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24

Lady Joan Carston! Jim wollte seinen Ohren nicht trauen.

»Aber sicherlich sind Sie im Irrtum, Miss Hamon. Diese Dame ist Miss –« Er unterbrach sich.

»Nein, das ist Lady Joan Carston, und es freut mich, daß Sie so gute Freunde sind. Ich glaube bestimmt, daß die Verlobte meines Bruders mir gern hilft, Sie und Ralph auszusöhnen.«

»Wer ist die Verlobte Ihres Bruders?« fragte Joan, erstaunt über diese Frechheit.

»Es ist doch allgemein bekannt, daß Sie mit ihm verlobt sind«, lächelte Lydia.

»Es ist weder mir noch meinem Vater bekannt, und wir beide müßten doch schließlich zuerst davon wissen!«

Lydia zuckte die Schultern. Sie versuchte eine Erklärung für Joans Anwesenheit in diesem Hause zu finden, und von ihrem Standpunkt aus war nur eine Erklärung möglich. Es kam ihr plötzlich der Gedanke, daß die beiden allein im Haus waren, und sie wurde formell und steif.

»Vermutlich ist Ihr Vater auch hier, Lady Joan?« fragte sie naiv.

»Mein Vater ist nicht in Creith«, entgegnete Joan, die sie durchschaute. »Auch meine Tante ist nicht hier, ebensowenig einer meiner Vettern. Außer meinem Selbstbewußtsein habe ich niemand, der mich in Wold House beschützt.«

Lydia zog die Augenbrauen hoch.

»Ich glaube nicht, daß Ralph damit einverstanden ist –« begann sie.

»Ach, es gibt viel, womit Ralph nicht einverstanden ist«, mischte sich Jim ein, um Joan die Antwort zu ersparen. »Aber es lohnt sich wirklich nicht, sich um Dinge zu kümmern, die Ralph betreffen. Ich glaube nicht, Miss Hamon, daß wir Lady Carston mit diesem alten Streit behelligen sollten.«

Er wandte sich zu Joan und reichte ihr die Hand.

»Ich danke Ihnen sehr für Ihre Liebenswürdigkeit.«

Joan war nicht im geringsten verlegen, sondern vollständig Herrin der Situation, und er wunderte sich über ihre Selbstbeherrschung.

»Es wäre gut, wenn Sie sich jetzt wieder um neues Personal bemühten«, erwiderte sie und zwinkerte ihm zu. »Sie richten es am besten so ein, daß die Dienstboten morgen nachmittag um zwei Uhr wieder anfangen.«

Jim war erleichtert, denn er verstand nun, daß Joan Carston morgen zum Frühstück kommen wollte.

Lydia beobachtete sie, als sie den Fahrweg hinunterging.

»Ist Lady Joan wirklich mit Ihnen verlobt?«

Jim machte ein erstauntes Gesicht.

»Sie hat es mir selbst gesagt – aber ich dachte, sie hätte nur einen Scherz gemacht, um mich zu ärgern.«

»Mit mir verlobt?« fragte er. »Hat sie das gesagt?«

Lydia lächelte verächtlich.

»Es ist also nicht wahr, obwohl man es nach ihrer Äußerung hätte annehmen können. Ist sie mit Ihnen befreundet?«

»O ja«, sagte Jim nachlässig, »aber nur in der Art einer holden Fee, die einem armen, kranken Mann gütig hilft.«

»Ach so, Sie sind der arme, kranke Mann?«

Sie zwang sich zu einem Lächeln, doch er sah, daß sie ihre Erregung zu unterdrücken suchte, als sie sich an den Zweck ihres Besuchs erinnerte.

»Im Ernst, Mr. Morlake, glauben Sie nicht, daß es endlich an der Zeit wäre, Ihre Differenzen mit Ralph aus der Welt zu schaffen?«

»Sie sind wohl seine Gesandte, gewissermaßen die Taube mit dem Ölzweig?« fragt er ein wenig belustigt. »Wenn es so ist, haben Sie mir doch sicher wie alle Gesandten etwas anzubieten außer den vielen Versicherungen unverbrüchlicher Freundschaft – die versteht sich ja in solchen Fällen immer von selbst.«

Sie ging quer durch den Raum und schloß die Tür, dann trat sie näher an ihn heran.

