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15. April.
Kind! Das ist ein abscheuliches Wetter. Die Arbeit rastet schon zwei Tage; das Gehirn verweigert hartnäckig seinen Dienst. – Was ist zu thun? – Ich griff heute zum Tasso und las ihn schnell hinter einander. Das ist doch ein ganz einziges Gedicht, und ich wüsste ihm durchaus nichts zu vergleichen. Wie das Göthe schreiben konnte! – Wer hat hier Recht? wer Unrecht? Es sieht ein Jeder, wie er sieht, und nicht anders sehen kann. Was dem Einen eine Mücke dünkt, ist dem Andren ein Riese. Endlich gewinnt doch nur unser Herz, wer am meisten leidet, und eine Stimme sagt uns auch, dass er am tiefsten blickt. Eben weil er in jedem Falle alle Fälle sieht, dünkt ihm der kleinste so ungeheuer, und sein Leiden zeigt uns, was eigentlich an dem Falle ist, wenn man ihn bis auf seinen tiefsten Grund erwägt. Nur dass das beim Dichter so furchtbar schnell geht, weil er eben Alles auf einen Blick hat, macht ihn den andren unverständlich. –
Aber die Meisterin des Leidens ist offenbar die Prinzessin. Für den sehr tief Blickenden giebt es hier eigentlich nur einen Gegensatz, den zwischen Tasso und der Prinzessin: Tasso und Antonio sind weniger Gegensätze, auch interessirt ihr Conflict den Tieferen weniger, denn hier kann es zur Ausgleichung kommen. Antonio wird den Tasso nie verstehen, und dieser wird jenen nur gelegentlich, wenn er in der Abspannung sich verliert, zu verstehen der Mühe werth halten. Alles, um was es sich zwischen diesen beiden Männern handelt, ist ganz wesenlos, und nur dazu da, das Leiden für Tasso, sobald er will und heftig verlangt, in das Spiel zu setzen. Blicken wir aber über das Stück hinaus, so bleibt uns nur die Prinzessin und Tasso übrig: wie werden sich diese Gegensätze ausgleichen? Da es hier auf das Leiden ankommt, hat die Frau den Vorsprung; wird Tasso von ihr lernen? Bei seiner Heftigkeit fürchte ich eher seinen Wahnsinn. Das hat der Dichter wunderbar vorgebildet. –
Bei der Gelegenheit fiel mir aber auch ein, dass es unüberlegt von mir war, den Tristan jetzt schon zu veröffentlichen. Zwischen einem Gedicht, das ganz für die Musik bestimmt ist, und einem rein dichterischen Theaterstück, muss der Unterschied in Anlage und Ausführung so grundverschieden sein, dass das erstere, mit demselben Auge wie das letztere betrachtet, seiner eigentlichen Bedeutung nach fast ganz unverständlich bleiben muss, – ehe es eben nicht durch die Musik vollendet ist. Rufen Sie sich das zurück, was ich in dem Briefe über Liszt,Ges. Schriften 5, 250 f. bei Gelegenheit der Berlioz'schen Romeo- und Julia-Scene, von dem hier gültigen Unterschiede schrieb. Eben diese vielen kleinen Züge, durch die der Dichter seinen idealen Gegenstand der gemeinen Lebenserfahrung ganz nahe bringen muss, lässt gerade der Musiker aus, und greift dafür zu dem unendlichen Detail der Musik, um den ideel weit entrückten Gegenstand durch dasselbe der Gefühlserfahrung des Menschen überzeugend vorzuführen. Aber diess ändert am reinen Dichterwerke, der Form nach, unermesslich viel. Ohne das viele, kleine, ja kleinliche Detail aus der gemeinen Lebensgewohnheit, der Politik, der Gesellschaft, ja des Hauses und seiner Bedürfnisse, das Göthe im Tasso verwendet, würde er seine Idee auf dem Dichterwege gar nicht kleiden können. Hier aber ist der Punkt, wo jeder mit dabei ist, jeder eine Vorstellung, eine Erfahrung anknüpfen kann, und sich so zu Haus endlich fühlt, dass er unmerklich zu dem, was der Dichter eigentlich will, geleitet werden kann. Wobei es natürlich immer noch darauf ankommt, dass jeder da stehen bleibt, wo er eben nicht weiter kann; nach seiner Art jeder aber doch ein Verständnis hat. So geht es dann, wenn bei meinem Werke die Musik fertig ist: da beginnen und wechseln melodische Phrasen, fesseln und reizen; der Eine hält sich an diess Thema, der Andre an jenes; sie hören und ahnen, und können sie, so erfassen sie endlich auch den Gegenstand, die Idee. Diese Handhabe aber fehlt ohne die Musik; der Leser müsste denn so begabt sein, dass er schon in der ungemein vereinfachten Handlung die überzeugende Tendenz heraus fühlte. –
Nun denken Sie sich, wie mir ist, wenn mich schlecht Wetter und schwerer Kopf um meine Musik bringen! Wüsste ich, dass Wesendonk zurück wäre, und es nicht ungern sähe, so käme ich morgen, wenn wieder so schlechtes Wetter bleibt, zu Ihnen. Denken Sie, mir fehlt noch meine Kiste mit Musikalien und Notenpapier: die Militairconvois in Italien haben sie aufgehalten. Kann ich morgen wieder nicht arbeiten, so möchte ich mich gern lieber aufmachen; selbst die Eisenbahn gäbe mir dann eine Chance. Wollen wir also so abmachen. Sollte Wesendonk noch nicht zurück sein, so telegraphiren Sie mir das sogleich. Erhalte ich keine Depesche am Vormittag, und bleibt so schlecht Wetter, so telegraphire ich ihm und bitte dann zugleich, mir das Coupé um 9 Uhr Abends nach dem Bahnhof zu schicken (wenn diess nicht zu viel verlangt ist). Wir wollen dann sehen, wie wir am Sonntag das schlechte Wetter zusammen los werden. – Ist Ihnen das recht?
Schönsten Gruss!
R. W.
Wenn Sie mir eine Depesche noch zur rechten Zeit schicken könnten, so käme ich lieber schon Vormittag, (Ankunft 2 ½ Uhr in Zürich) so fürchte ich mich vor meiner schlechten Wetter-Arbeitslosigkeit!
Die Depesche müsste aber bis 9 Uhr früh hier sein.