgen versucht, Sie zu treffen. Ralph sagte, daß Sie mich am Vormittag erwarten würden, aber Sie waren leider schon ausgegangen.«
Joan murmelte ein paar Entschuldigungsworte und war gespannt, welche dringende Veranlassung Lydia noch einmal zu ihr geführt hatte.
»Ich bin nur ein paar Tage in London, und ich mußte Sie sprechen«, sagte Lydia, als ob sie Joans Gedanken erraten hätte. »Ich lebe sonst in Paris – kennen Sie Paris?«
»Nur oberflächlich. Ich liebe es nicht sehr.«
»Wirklich?« Lydia zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ich kann die Leute, die Paris nicht gern haben, eigentlich kaum verstehen. Es ist doch herrlich dort für Menschen, die Geschmack haben.«
»Dann muß ich eben einen sehr schlechten Geschmack haben«, meinte Joan belustigt.
»Sie verstehen mich nicht richtig – das wollte ich damit nicht sagen«, entgegnete Lydia schnell, denn sie wollte unter allen Umständen einen günstigen Eindruck hinterlassen. »Ich meine Leute, die dort leben. Kennen Sie eigentlich den Herzog von Montvidier? Er ist eng mit uns befreundet.«
Sie rasselte noch ein Dutzend anderer Namen des französischen Hochadels herunter, ohne daß Joan jemand darunter fand, für den sie sich besonders interessiert hätte.
»Ralph hat mir erzählt, daß er Ihr Familiengut in Sussex gekauft hat.« Lydia spielte mit dem Griff ihres Schirmes und sah an Joan vorbei. »Es muß ein ganz wunderbares Haus sein.«
»O ja, es ist sehr schön dort.«
»Jammerschade, daß dieses alte Gut Ihnen nicht mehr gehören soll, das doch so viele Jahrhunderte im Besitz der Creith war. Ich sagte Ralph, wie sehr ich mich darüber wundere, daß er davon so herzlos Besitz ergriffen hat.«
»Er hat es noch nicht getan, und er kann es auch nicht tun, solange mein Vater lebt«, erklärte Joan, die jetzt Lydias Absichten durchschaute.
»O ja, ich weiß – ich dachte im Augenblick nicht an Ihren Vater, ich dachte ganz besonders an Sie. Ralph denkt sehr viel an Sie. Er leidet – er ist sehr gütig, nur wenige Menschen verstehen ihn. Im allgemeinen erscheint er den Leuten als ein Mensch, der sein Hauptinteresse darin sieht, Geld zusammenzuscharren. Aber in Wirklichkeit ist er feinfühlig und der treueste Freund.«
»Dann wird er ja eine Frau einmal sehr glücklich machen, wenn er heiratet«, sagte Joan, die den Stier bei den Hörnern packen wollte.
Auf diese Antwort war Lydia nicht gefaßt, und sie verlor plötzlich die Disposition, obwohl sie sich vorher genau überlegt hatte, was sie vorbringen wollte.
»Das denke ich auch«, erwiderte sie schließlich. »Aber ganz im Ernst – obgleich Sie denken können, daß es unverschämt von mir ist, das zu sagen –, Ralph ist ein begehrenswerter Preis, um den es sich zu kämpfen lohnt.«
»Da ich mich um diesen Preis in keiner Weise bewerbe, wüßte ich nicht, warum es unverschämt von Ihnen sein sollte«, entgegnete Joan kühl. »Ich könnte Ihren Bruder sowieso nicht heiraten – um ganz offen zu sein.«
»Warum denn nicht?« fragte Lydia begierig.
»Weil ich verlobt bin.«
»Verlobt!«
Lydia war empört über Ralph, der ihr eine so wichtige Sache nicht mitgeteilt hatte.
»Er weiß aber gar nichts davon –«
»Dann können Sie ihm ja eine interessante Neuigkeit erzählen!«
Lydia war aufgestanden, drehte verlegen an ihrem Schirm und wußte nicht, wie sie diese Unterredung beenden sollte.
»Ich wünsche Ihnen, daß Sie sehr glücklich werden. Aber ich glaube, es ist der größte Fehler für eine Dame Ihres Standes, wenn sie einen Mann ohne Geld heiratet. Ihr Verlobter hätte doch nicht gestattet, daß Ralph das Landgut Ihres Vaters kaufte, wenn er vermögend wäre.«
»Geldheiraten werden meistens sehr unglücklich. Wir hoffen, daß unsere Verlobung, die sich nur auf reine Liebe gründet und von der traurigen Geldfrage überhaupt nicht berührt wird, sehr glücklich ausgehen wird.«
»Vielleicht überlegen Sie sich die Sache noch«, meinte Lydia und reichte Joan ärgerlich die Hand. »Ralph ist ein Mann, der sich nicht leicht von seinen Vorsätzen abbringen läßt. Er ist ein guter Freund, aber auch ein böser Feind. Augenblicklich geht jemand ungeduldig im Gefängnis auf und ab, der erfahren hat, was es bedeutet, Ralph Hamon zum Feind zu haben.«
Sie sah, daß Joan errötete, aber sie deutete es falsch.
»Ich weiß nicht, warum sich die Leute im Gefängnis nicht damit die Zeit vertreiben sollen, in ihrer Zelle auf und ab zu gehen«, erwiderte Joan kühl. »Meiner Meinung nach ist Mr. Morlake übrigens sehr ruhig und gelassen.«
»Ach, Sie kennen Jim Morlake?«
»Ich muß ihn wohl kennen, denn ich bin mit ihm verlobt!«