»Ralph sagte mir, daß Sie etwas von ihm verlangt hätten, das in seinem Besitz sei. Aber er hat es nicht mehr!«

»Hat er es vernichtet?«

»Er hat es nicht mehr!« wiederholte sie. »Es ist in fremden Händen.«

Er schaute sie ungläubig an.

»Wie kommt es dann, daß sich Ihr Bruder noch in Freiheit befindet?«

Sie wurde feuerrot.

»Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen.«

»Er müßte in diesem Falle hinter Schloß und Riegel sitzen«, erwiderte Jim ruhig. »Wenn das Dokument – ich nehme an, daß Sie auf das Schriftstück anspielen – in fremde Hände gefallen ist, dann sieht Ihr Bruder seiner Verurteilung entgegen, es sei denn, daß der Finder ein Erpresser ist.« Er erkannte aus allem, daß sie nicht wußte, welcher Art das verschwundene Dokument war. »Was soll ich denn tun?« fragte er.

»Ralph bat mich, Ihnen zu sagen, daß es keine Streitigkeiten zwischen Ihnen beiden gebe, die nicht zu beseitigen seien!«

»Mit anderen Worten: Ihr Bruder möchte, daß ich zu seinen Gunsten aussage, wenn das Dokument bei Gericht vorgelegt werden sollte.«

»Ich weiß nicht, ob er das wünscht – aber es ist möglich. Er hat mir nicht mehr gesagt, als was ich Ihnen bereits erzählte, nämlich, daß das Schriftstück nicht mehr in seiner Hand ist und daß er Sie um Ihre Freundschaft bittet.«

Jim trat zum Fenster und schaute hinaus. Er versuchte das Rätsel zu lösen, das sie ihm aufgegeben hatte. Aber während seiner Überlegung erinnerte er sich immer wieder der erstaunlichen Tatsache, daß Jane Smith eigentlich Joan Carston hieß und die Tochter von Lord Creith war, eine Dame, der er sich nach seiner Meinung niemals hätte nähern können.

»Ich sehe wirklich nicht, was ich tun kann«, meinte er schließlich und wandte sich wieder Lydia zu. »Der Streit, der zwischen Ihrem Bruder und mir besteht, kann beigelegt werden, wenn er alles wieder gutmacht. Das können Sie ihm ausrichten.«

»Das heißt also Kampf bis aufs Messer«, entgegnete sie ein wenig theatralisch.

»Ja, ich fürchte, daß es Krieg bedeutet.«

Sie biß sich auf die Lippen und dachte schnell nach.

Es war vielleicht besser, Morlake gegenüber eine andere Tonart anzuschlagen.

»Wissen Sie auch, was das für mich als seine Schwester bedeutet?« fragte sie mit etwas unsicherer Stimme. »Wissen Sie, daß mich in schlaflosen Nächten böse Gedanken quälen und ich immer in Angst leben muß, was der morgige Tag über mich bringt?«

»Es tut mir leid, daß ich darüber nicht informiert bin. Offen gesagt, Miss Hamon, habe ich kein Mitgefühl. Wenn Sie tatsächlich so bedrückt sind und sich soviel Sorgen und Gedanken machen, so ist das bedauerlich. Sie können Ihrem Bruder die Nachricht bringen, daß ich diese Sache zu Ende führen werde. Ich habe aus allem die Konsequenzen gezogen, die gefährlicher und schrecklicher sind, als Sie sich vorstellen können, und ich bleibe dabei, bis meine Mission vollendet ist.«

»Ein Einbrecher mit einer Mission!« höhnte sie.

»Das mag allerdings in gewisser Weise belustigend sein«, meinte er gut gelaunt. Er war nun über ihren Charakter aufgeklärt. Diese Frau war keine Schauspielerin. Sie konnte nicht einmal konsequent ihre Rollen durchführen und noch weniger den Ärger über ihren Mißerfolg verbergen.

»Sie hatten noch eine Chance, Morlake«, sagte sie in aufsteigendem Groll. »Ich weiß zwar nicht, worum es sich bei dem Streit zwischen Ihnen und Ralph handelt. Aber er ist zu klug für Sie, und früher oder später einmal werden Sie das zugeben müssen. Und wenn Ralph ein Verbrecher ist – sind Sie denn etwas anderes? Gibt es denn nicht genug Arbeit in der Welt für Sie beide, ohne daß Sie sich ins Gehege kommen müssen?«

»Das haben Sie wie eine Dame von Welt gesagt«, entgegnete Jim Morlake, als er sie zur Tür führte.


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